Monatsgespräch
«Wie viel kostet Geduld?»
wir eltern: Schwangere schätzen Hebammen als kundige Begleiterinnen während der Geburt. Was bringt es den Frauen, wenn Hebammen Forschung betreiben?
Jessica Pehlke-Milde: Wir definieren uns als Wissensgesellschaft. Eine Frau, die heute eine Hebamme aufsucht, geht davon aus, dass diese nach dem neusten Kenntnisstand arbeitet. Das heisst, ihr steht neben dem Erfahrungswissen auch Wissen zur Verfügung, das aus systematischer Forschung generiert wurde.
Die Hebamme als Wissenschaftlerin ist aber eine Erscheinung der jüngeren Zeit?
Dass Hebammen ihre Arbeit dokumentieren, Geburtsverläufe und eigene Beobachtungen systematisch auswerten, ist nicht neu. Dieses Wissen wurde in Form von Lehrbüchern auch verbreitet. Systematische Forschung im Kontext von Hochschulen gibt es jedoch erst, seit Hebammen auch dort lernen, lehren und forschen. Im deutschsprachigen Raum ist das seit 2008 so.
Was machen forschende Hebammen anders als forschende Ärzte?
Forschung ist Forschung. Für Ärzte und für Hebammen gelten weltweit vergleichbare Prinzipien und Vorgehensweisen. Unterschiedlich ist die Perspektive auf den Forschungsgegenstand: Hebammen machen kaum Medikamentenforschung, dafür beschäftigen sie sich stärker mit den Grund lagen der physiologischen, also der natürlich verlaufenden Geburt.
Ein Beispiel, bitte?
In der ärztlichen Geburtshilfe gibt es klare Vorgaben, in welchem Zeitraum sich der Muttermund öffnen sollte. Schreitet die Geburt nicht entsprechend voran, sollte das bestwirksamste Medikament eingesetzt werden. Hebammenforscherinnen hinterfragen diese Vorgaben und sammeln Daten über physiologische Geburten. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass der Muttermund sich gerade zu Geburtsbeginn nicht so schnell öffnet, wie man dachte. Man kann also vermuten, dass hier zu früh interveniert wird.
Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten?
Schnittstellen gibt es einige. Zum Beispiel bei der Frage der Interventionen: Wenn wir solche machen, wie können wir sie verbessern?
Wie wurde die Hebammenforschung in Wissenschaftskreisen aufgenommen?
Wir stiessen durchwegs auf Akzeptanz und offene Türen. Die Ärzte wissen, dass die Geburtshilfe davon profitieren kann, wenn auch Hebammen das Forschungsgebiet unter die Lupe nehmen und neues Wissen generieren. Man lädt sich immer öfter gegenseitig auf Tagungen ein und führt dort einen regen Fachdiskurs.
Also kein gegenseitiges Fremdeln?
Manchmal stösst man noch auf alte Strukturen. Als ich mich im vergangenen Jahr für den Perinatal-Kongress in Berlin anmeldete, musste ich ankreuzen, ob ich Hebamme oder Ärztin sei. Für Hebammen galt aufgrund des Lohnunterschieds der tiefere Tarif, für Ärzte der höhere. Ich rief die Organisatoren an und erklärte, dass ich zwar keine Ärztin, aber Wissenschaftlerin sei und gut den teureren Tarif bezahlen könne. Ich fragte, was ich jetzt tun solle. Es gab keine Lösung, mir blieb deshalb nichts anderes übrig, als den günstigeren Tarif zu zahlen (lacht). Dies zeigt, dass man auch heute noch nicht davon ausgeht, dass auch Hebammen höher qualifiziert sein können.
Wieso sind Sie eigentlich Hebamme geworden und nicht Ärztin?
Ich hatte zwar gute Vorbilder im Umfeld, der Arztberuf war für mich jedoch nie ein Thema, ich fand den Hebammenberuf immer attraktiver.
Obwohl Ansehen und Bezahlung deutlich tiefer sind?
Ich habe mich kaum je mit Ärzten verglichen. Und wenn, dann war ich froh, dass ich als Hebamme die Möglichkeit hatte, den physiologischen Prozess der Schwangerschaft, des Gebärens und der Familienbildung zu unterstützen. Nur punktuell hinzugezogen zu werden, wenn es gesundheitliche Probleme gab, fand ich nicht attraktiv.
Sie sind von der Hebamme zur Professorin und Leiterin einer Forschungsstelle aufgestiegen – was gab den Ausschlag für Ihre Karriere?
Als ich den Beruf vor 30 Jahren gewählt hatte, waren keine Karrierewünsche damit verbunden – solche waren auch gar nicht möglich. Ich war aber immer schon wissbegierig, lernfähig und habe versucht, die Fragen, die sich mir stellten, zu beantworten. Als der Beruf akademisiert wurde, bot sich erstmals die Möglichkeit, diese Eigenschaften auch einzusetzen.
