Grundeinkommen
Wie ein Grundeinkommen Familien entlasten könnte
Von Veronica Bonilla Gurzeler
Ein Grundeinkommen würde für Familien einen Unterschied machen, besonders für Mütter und Kinder. Menschen mit unterschiedlichstem Hintergrund sind davon überzeugt und sorgen dafür, dass das Thema in der Schweiz wieder diskutiert wird.
Und plötzlich ist sie wieder da, die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens. Wie die Pilze, die wenige Tage nach einem heftigen Regen aus dem Waldboden treiben, ist das auf den ersten Blick verrückte Vorhaben gerade auf allen Kanälen präsent.
Im Juni 2016 hatte sich immerhin knapp ein Viertel der Stimmbevölkerung an der Urne für ein staatlich garantiertes Grundeinkommen entschieden. In der Zwischenzeit wurden wir durch die Coronakrise ordentlich durchgeschüttelt – persönlich, aber auch als Gesellschaft. Existenzängste aller Art, Druck und Überforderung rauben vielen bis heute immer wieder den Schlaf und manchen die Gesundheit. Unser bestehendes System offenbart seine Schwächen. Und wir ahnen, dass der strukturelle Wandel eben erst begonnen hat. Was wäre, wenn jede erwachsene Person und jedes Kind in der Schweiz ein Einkommen erhalten würde, das die Grundbedürfnisse deckt? Könnte ein solches Einkommen eine Lösung sein? Für ein besseres Leben?
Verschiedene Menschen und Gruppierungen sehen das so und wollen diesen Weg gehen. Als bisheriger Höhepunkt lancierte ein parteiloses Komitee am 21. September 2021 auf nationaler Ebene eine Initiative für das Grundeinkommen, mit dem Slogan: «Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir? Wo, wenn nicht hier?»
Die Marktwirtschaft retten
Die Gegenseite stand allerdings schon parat. Rudolf Minsch, Chefökonom bei Economiesuisse, nannte das Grundeinkommen bereits in einem Blogpost vom 13. September 2021 eine Sozialutopie, die nicht finanzierbar sei und die Schweiz als Wirtschaftsstandort schwächen würde.
Bloss: Nicht nur linke und marktwirtschaftsferne Kreise machen sich für das Grundeinkommen stark, auch Liberale wie Thomas Straubhaar, Volkswirtschaftsprofessor an der Universität Hamburg. Er ist sogar überzeugt, dass das Grundeinkommen der einzige Weg ist, die Marktwirtschaft zu retten: «Die Jungen von heute werden morgen weder Willens noch in der Lage sein, das System, das wir in den letzten 200 Jahren hatten, weiter zu unterstützen», sagt der Schweizer Ökonom im Telefoninterview.
In seinem Buch «Grundeinkommen jetzt!», das Ende August 2021 im NZZ-Libro-Verlag erschienen ist, legt Straubhaar ausführlich dar, wie ein Grundeinkommen finanzierbar ist. In seinem Modell fallen die meisten bisherigen Sozialleistungen weg, besteuert wird dafür die Wertschöpfung, also nicht nur die Löhne, sondern auch die Kapitaleinkünfte: «Jeder Franken, der auf das Konto von Menschen fliesst, egal ob durch Zins- oder Mieteinnahmen, Dividenden oder Lohn, wird mit 50 Prozent besteuert», erklärt Straubhaar. Das tönt auf den ersten Blick nach viel Geld. Doch gegengerechnet mit dem Grundeinkommen – in der Schweiz wird von einem monatlichen Betrag von 2500 Franken ausgegangen – würden gering Verdienende und Familien netto mehr Geld als heute zur Verfügung haben.
