Interview
«Wir haben verlernt zu vertrauen»
Wer vertraut, wird auch enttäuscht, sagt die renommierte Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast. Sie plädierte trotzdem dafür, dass wir auf Vorrat vertrauen. Vor allem unseren Kindern. Weil es dazu keine Alternative gibt – ausser der Angst.
wir eltern: Verena Kast, Sie plädieren dafür, dass wir alle mehr vertrauen sollen. Doch es gibt Eltern, die schicken ihre Kinder mit GPS-Trackern am Handgelenk in die Schule – Vertrauen sieht anders aus, oder?
Verena Kast: Ja leider. Unsere Welt, gerade in der Schweiz, ist in den letzten 100 Jahren ständig sicherer geworden. Weniger Krankheiten, Unfälle, Morde – aber subjektiv haben viele Menschen genau das gegenteilige Gefühl. Sie haben das Vertrauen verloren und versuchen es mit Kontrolle zurückzubekommen. Eltern sind besonders anfällig dafür. Sie wollen ihr Kind beschützen, das ist ihre Aufgabe – aber ohne Grundvertrauen geht das nicht.
Also statt GPS-Tracker und ständige Hausaufgabenkontrolle, einfach darauf vertrauen, dass es schon gut kommt mit den Kindern?
Ja, im Grundsatz dürfen Eltern vertrauen, dass ihr Kind seinen Weg geht, in seinem Tempo, mit seinen Umwegen. Das ist nicht einfach, denn es hat auch viel mit den eigenen Erwartungen und Ängsten zu tun.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, sagt ja auch der Volksmund.
Wo das endet, sehen wir in der ganzen Bürokratie, die wir geschaffen haben. Dass man für alles einen Antrag, ein Formular, eine Bestätigung braucht, ist für mich eine Auswirkung des Vertrauensverlusts. Und wir bilden uns noch etwas drauf ein, haben das Gefühl so seien wir sicherer. Dabei ist Bürokratie höchst manipulationsanfällig.
Wer vertraut, der riskiert, enttäuscht und verletzt zu werden. Fährt da der oder die Misstrauische nicht besser?
Ja, wer vertraut wird enttäuscht, verletzt. Vertrauen braucht Mut, das ist meine zentrale Botschaft. Aber wer immer misstrauisch ist, der riskiert noch viel mehr.
Verena Kast (79) ist Psychoanalytikerin und war Professorin für Psychologie an der Universität Zürich, sowie Dozentin und Lehranalytikerin am dortigen C.-G.-Jung-Institut. Sie lebt in St.Gallen und hat fast 100 Bücher rund um die Themen Trauer, Ängste, Emotionen und Beziehungen veröffentlicht, darunter zahlreiche Bestseller. In ihrem aktuellen Buch beschäftigt sie sich mit dem Vertrauen:
Verena Kast: «Vertrauen braucht Mut. Was Zusammenhalt gibt», Patmos 2022, S. 152, Fr. 25.-
Was riskiert er?
Wenn ich misstrauisch bin, dann erwarte ich ja immer das Böse. Die Welt ist für mich dann ein Ort voller Abgründe, kaum lebenswert. Und vor allem kann ich so anderen Menschen nicht mehr nahe sein, kann keine Beziehungen mehr eingehen. Ich bin ständig damit beschäftigt, mich abzusichern.
Aber blind zu vertrauen ist doch naiv, wenn nicht sogar gefährlich. Dann müsste ich ja weder Velo noch Türen abschliessen!
Ich meine nicht, dass wir jetzt alle glauben sollten, die ganze Welt sei gut. Im Gegenteil! Eine gesunde Skepsis ist unbedingt angebracht.
Was ist der Unterschied zwischen Misstrauen und Skepsis?
Wenn ich misstrauisch bin, dann gehe ich davon aus, dass mir mein Gegenüber schlechtes antun will. Wer skeptisch ist, der hofft auf das Gute, aber weiss, dass es auch mal anders sein könnte.
Wie halten Sie es denn selbst mit dem Vertrauen, etwa fremden Personen gegenüber?