Der Beruf hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Was sind die grössten Veränderungen?
Die Geburt ist sehr medikalisiert worden: Interventionen wie Geburtseinleitung, PDA oder Kaiserschnitt haben zugenommen. Auch die Ökonomisierung der Geburtshilfe ist ein grosses Thema. Die Faktoren Zeit und Geld sind in den Vordergrund gerückt. Unter der Geburt stellt sich heute die Frage: Wie viel kostet Geduld? Zudem hat sich das Aufgabengebiet der Hebammen stark erweitert: Waren sie früher hauptsächlich im Gebärsaal tätig, kommen heute Geburtsvorbereitung und Hebammensprechstunde dazu, ebenso die Nachbetreuung zu Hause im Wochenbett.
Was sind die Herausforderungen?
Der Fachkräftemangel, der unweigerlich auf uns zukommt, betrifft Ärztinnen und Hebammen gleichermassen. Es wird neue Versorgungskonzepte brauchen, um die Geburtshilfe auf diesem hohen Niveau fortführen zu können.
Es gibt auch Kritik an der Akademisierung des Berufs. Wurde die Ausbildung nicht «verkopft»?
Diese Frage stellte ich mir auch. Im Rahmen meines Studiums habe ich mir deshalb die ersten Bachelor-Studiengänge in Schottland angeschaut. Die Befürchtung, die Ausbildung sei zu theorielastig, hat sich aufgelöst; die Studiengänge zielen auf Kopf, Herz und Hand. Die Ausbildung ist unglaublich vielfältig geworden und hat einen sehr hohen Praxisbezug. Ein Beispiel hierfür ist das aktuelle Projekt «Lernen von Schwangeren».
Wieso gibt es eigentlich kaum männliche Hebammen, sogenannte Entbindungspfleger?
Ich weiss es ehrlich gesagt nicht, es wäre jedoch interessant, nach Antworten zu suchen. Mit der Ausbildung an Hochschulen wird der Anteil der Männer, die den Hebammenberuf erlernen, aber wahrscheinlich steigen. Jedenfalls zeigen das Entwicklungen aus anderen europäischen Ländern, in denen die Berufsausbildung zum Studium wurde.
Als in den 50er-Jahren die ersten Gynäkologinnen zu praktizieren begannen, schreckten viele Patientinnen davor zurück, sich von Frauen statt von Männern im Intimbereich untersuchen zu lassen. Herrscht heute die umgekehrte Situation?
Es sieht so aus. Sicher ist, dass viele Hebammen ihren Beruf als Frauendomäne betrachten. Man muss aber bekanntlich keine eigene Geburtserfahrung haben, um eine gute Hebamme zu sein.
Sie haben selber auch geboren. Half Ihnen das Hebammenwissen bei der Geburt?
Das kann man so oder so sehen. Als ich noch im Kreisssaal gearbeitet habe und eine Hebammenkollegin bei uns entbunden hat, stand auf der Tafel mit den Personaldaten im Teamzimmer unter der Rubrik «Risiken» Hebamme (lacht). Im Ernst: Sicher konnte ich mich ruckzuck im System zurechtfinden und mir einen Geburtsort aussuchen, der zu mir passt. Vor und bei der Geburt war ich aber nicht Hebamme, sondern Schwangere und Gebärende wie jede andere auch.
Den Geburtsvorbereitungskurs konnten Sie sich aber sparen?
Nein, wegen meinem Mann ging ich trotzdem hin. Er musste ja auch wissen, was los war, nicht nur ich.
Hat die eigene Gebärerfahrung Ihren Blick auf den Berufsalltag verändert?
In den folgenden Monaten habe ich mich immer wieder gefragt: Ist es nun hilfreich, eigene Geburtserfahrung zu haben? Das Eigene prägt stark – so stark, dass ich manchmal dachte, dass mein Blick auf die Unterschiedlichkeit der Geburtsverläufe vorher weniger verstellt war. Das hat sich zum Glück wieder geändert, je weiter meine eigene Gebärerfahrung in den Hintergrund gerückt ist.
Prof. Dr. Jessica Pehlke-Milde (50) hat von 1984 bis 2002 sowohl als angestellte wie als freiberufliche Hebamme in Berlin gearbeitet. 1993 begann sie das Studium der Pflegepädagogik und war danach als wissenschaftliche Mitarbeiterin an verschiedenen Hochschulen tätig. 2009 promovierte sie an der Medizinischen Fakultät Charité in Berlin und ist seither an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) tätig – als Professorin und neu auch als Leiterin der Forschungsstelle Hebammenwissenschaften. Pehlke-Milde hat einen 14-jährigen Sohn und lebt mit Mann und Kind am Bodensee.