Medizin
Wie erkennt man bei Babys Asthma?
Viele Säuglinge und Kleinkinder leiden an Asthma. Die Behandlung ist wichtig, übermässige Sorgen sind aber unnötig.
Louis war wenige Monate alt, als sein Näschen zu laufen begann und bald darauf ein heftiger Husten einsetzte. Seine Mutter Sarah nahm es zunächst gelassen. Doch als der Husten immer länger andauerte, die Nächte schwierig und schlaflos wurden und der Kleine beim Atmen teils ein pfeifendes Geräusch machte, liess sie ihn von der Kinderärztin untersuchen. Die Diagnose lautete: obstruktive Bronchitis. Sarah war beunruhigt. Der Begriff besagt zwar lediglich, dass die unteren Atemwege des Babys – die Bronchien – verengt sind und ein pfeifendes Geräusch, das sogenannte Giemen, zu hören ist. Doch da Sarah selbst Asthmatikerin ist und ihr Mann unter Heuschnupfen und weiteren Allergien leidet, befürchtete sie, dass es mit Louis in eine ähnliche Richtung gehen könnte.
Ein gutes Immunsystem
Louis Geschichte ist kein Einzelfall. Rund ein Drittel aller Kinder im Vorschulalter leiden ein oder mehrmals unter Symptomen wie pfeifender Atmung, Husten, Atemnot. Obwohl selbst die Diagnose «wiederholte obstruktive Bronchitis» nicht zwangsläufig Asthma bedeutet, sollten Eltern aufmerksam bleiben. Etwa fünf Prozent aller Kinder in der Schweiz zwischen null bis fünf Jahren haben tatsächlich Asthma. Überaktive Polizisten im Körper Einer, der sich bestens auskennt mit der kindlichen Pneumologie, ist Nicolas Regamey. Der Kinderarzt publizierte letztes Jahr die Schweizer Empfehlungen zur Diagnose und Therapie von obstruktiven Atemwegserkrankungen bei Kleinkindern. Der Co-Chefarzt des Kinderspitals Zentralschweiz in Luzern sitzt jetzt an seinem Bürotisch und erklärt die Welt der kindlichen Atemnot in anschaulichen Bildern, wie er es jeweils auch besorgten Eltern gegenüber tut. «Eigentlich», sagt Nicolas Regamey, «ist Asthma das Zeichen eines zu guten Immunsystems.» Dieses überreagiere und gebärde sich wie eine Meute Polizisten im Körper, die zu motiviert ans Werk gehen. Statt nur Bakterien, Viren und Parasiten zu bekämpfen, greift das Immunsystem auch «Provokateure» an, welchen gegenüber es tolerant sein müsste, etwa Pollen oder Hausstaub. So wird fälschlicherweise eine Entzündungsreaktion in der Lunge hervorgerufen. Die Schleimhaut der Bronchien rötet sich und schwillt an. Entzündet sich die Atemschleimhaut chronisch, macht dies die unteren Atemwege empfindlicher gegenüber verschiedenen Reizen.
Das Allergiezentrum Schweiz bietet umfassende Informationen zu Symptomen, Diagnosen und Therapien von Allergien, Unverträglichkeiten und Asthma. Zu den Angeboten für Betroffene zählen neben Beratungen, Kursen und Selbsthilfegruppen auch kostengünstige Ferienlager für Kinder und Jugendliche.
Genetik und Umwelt
Warum aber leiden einige Menschen unter der Überreaktion und andere nicht? Die Ursachen für Asthma und Allergien sind auch genetisch bedingt. Hat ein Elternteil Asthma, beträgt die Wahrscheinlichkeit für das Kind 25 Prozent; sind beide Elternteile betroffen, steigt die Wahrscheinlichkeit auf 50 Prozent. Ob Asthma aber «ausbricht», hängt von Umweltfaktoren ab, sagt Nicolas Regamey: «Eine Vaginalgeburt, Stillen und das Vermeiden von Tabakrauch wirken schützend.»
