Psychologie
Wie erhält man gesunde Beziehungen in der Familie?
Psychotherapeutin Philippa Perry will uns mit ihrem neuen Buch helfen, gesunde Beziehungen aufzubauen und mit starken Gefühlen umzugehen. Ein Selbstversuch in schwierigen Zeiten.
Diese Stimme ertönt zwar aus meinem Mund – hört sich aber ganz nach meiner Mutter an. Es ist so weit, ich habe mich in sie verwandelt. Wie um diese Erkenntnis zu bestätigen, schicke ich meiner Tochter ein pampiges «Und zieh endlich deine Hausschuhe an!» hinterher. Wie hat mich das als Kind genervt. Kurz spüre ich das brodelnde Gefühl von damals im Bauch.
Womit wir direkt im Buch der Psychotherapeutin Philippa Perry sind, das monatelang auf den britischen Bestsellerlisten stand und nun auf Deutsch erschienen ist. Es trägt den sperrigen wie reizvollen Titel: «Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen (und deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen hast)».
zvg
Philippa Perry (1957 geboren) arbeitet seit 20 Jahren als Psychotherapeutin, schreibt eine Ratgeberkolumne und behandelt in Dokumentationen für die BBC Fragen zu Psychologie und Erziehung. Sie lebt mit ihrem Ehemann, dem Künstler Grayson Perry, in London, die beiden haben eine Tochter. Der Bestseller «Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen...» ist im April 2020 auf Deutsch erschienen. Ullstein Verlag, 304 Seiten, gebundene Ausgabe ca. Fr. 25.90.
Ich will testen, ob das Buch hält, was es verspricht. Perry berichtet darin aus ihrem (Berufs-)Alltag und empfiehlt Übungen, die man direkt anwenden kann. Damit soll sich ein Streit entschärfen oder der innere Kritiker besänftigen lassen. Mein Selbstversuch findet im März und April 2020 aufgrund der Corona-Krise unter erschwerten Bedingungen statt.
Mama hat einen Plan
Wir – Papa, Mama, Tochter – kuscheln viel, aber wir herrschen uns auch öfter an. Dann liegen die Nerven blank und es gibt in dieser Zeit des Lockdowns kein Entrinnen, kein Ausweichen ins Büro, ins Yogastudio, zu Freunden. Bei diesem Selbstversuch geht es aber nicht nur darum, uns in den nächsten Wochen nicht die Köpfe abzureissen.
Wie Perry schreibt, bin ich überzeugt, dass die Beziehung, die wir zu unserem Kind aufbauen, die Grundlage für all jene bildet, die es selber in Zukunft eingehen wird. Wir bereiten heute den Weg, den unser Kind morgen beschreitet. Wir bereiten vor, wie es leben und lieben wird.
Ich bin eine Planerin. Am Anfang unserer Beziehung erwartete meinen Liebsten jeden Freitag eine Kühlschranktür gespickt mit Post-its. Auf jedem der gelben Zettel stand ein Programmpunkt fürs Wochenende. Ich fragte mich damals nicht, warum er trotzdem bei mir blieb – und war höchst überrascht, dass unsere heute Fünfjährige bei meinen Planorgien nicht mitmachte.
Eine übliche Situation an einem gemeinsamen Tag: Nach Kindergarten und Mittagessen geht es zackzack zum Schwimmen, dann bringen wir schnell die Bücher in die Bibliothek, sodass noch genügend Zeit fürs Café um die Ecke bleibt. Aber je weiter ich mit meinen Gedanken schon bei der verdienten Cremeschnitte bin, desto trödeliger wird mein Kind, will jedem Kriechtier beim Kriechen zusehen und jedem Bagger beim Baggern. Macht sie das extra, höre ich eine schrille Stimme in meinem Kopf. Will sie mich zur Weissglut treiben? Um meinen Zuckerrausch am Nachmittag bringen? Meine Ohren glühen.
Aus Sicht des Kindes
Statt nun weiter anzutreiben, hektisch zu werden, schlägt Perry vor, innezuhalten. Sich zu fragen: Was will mir mein Kind mit seinem Verhalten sagen? Und wie ist das im Zusammenspiel mit meinem entstanden? Wie fühlt sich der andere gerade? Also versuche ich, die Dinge aus der Sicht meines Kindes zu betrachten. Das tatsächlich noch nicht in der Lage ist, weit voraus zu planen. Das im Moment lebt, in dem ihm vielleicht gerade alles zu schnell geht. Wichtig für mich war es zu erkennen: Es geht nicht darum, als Gewinner aus dieser Situation hervorzugehen, indem ich meinen Willen durchsetze.