Ich versuche, immer davon auszugehen, dass diese Person es gut mit mir meint. Denn wir stecken einander an mit Vertrauen, aber auch mit Misstrauen. Das unterschätzen viele Menschen. Darum lohnt es sich in Vertrauen zu investieren – sozusagen auf Vorrat.
Auch bei den eigenen Kindern?
Dort sowieso! Denn Vertrauen und Zutrauen hängen ganz eng zusammen. Wenn man uns etwas zutraut, bekommen wir Selbstvertrauen. Die Gleichung ist ganz einfach: Wenn Eltern ihrem Kind vertrauen, ihm auch etwas zutrauen – den langen Kindergartenweg, den Umgang mit einem Sackmesser – dann stärkt das sein Selbstvertrauen.
Und was, wenn es sich doch schneidet mit dem Messer?
Dann lernt es, wo die Pflaster versorgt sind. Je mehr ein Kind auch wagen darf, je mehr es sich zutraut, desto besser lernt es auch, damit umzugehen, dass mal etwas nicht funktioniert, dass es Fehler macht und trotzdem einen Weg findet, Hilfe bekommt. Es ist eine Form der Lebenskunst und die Überzeugung, dass man sich auch in schwierigen Situationen auf sich selbst – und die Welt verlassen kann. Dieses Urvertrauen, dass es schon gut kommt mit einem.
Das klingt überzeugend, aber was, wenn unser Vertrauen missbraucht wird?
Das wird es, ganz bestimmt sogar. Auch von den eigenen Kindern. Aber trotzdem sollten und müssen wir weiter vertrauen, es weiter wagen – weil es der einzige Weg ist, in Beziehung zu bleiben. Sonst können Sie es auch grad sein lassen.
Vertrauen ist alternativlos?
Ja, das müssen wir alle ganz tief verstehen. Wir kommen als komplett hilflose Babys auf die Welt und das erste, was wir machen – wir vertrauen. Das ist in uns drin. Ich nenne es archetypisches Vertrauen.
Sie sagen, man könne die Hoffnung, dieses Urvertrauen nie ganz verlieren. Was macht sie da so sicher?
Für mich ist das der Kern unseres Menschseins. Wir hoffen doch immer, dass es besser wird, wir machen immer irgendwie weiter. Ohne Hoffnung kein Überlebenstrieb. Selbst todkranke Menschen hoffen noch und sei es auf das Paradies. Stirbt die Hoffnung, stirbt der Mensch.
Durch eine sichere Eltern-Kind-Bindung lernen Kinder in die Welt und sich zu vertrauen. Wie können Eltern das erreichen?
Dafür braucht es gar nicht so viel. Ein kleines Kind muss gesehen, gehört und berührt werden. Und dies muss mit einer gewissen Vorhersehbarkeit geschehen. Nichts erschüttert kindliches Vertrauen so sehr wie Unzuverlässigkeit.
Doch jede Mutter, jeder Vater enttäuscht seine Kinder auch mal.
Klar gibt es mal Enttäuschungen, dauert es mal länger, bis jemand in der Nacht aufsteht. Aber wenn das nicht regelmässig passiert, dann ist das kein Problem. Entscheidender ist der liebevolle Blick, die liebevolle Berührung, die von den Bezugspersonen ausgeht. Das Konzept der Eltern, die gut genug sind, daran sollten wir uns halten. Eltern müssen nicht perfekt sein, sondern authentisch und eben grundsätzlich verlässlich. Was nicht gleichbedeutend mit aufopferungsvoll und dienend ist.
Die ersten Lebensjahre sind schnell vorbei. Was, wenn da nicht alles perfekt gelaufen ist? Kann man Vertrauen auch später wieder lernen?
Ja, zum Glück jederzeit durch neue Beziehungen. Aber es dauert. Wir wissen, dass Menschen die frühkindlich wenig Vertrauen erfahren haben, Beziehungen oft sehr schnell abbrechen. Sie können mit Vertrauensrissen sehr schlecht umgehen, können zwischen kleinen Haarrissen und grossen Brüchen schlecht unterscheiden. Sie brauchen dann Menschen, die extrem verlässlich sind, auch dann nicht weggehen, wenn sie sich vielleicht nicht ideal verhalten.
