Reportage / Schnuller-Produktion
Ein Nuggi wird geboren
Von Caren Battaglia / Fotos: Elisabeth Real
Jeder kennt ihn, viele haben ihn selbst benutzt und Babys lieben ihn hartnäckig: den Nuggi. Nur – wie entsteht dieses Ding eigentlich? Ein Besuch beim einzigen Schweizer Hersteller. Und Erkenntnisse über die Befindlichkeiten der Welt.
Ein Penis wartet. Mannsgross und weiss bewacht er das Eingangstor der Firma Lamprecht in Regensdorf. Schliesslich stellt Lamprecht nicht nur die einzigen Schnuller «made in Switzerland» her, sondern auch Kondome. Was ja – genau genommen – thematisch verwandt ist. Am Empfang begrüssen den Besucher kühles Marmor, Glas, schwarze Ledersessel und Vitrinen mit herzigen Babyfläschchen und pastellige Nuggis, die in die nüchterne Umgebung passen wie Hotpants zur Queen. Ab und an huschen Angestellte mit Schutzhauben und weissen Kitteln vorbei. Handdesinfektions-Sprüher an den Wänden erinnern daran: Hier gehts um Hightech und Hygiene. Gefühle sind erst beim Endverbraucher gefragt.
Sieben Millionen Nuggis pro Jahr für den «Endverbraucher» in Windeln entstehen bei Bibi. In 25 Ländern der Welt wird an den Saugern aus Regensdorf genuckelt. Wieder genuckelt. Denn ein Jahr lang standen die Maschinen hier still. Ein Sicherheitsproblem. Der Albtraum jedes Unternehmers. Bei einem Schnuller Belastungstest in Holland fielen die Bibi-Nuggis durch. 10 Prozent von ihnen rissen, wenn 10 Sekunden lang mit 90 Newton an ihnen gezogen wurde. Da hilft es gar nichts, dass die simulierte Situation: «Ein neun Kilo schweres Baby hängt nur mit den Zähnen an einem Nuckel» vermutlich vergleichsweise selten eintritt. Die Firma Lamprecht stellte die Produktion ein und zog ihre Schnuller aus den Geschäften zurück. Sicherheit und Babys – da gibt es bei Eltern keinen Interpretationsspielraum. «Ein Horror, dieser Testbericht», sagt Michael Nielsen (42), Kunststoffingenieur und Bereichsleiter Quality-Management. «Auch wenn nie eine wirkliche Gefahr bestand, ist der Gedanke, ein Baby könnte zu Schaden kommen, unerträglich. Deshalb haben wir die ganze Produktion gestoppt, die Schnuller aus allen Ländern zurückgezogen, 2,5 Millionen Nuggis vernichtet und vieles neu konzipiert.» Verluste in zweistelliger Millionenhöhe, 15 Entlassungen, neue Spritzgussanlagen und Technik im Wert von etwa 1,5 Millionen Franken …
Der dreifache Vater sieht nachdenklich in die 3000 Quadratmeter grosse Werkshalle. «Warum mein Kopf nicht gerollt ist, weiss ich eigentlich bis heute nicht», sagt er leise. Vielleicht deshalb nicht, weil er offen ist und nicht versucht, Dinge schön zu reden. Nicht mal wenns für die Firma kostengünstiger wäre. Anfang des Jahrtausends kommt die Chemikalie Bisphenol A ins Gerede. Die Allerweltschemikalie, die überall dort eingesetzt wird, wo Kunststoffe stabil sein sollen, gerät nach Tierstudien in Verdacht, krebserregend zu sein, die Fruchtbarkeit zu beeinträchtigen und das Hirn zu schädigen. Frankreich und Kanada verbieten daraufhin Bisphenol A, Lamprechts Fläschchen sind seit 2009 BPA-frei, Bibi- Nuggis immer schon. Das Schweizer Parlament entscheidet erst Ende 2016 über ein Verbot.
Der Nuggi im Fokus von Politik und Wirtschaft. Zahnmedizin und internationaler Kultur. Kultur?
Fashion und Religion
«Unsere Designer müssen nationale Vorlieben genau im Blick haben», erzählt Produktmanagerin Anna Maria Di Paolo. Denn Schnuller werden designmässig nicht nur an die jeweilige Fashion der Saison angepasst, nicht nur an Jahreszeit und Trends (derzeit: Tupfen! Neudeutsch: Polka-Dots), sondern auch national bedingte Empfindlichkeiten sind zu beachten. Schweinchen beispielsweise gehen in muslimischen Ländern gar nicht. Nicht auf den Tellern, nicht im Babymund. Nicht mal als Disney-Ferkel aus «Winnie the Pooh». Esel sind in Italien geächtet. Raben in China. Dort allerdings wären in diesem Jahr, dem «Jahr des Affen», wahrscheinlich Äffchen gut gelaufen, vermutet Di Paolo. Leider habe man zu spät in den chinesischen Kalender gesehen. Die Farben Rosa und Hellblau dagegen sind – Gender hin, «Pink stinks» her – weltweit beliebt wie eh und je, einzig getoppt von «I love mama»- und «I love papa»-Schnullern.