Für die Phase der Schulschliessungen während Corona haben wir mit Nachbarn das Kinderhüten aufgeteilt, im Versuch, den Kleinen ein Stück weit Normalität zu bieten, wenn auch in kleinster Gruppe. Heute wollen wir basteln, aber mein Kind mag nicht. Motzt am Gspänli rum, tut blöd, zerreisst seine Bilder. Ich werde langsam ungehalten. «Ich mach das doch nur für dich!» – liegt mir auf der Zunge.
Aber bevor ich etwas sage, denke ich darüber nach, wie die Situation gerade für meine Tochter ist. Das Einzelkind, das es nicht gewöhnt ist, uns so regelmässig mit jemand anderem zu teilen. Dass es vermisst, mit anderen draussen herumzustromern. Auch für sie ist gerade alles anders. Und ich als Erwachsene habe die Verantwortung, ihr in dieser Situation zu helfen. Ihr Ruhe zu geben und Raum, sich mitzuteilen. Was mir leichter fällt, wenn ich versuche, mich in sie hineinzuversetzen.
Woher kommt sie überhaupt, diese schrille Stimme aus dem Off? Die so schnell bewertet und verurteilt? Die Sachen sagt, die ich so nie sagen wollte. Ein wichtiger Punkt in Perrys Argumentation ist, dass wir herausfinden, was wir selbst als Babys oder Kinder mitbekommen haben: «Egal, welches Alter dein Kind hat, es wird dich auf körperlicher Ebene an die Emotionen erinnern, die du durchgemacht hast, als du in einem ähnlichen Stadium warst.»
Dieser Blick zurück kann schwierig sein, weh tun, an Dinge rühren, die wir meinen lange überlebt zu haben. Perry schreibt: «Wir müssen uns diesem Unbekannten stellen, um uns darüber klar zu werden, wie wir möglichst wenig davon weitergeben.»
Ich zum Beispiel sehe rot, wenn meine Tochter während des Mittagessens nicht sitzenbleibt. Obwohl ich weiss, dass Kinder das bis zu einem gewissen Alter einfach nicht können. Die Welt drum herum ist zu aufregend. Warum also bringt mich das so auf die Palme? Vielleicht weil meine Mutter bis heute stolz darauf ist, dass ich immer und überall stillgesessen habe. Wie ein Püppchen. Die Leute seien beeindruckt gewesen, wird sie nicht müde zu erzählen.
Versuche ich mich daran zu erinnern, spüre ich quälende Langeweile und das Gefühl, dass die Meinung anderer wichtiger war als meine. Reagiere ich also an unserem Esstisch mit Ärger, weil mich das Verhalten meiner Tochter an mein eigenes Stillsitzenmüssen erinnert?
Auch hier empfiehlt Perry eine Übung: Welches Verhalten Ihres Kindes löst die stärkste emotionale Reaktion aus? Entwickeln Sie Mitgefühl, fürs Kind, aber auch für sich selbst. Perrys Allround-Ratschlag für Momente grosser Gefühle: Nehmen Sie eine kurze Auszeit. Der Satz «Ich brauche etwas Zeit, um darüber nachzudenken, was hier gerade passiert» verhindert so manchen Ausbruch.
Übrigens: Auch der innere Kritiker ist vererbbar. Wenn Sie sich selbst klein- und schlechtmachen, und sei dies nur in Gedanken, ist Ihr Kind anfällig für dieselbe Angewohnheit. Seien Sie also freundlich zu sich selbst. Da hat auch der Nachwuchs etwas davon.
Auf Traurigkeit eingehen
Perry plädiert dafür, alle ernst zu nehmen und nicht mit einem «Das Kind ist hungrig/ müde/auf Ärger aus» abzutun. Was nicht bedeutet, dass wir alles toll finden müssen. Ich bin kein Fan von Wutanfällen. Aber ich möchte, dass mein Kind weiss, dass seine Wut in Ordnung ist oder dass es okay ist, traurig zu sein. Gerade Letzteres ertrage ich nur schwer. Ich wünschte mir, meine Tochter wäre auf ewig honigkuchenpferdglücklich.