Wie kann man in einer Beziehung – etwa nach Untreue – wieder Vertrauen fassen?
Man muss lernen die eigenen Gefühle zu spüren und auch richtig auszudrücken – wir können unser Gegenüber besser vertrauen, wenn er seine Gefühle artikulieren kann. Und auch Erwachsene müssen sich gegenseitig sehen, hören und berühren, um Vertrauen (wieder)aufbauen zu können.
Wer viel misstraut, der sollte sich mit seinen Schatten beschäftigen, schreiben Sie. Hat Misstrauen also mehr mit uns selbst als mit unserem Gegenüber zu tun?
Ja, das ist das Schatten-Konzept von C.G. Jung. Wir alle haben Seiten in uns, die wir nicht besonders mögen und verdrängen. Und genau diese projizieren wir dann sehr leicht in andere Menschen.
Das würde aber bedeuten, sehr korrekte und moralische Leute, die diese Ansprüche auch an ihr Umfeld stellen, sollten sich besser mal mit ihren Schatten beschäftigen?
Ja, wir leben doch zurzeit gerade in einer hochmoralischen, überkorrekten Gesellschaft – jegliches Fehlverhalten wird sofort massiv getadelt. Ich frag mich oft, ob diese Menschen schlicht verdrängen, dass niemand ohne Fehl und Tadel ist. Ob sie wirklich erwarten, dass etwa Politiker* innen immer alles richtig machen? Woher rühren diese enormen Erwartungen? Ich vermute, diese Menschen haben nicht gelernt, dass kleine Vertrauensbrüche normal sind, dass sie das aushalten können und müssen.
Haben Menschen früher leichter vertraut?
Ja, das hat auch mit der Kleinräumigkeit der früheren Welt zu tun. Man kannte sich, hatte Erfahrungswerte mit den Menschen, die einem umgaben, das ist heute nicht mehr so – wir müssen sozusagen auf Vorschuss vertrauen. Und das können viele Menschen nicht so gut.
Sie plädieren dafür, dass wir einander vertrauen müssen, um gemeinsam Lösungen für die Zukunft zu finden.
Ja, wir müssen uns gemeinsam kümmern, um unsere Erde, um unsere Nächsten. Und wir müssen darauf vertrauen, dass wir es gemeinsam schaffen. Das nimmt uns die Angst. Darum beteiligen sich Junge an den Klimademonstrationen, weil sie dort dieses Wir-Gefühl erleben. Gemeinsam nach Lösungen zu suchen, gibt Hoffnung.
Momentan scheint sich Misstrauen aber deutlich schneller auszubreiten als Vertrauen.
Ja, das sieht man an all den Verschwörungstheorien, die auf grossem Misstrauen gegenüber jeglichen Instanzen und Informationen beruhen. Sie sprechen vor allem Menschen an, die enttäuscht wurden, die nicht mehr vertrauen können und sich dann in diesem Strudel von Schreckensszenarien wiederfinden. Glücklich und zufriedener werden sie damit aber nicht.
Sie werden im nächsten Jahr 80 und haben schon einige Krisen erlebt. Ist ihr Vertrauen nie erschüttert worden?
Nein, das Vertrauen oder die Hoffnung habe ich nie verloren. Aber meine Erwartungen habe ich angepasst. Auch wenn ich finde, dass die Welt gerade ziemlich in Schieflage ist. Aber ich weiss, dass Menschen in schwierigen Situationen extrem kreativ werden, und darauf vertraue ich.
Katja Fischer De Santi ist seit Mai 2022 Chefredaktorin von «wir eltern». Davor war sie 15 Jahre lang als Gesellschaftsjournalistin bei verschiedenen Tageszeitungen in leitenden Funktionen tätig. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Buben am Bodensee, weil dort die Gedanken so weit schweifen können.