5.90 Franken lassen sich Eltern den Regensdorfer Maserati unter den Nuggis kosten. Swissmade weckt Vertrauen. Schliesslich nuckeln an der Zürcher ETH Wissenschaftler im Dienste des Schnullers. Gilt es doch abzuklären, wie schwer das Schild eines sogenannten Beruhigungssaugers sein darf, damit er nicht aus dem Mund fällt, wie tief er im Mund liegen muss, wo die Zunge Platz findet, wie dick die Spitze sein sollte, damit sich die Lippen schliessen lassen und kein unnötiger Druck auf den Kiefer ausgeübt wird …
Schnuller-Hightech. Wenn alles erdacht, erforscht, erprobt, das Design abgesegnet und beim Metallbauer in die Druckvorlagen, die sogenannten Klischees, geätzt worden ist, kanns losgehen.
Produktionsstart: In Halle 1 stehen die Fässer mit Silikon. 25 Tonnen davon werden pro Jahr aus Japan eingeschifft. Silikon? Das Zeug, das Pamela Anderson in der Brust hat? Michael Nielsen lächelt nachsichtig unter der Schutzhaube hervor, er ist Kunststofftechniker. Er weiss einiges mehr über Silkone als nur, dass sie Baywatch-Badeanzüge auspolstern. «Es gibt verschiedene Arten von Silikonen. Unseres hier ist ein spezielles, das dem Food-Contact-Zertifikat genügt.» Brüste müssen das nicht.
Das zähe Zeug wird jetzt in die Spritzgussmaschine geleitet. Auf 23 Grad temperiert, damit es nicht klebt, anschliessend auf 200 Grad erhitzt und verfestigt. Dann – mit fiesem Fiepen, als liesse man aus einem quer gezogenen Mundstück die Luft aus einem Ballon – wird das Silikon in Form gepresst. Ffffiiiiieeeep! Fertig. Mit einem Plop plumpsen hinten aus der 150 000 Franken teuren Maschine die fertigen Nuckel. Genauer die «Spitzen», wie sie auf Fachmännisch heissen. 30 000 pro Tag kullern in den Fangkorb. Alle 30 Minuten schnappt sich Beat Arnold, der Herr der Spritzmaschinen, eine Lupe, um zu sehen, ob die Sauger korrekt gearbeitet sind. Haken ins Verlaufsprotokoll. Weiter gehts.
Nebenan werden die Nuggi-Zapfen «Happiness» zurechtgeschmolzen und zurechtgerattert. «Zapfen», das sind die dicken Pinöppel für den Ring im Plastik-«Schild». Ohrstöpsel, wie sie die Angestellten tragen, wären jetzt ein Segen. Nur liesse sich damit nicht verstehen, was Michael Nielsen alles erklärt. Nämlich, dass die Farbpellets aus der Schweiz stammen, die himmelblaue Farbe nicht Himmelblau heisst, sondern 291 C. Pellets und Polypropylen werden gemischt, auf 240 Grad erhitzt und dann wieder – «Fiiiieeeep!» – mit Hochdruck in Form gespritzt: 55 000 nagelneue Happiness 291 C-Zapfen innerhalb von zwei Tagen, 1200 die Stunde. 35 Tonnen Polypropylen verschnullert pro Jahr. Klackklackklack kullern die 291 C-Stöpsel in den Auffangkorb, eine Menge blaues Bubenglück. Michael Nielsen dreht einen Zapfen in den Fingern. Jungenschnuller? Mädchenschnuller? Seinen eigenen Kindern, erzählt er, sei es vollkommen schnurz gewesen, wie ein Schnuller ausgesehen habe. Nur habe die Tochter einen besonderen Lieblingsnuggi gehabt, der Mittlere habe nur die runde Kirschform nuckeln wollen und sein Jüngster «tja, der verliert sie dauernd». Mit zwei Jahren hat man ja keine Ahnung, wie viel Arbeit in so einem Ding steckt.
Nun wird «getempert». Beim «Tempern» werden die fertigen Nuppel gefestigt und gleichzeitig nicht vernetzte und gesundheitlich fragwürdige Monomere verdampft, indem sie in einen Hitzeschrank kommen. Entgiftung durch Wärme. Eine Art Sauna für Sauger. Frühere Generationen waren da weniger penibel. 900 vor Christus – und auch vor Karies und Cholesterin – nuckelten Babys an Gefässen, aus deren Schnuten Honig und flüssige Butter floss. Im Mittelalter bediente Babys Saugbedürfnis ein«Lutschbeutel», ein Stoffsäckchen, nass von eingeweichtem Brot oder hochprozentigem Branntwein. Die Babys sollen sehr friedlich gewesen sein. Ästhetisch konnten die angesabberten Säckchen aber vermutlich nicht mithalten mit dem topaktuellen «4 Friends Schnuller», der hier gerade entsteht. Ein Traum per Tampondruckverfahren: Nachthimmelblau. Mit Sternchen. Und Eichhörnchen, Vögelchen, Häschen, Teddy und – im Dunklen leuchtendem Zapfen.