Sarah ahnte, dass Louis ebenfalls Asthma entwickeln könnte, wie sie jetzt am Esstisch ihrer hellen Wohnung in Luzern erzählt. Louis ist mittlerweile fast drei Jahre alt. Mit einem Jahr erhielt er erstmals Ventolin, das den Wirkstoff Salbutamol enthält, einen sogenannten Bronchodilatator. Dieser entspannt die Muskeln in den Atemwegen und verbessert so die Luftzufuhr zu den Lungen. Sarah stellt die Schachtel mit der Inhalierausrüstung auf den Tisch und erläutert, wie das Gerät funktioniert: Auf einer Seite des Inhalators wird eine kleine Maske befestigt, auf der anderen die Hub-Patrone angeschlossen. Mit wenigen kleinen Stössen gelangt das fein zerstäubte Medikament in die Bronchien des Kindes.
Doch trotz der frühen Behandlung liessen Louis’ wiederkehrende Hustenanfälle nicht nach. Seine Eltern konnten irgendwann nicht mehr davon ausgehen, dass ihr Kind gewöhnliche Erkältungsviren von der Kita heimschleppt. Denn mittlerweile überwältigten ihn die Anfälle auch ohne erkennbare Auslöser und ohne vorgängigen Schnupfen. In den letzten Monaten, mit zunehmendem Bewegungsdrang, zwingen ihn die Atemnotanfälle oft, das Fussballspiel mit dem Vater oder das Herumtoben draussen zu unterbrechen, sich zu setzen, abzuwarten.
Die Schlüsselsymptome
«Das tut mir jeweils unheimlich leid für mein Kind», sagt Sarah. Sie spricht damit auch einen Punkt an, mit dem viele Eltern zu kämpfen haben: latente Schuldgefühle, weil sie glauben, dem Kind das Schicksal eines Asthmatikers aufgebürdet zu haben. Trotz vaginaler Geburt und zweijähriger Stillzeit scheinen in Louis Familie die Gene das Sagen zu haben. Wenn das Umfeld dann noch vorwurfsvolle Fragen stellt, warum das Kind denn ständig wie ein Berserker huste, braucht es eine dicke Haut, um nicht in Selbstvorwürfen zu versinken.
Wie aber erkennen Eltern, dass es sich bei ihrem Kind tatsächlich um Frühasthma handeln könnte? Die Schlüsselsymptome, sagt Nicolas Regamey, seien die wiederkehrende, pfeifende Atmung, Husten, Atemschwierigkeiten und schnelle Ermüdung beim Spielen – vor allem, wenn die Symptome ohne gleichzeitigen Luftweginfekt auftreten oder dann ausgelöst werden, wenn das Kind sich bewegt, lacht, weint, Kälte oder Luftverschmutzung ausgesetzt ist oder mit Tieren in Kontakt kommt.
Treten diese Symptome gehäuft auf, ist ein Besuch beim Kinderarzt unumgänglich. Die Notaufnahme aufsuchen sollten die Eltern dann, wenn das Kind sehr schnell atmet, sie Einziehungen an Brustkorb und Nasenflügel beobachten, es kurzatmig, blass und apathisch ist und blau verfärbte Lippen hat, wenn es kaum trinkt und sich sein Allgemeinzustand verschlechtert.