Wie aber reagieren, wenn das Kind untröstlich ist? Mit einem «Pscht, das ist doch nicht so schlimm»? Mit diesem Satz, der alles wiedergutmachen soll? In ihrem Buch macht Perry deutlich, dass wir damit die Gefühle leugnen, die das Kind gerade spürt. Weil wir es vielleicht nicht dramatisch finden, wenn die Brotkruste nicht exakt so abgeschnitten wurde, wie es sich das vorgestellt hat. Oder weil wir seinen Schmerz nicht ertragen können.
Laut Perry kappen wir mit dem Verleugnen, mit gutgemeinten Ratschlägen oder gar Schimpfen die Kommunikation zu unserem Kind. Es wird sich uns nicht mehr mitteilen wollen, wenn es sich nicht ernstgenommen fühlt.
Eine Taktik, die ich zugegebenermassen selbst angewendet habe, nennt Perry den «Eichhörnchen-Effekt». Stellen Sie sich vor, Sie kommen von einem miserablen Tag im Büro nach Hause. Und erzählen davon Ihrem Partner, der erwidert: «Och, so schlimm ist das doch nicht. Schau mal da draussen, ein Eichhörnchen!» Sie würden sich verarscht vorkommen? Warum sollte es Ihrem Kind anders gehen, wenn Sie es von seiner Traurigkeit abzulenken versuchen, statt darauf einzugehen?
Es mag sich anfühlen, als verschlimmere man Gefühle, indem man sie benennt und einordnet, aber eigentlich hilft man damit bei deren Verarbeitung. Ein: «Ich höre dir zu, erzähl mir, wie sich das gerade für dich anfühlt» erwarten wir schliesslich auch von unserem Partner.
Gefühle ernst nehmen
Perry schreibt: «Wenn wir leugnen, wie sich ein Kind fühlt, laufen wir Gefahr, seine Instinkte abzuschwächen. Und die Instinkte eines Kindes machen es sicherer.» Ein Beispiel: Ein Kind beschwert sich über Omas Linseneintopf. Wird dieses Gefühl als nichtig abgetan, könne das Kind das Gefühl bekommen, mit Ihnen auch dann nicht darüber reden zu können, wenn der Klavierlehrer ihm die Hand aufs Bein legt.
«Der Unterschied zwischen diesen beiden Dingen ist uns nur allzu klar, doch ein Kind bucht beides unter ‹etwas Ekliges› ab. Und wenn Sie einige eklige Dinge als unwichtig abtun, wird es wahrscheinlich das Gefühl haben, dass es die Demütigung nicht wert ist, Ihnen noch mehr davon zu erzählen», schreibt die Psychotherapeutin.
Auf den ersten Blick erscheint der Vergleich zwischen einem misslungenen Gericht und einer unangemessenen Berührung unverhältnismässig. Mein erster Impuls ist, nicht wahrhaben zu wollen, dass mein Kind tatsächlich noch nicht genug Lebenserfahrung hat, um zwischen beidem unterscheiden zu können.
Wichtig, gerade auch für Corona-Zeiten, sind Perrys Ansätze zum Thema Grenzen. Wie formuliere ich diese, ohne dass es zum Eklat kommt? Wenn ich ständig auf die grosszügig in der Wohnung verteilten Legosteine, Stifte und Puppen steige? Oder das Kind nicht einsieht, dass Mama arbeiten muss, auch wenn das gerade im Homeoffice ist.
Perry schlägt vor, das Problem zu benennen, indem Sie sich selbst und nicht das Kind definieren. «Ich brauche Ordnung und möchte, dass du aufräumst» sei Erfolg versprechender als ein «Immer lässt du deinen Kram herumliegen». Niemand mag es, in eine Schublade gesteckt, von anderen definiert zu werden.
Perrys Buch hat unser Zuhause nicht sofort in einen Hort der Glückseligkeit verwandelt. Aber doch einige brenzlige Situationen entschärft. Tatsächlich ist Perry ganz nah an den Problemen, die in den meisten Familien gewälzt werden. Irgendwann schreibt sie die beiden Sätze, die mich innerlich purzelbaumschlagen lassen: «Bei Kindern ist fast alles eine Phase. Es ist also in Ordnung, sich dem anzupassen, was gerade funktioniert, so seltsam es auch sein mag.»
Leoni Hof studierte Neuere deutsche Literatur und Medien und einige Nebenfächer der Kategorie «Spannend, aber nix zum Geld verdienen». Nach einem Ausflug ins Verlags-Lektorat landete sie im Journalismus. Eigentlich schreibt sie über Kunst, Kultur und Zeitgeist-Themen, doch seit sie Mutter einer Tochter ist, treiben sie auch die Themen Elternschaft und Erziehung um.