Tampondruckverfahren funktioniert wie Kartoffeldruck. Für jede Farbe gibt es ein eigenes Klischee und dann wird Tock, Tock, Tock, Farbe auf die Schnullerschilde gestempelt. Seit 14 Jahren läuft das vollautomatisch. Menschen bleiben trotzdem wichtig. Anunciata Thoma ist eine der 20 Personen, die hier für Nuckel sorgen. Ein kleinkindhoher Berg Schnullerspitzen türmt sich vor der 61-Jährigen auf dem Tisch. Ihre Aufgabe: Stichprobenartig nach Verunreinigungen suchen. Seit 35 Jahren hält sie jetzt schon die durchsichtigen Sauger unter eine Lupe, um zu sehen, ob da etwas dreckig ist, eingetrübt oder angerissen.
Internationale Schmutz-Eklats wie der von 2012 kann keine Firma brauchen. Damals entdeckte eine EU Kommission in diversen Silikon-Schnullern unterschiedlicher Hersteller aufgrund von Verunreinigungen krebserregendes Naphtalin. Panik. Denn niemand reagiert sensibler als Eltern von Babys. Als 2008 der Milchpulver-Skandal China erschütterte, vier Kleinkinder starben und 13 000 ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten, weil sie chemisch verseuchte Milch getrunken hatten, explodierte in China die Nachfrage nach Schnullern aus der Schweiz. Milch oder Nuckel – swissmade schien chinesischen Eltern sicherer.
Terminator der Schnuller
In Regensdorf sorgt Sladjana Bogdanovic für diese Sicherheit. Sie ist Nuggi-Kaputtmacherin. Ein weiblicher Terminator der Schnuller. Die 46-Jährige zerreisst, zerpiekst und zerkocht Beruhigungssauger im Dienste der Qualitätskontrolle. Ein Armageddon, wie das von Holland, weil ein Nuckel nicht hält, was die EU-Normen versprechen, darf nicht nochmal passieren.
Mit sicherer Hand spannt Sladjana Bogdanovic einen Nuggi in die Zugmaschine, eine Art Streckbank für Schnuller. Mit 500 Newton, also etwa dem Gegenwert eines 50-Kilo Menschen, wird an dem Schnuller gezerrt. Ein Computer zeichnet auf, wann das Ding reisst. Parallel dazu spielt Bogdanovic Zahn. Mithilfe einer beängstigenden Maschine simuliert sie Zubeissen und rammt gnadenlos einen 0,3-Millimeter- Stahlstab mit 5 Kilo Druck in den Nuckel. Was passiert? Nach wie vielen Stichen? Lösen sich Teile ab? Sladjana Bogdanovic ist mit dem heutigen Schnuller-Massaker zufrieden.
Wenn nicht gerade Graf Dracula ein paar Stündchen an den Nuckis kaut, dürfte nichts passieren. «Eltern müssen den Schnuller trotzdem regelmässig kontrollieren», betont Michael Nielsen. «Wir können ja keine Sauger aus Stahl machen.» 400 Schnuller hat Sladjana Bogadnovic heute Vormittag schon zerstört. Ein guter Schnitt. Jetzt prüft sie die Anzeige des «Alltagsbelastungsschranks». Darin wird getestet, wie Nuckel sich nach 180 Mal zehnminütigem Kochen fühlen und wie solche, die sieben Tage bei 70 Grad gelagert werden. Auf dem Tisch liegen bleiche Schnuller in Schalen. Stress schadet der Schönheit. Im Hintergrund ertönt ein leises Plopp. Schnuller 401 ist geschrottet.
So beschaulich wie bei der Materialprüfung ist es in der Verpackungshalle nicht. Hier rattern Nuggis vom Band, werden flink in Kisten gepackt, schnell noch die von Schweizer Übersetzungsbüros in mehrere Sprachen übertragene Gebrauchsanweisung dazu gestopft. Kiste zu. Prüfender Blick: Verfallsdatum darauf? Ja. Mai 2021. 5 Jahre. Dann ist das Leben der hier geborenen Schnuller beendet. «Auch eine Vorschrift», sagt Michael Nielsen lakonisch.
Jetzt machen sich die Schnuller auf den Weg: nach Schlieren und Schwyz, zum Yangtse und zum Tiber. Für Babymünder aller Art. Zumindest für drei Jahre. Denn dann sollten Kinder – im Interesse ihrer Zahnstellung – vom Nuggi Abschied nehmen. Das tun wir jetzt auch: Abschied vom Schnuller, dem Hightech-Produkt und Politikum, vom Schnuller als Seismograph der Kultur, Lifestyle-Accessoire und Teil der Menschheitsgeschichte.