Nicolas Regamey, Kinderarzt
Bauernhof-Hypothese
Allergietests wie Haut- oder Bluttests können den Befund zwar unterstützen, jedoch nicht allein bestätigen. Denn es gibt Kinder mit Allergien, die kein Asthma entwickeln. Überhaupt geht Nicolas Regamey vorsichtig um mit dem Aufdrücken des Stempels «Asthma». Zum einen, weil sich Kinderärzt:innen mangels diagnostischer Tests vor allem bei Kindern im Vorschulalter auf die Beschreibung der Eltern und die körperliche Untersuchung verlassen müssen. Zum anderen, weil sich bei den meisten Kindern mit obstruktiver Bronchitis die Problematik auswachse. «Selbst wenn die Krankheit bereits diagnostiziert wurde – Asthma ist eine typische Schulalter-Krankheit und wächst sich bei der Hälfte im Erwachsenenalter heraus», erklärt der Kinderarzt. Die Diagnose «Verdacht auf Asthma» wird übrigens bei deutlich mehr Jungen als Mädchen gestellt.
Historisch schwankt das Auftreten von Asthma. In den 1980er- und 1990er-Jahren stieg die Anzahl allergischer Erkrankungen und Asthma enorm – allerdings nur in entwickelten Ländern. Bei der Öffnung der damaligen DDR klaffte die Anzahl Betroffener zwischen Ost- und Westdeutschland weit auseinander. Die bäuerlichere DDR hatte deutlich weniger Allergiker als der Westen. Was zur «Bauernhof-Hypothese» führte. Demnach gewöhnt sich der Körper an Bakterien und Parasiten, wenn er ihnen früh ausgesetzt ist. Seit der Erkenntnis «Weniger Hygienefimmel, mehr Dreck» stoppte der Allergiker-Anstieg ab den 2000er-Jahren. Ob sich die Lage nach Corona und dem erneuten Hochschrauben der Hygienestandards wieder verschlechtert, wird sich zeigen.
Chronische Entzündung verhindern
Da eine eindeutige Asthmadiagnose bei Kindern unter vier Jahren auch für Spezialisten wie Nicolas Regamey nicht einfach ist, müssen andere Ursachen für Atemwegsprobleme ausgeschlossen werden. Der Kinderarzt muss insbesondere sorgfältig abklären, ob das Kind möglicherweise einen Fremdkörper verschluckt hat, unter einer Fehlbildung der Atemwege, einer bakteriellen Bronchitis oder sogar einem angeborenen Herzfehler leidet. Die meisten Kinder bleiben vor schwerwiegenden Erkrankungen verschont.
Nichtsdestotrotz ist es wichtig, bei Verdacht auf Asthma die Kinder zu behandeln, um eine chronische Entzündung in den Lungen zu verhindern. Andernfalls kann das Lungengewebe vernarben, was im Erwachsenenalter zu schweren Lungenkrankheiten wie COPD führen kann. Alle, die einer Therapie mit Cortison skeptisch gegenüberstehen, kann Nicolas Regamey beruhigen: «Die Dosen für Kinder sind in der Regel unbedenklich klein ! »
Auch bei Louis wurden zum Glück keine Hinweise auf eine schlimmere Krankheit gefunden. Sarah und ihre Kinderärztin sind sich fast sicher, dass der Junge unter Frühasthma leidet – die Blut- und Hauttests in den kommenden Wochen werden zeigen, ob sich die Vermutung bestätigt. In akuten Phasen erhält Louis jeden Abend je einen Hub aus dem blauen und einen Hub aus dem orangen Medikamentenspender. Seine Eltern erleichtern ihm die kurze Prozedur, indem Louis wählen darf, ob er zuerst die «Heidelbeerfarbe» oder die «Erdbeerfarbe» inhalieren möchte. Das kleine Mitspracherecht macht ihn stolz. Wenn er grösser ist, wird er die Medikamente selbst einnehmen – und so wie Sarah die zerstäubte Medizin nicht mehr aus dem Inhaliergerät, sondern ohne Maske über ein Schläuchlein aus dem Spender tief in seine Lungen einatmen.
Sarah plagen heute keine Schuldgefühle mehr und sie schaut optimistisch in die Zukunft: «Ich bin dankbar, dass wir in der Schweiz leben – hier ist der Zugang zu Spezialisten und Therapien für Asthmatiker so einfach.»