Straubhaar plädiert sogar dafür, dass Kinder den gleich hohen Betrag erhalten wie Erwachsene – ein radikaler Vorschlag, den der Vater von drei erwachsenen Kindern aber «knallhart ökonomisch begründet», wie er selbst sagt: «Damit werden die Verzichtskosten kompensiert, welche Menschen erbringen, die Kinder aufziehen. Ihre Auslagen steigen während der Familienphase und ihr Erwerbseinkommen sinkt in der Regel, dementsprechend schlechter ist ihre finanzielle Situation im Alter.» Weil es auch heute noch fast immer die Mütter sind, die ihre Erwerbsarbeit reduzieren oder sogar ganz einstellen, um sich um Kinder und Haushalt zu kümmern, würde diese Lösung vor allem den Frauen – und indirekt den Kindern – zugutekommen.
Die Kluft verringern
«Wir wissen, dass Altersarmut weiblich ist. Nicht zuletzt, weil es meistens die Frauen sind, die nach einer Trennung mit den Kindern zurückbleiben», sagt Straubhaar. Mit dem Grundeinkommen für Kinder kann dem vorgebeugt werden, da es nicht nur die direkten Kosten wie Essen oder Kleidung deckt, sondern auch die indirekten: «Der Elternteil, der die Erwerbsarbeit reduziert, kann Geld in eine private Vorsorgekasse einzahlen. Es können jedoch auch eine Haushaltshilfe oder die Kinderbetreuung finanziert werden», so Ökonom Straubhaar.
Er habe sein Buch vor allem für Frauen und Kinder geschrieben, sagt der Wirtschaftsexperte. Denn sie seien unbestritten die klaren Verliererinnen des heutigen Systems. «Das Grundeinkommen kann nicht alle Ungleichheiten über Nacht beseitigen, aber es hilft, die Kluft zwischen Frauen und Männern, zwischen Älteren und Jüngeren zu verringern», so Straubhaar. «Wenn wir die Familien stärken wollen, müssen wir Mütter und Kinder viel besser unterstützen.»
Überzeugt vom Grundeinkommen: Drei Menschen erzählen
Rahel Ackermann (38): Ich fühle mich getragen
Ting ist ein Grundeinkommen auf privater Basis und funktioniert wie eine Versicherung. Rahel Ackermann hilft es, den Alltag mit Kindern, Job und Ausbildung stressfreier zu gestalten.
Nichts ging mehr vor einem Jahr. Rahel Ackermann (38) hatte im Sommer 2020 einen dreijährigen Studiengang an der pädagogischen Hochschule begonnen, weil ihr klar gewordenen war, dass sie ohne Lehrdiplom in einer Sackgasse steckte. Sie hatte zwar einen Master in Germanistik und Anglistik und mehrere Jahre an einer Privatschule unterrichtet. «Ohne diesen Abschluss bin ich im Bildungsbereich jedoch deutlich benachteiligt, auch lohnmässig», sagt die alleinerziehende Mutter, die mit ihren beiden Kindern (12 und 15) und ihrem neuen Partner in Basel lebt.
Doch die Dreifachbelastung durchs Studium, einen 65-Prozent-Job an einer Sekundarschule und das Muttersein waren zu viel: «Ich war ständig am Limit und schliesslich total erschöpft.» Rahel wurde krankgeschrieben und realisierte, dass sie ihre Arbeit reduzieren musste, wollte sie das Studium schaffen. Doch wie finanziell überleben? Die Kinderalimente waren minimal. Stipendien für ihre Ausbildung gab es keine. Auch das Sozialamt zahlt nicht, wenn man in Ausbildung ist.
Einen Kredit aufnehmen? «Es machte mir Angst, jahrelang Schulden zu haben», sagt Rahel und entschied sich für einen unkonventionellen Weg, der viel Mut erforderte: ein privates Crowdfunding. Sie schrieb Verwandte, Freunde, Bekannte und einzelne Stiftungen an, schilderte ihre Situation und bat um eine Spende. Insgesamt 45 Briefe und E-Mails verschickte sie.
Und dann lernte sie Ting kennen und wurde sofort Mitglied. Ting gibt es seit Juni 2020. Es funktioniert ein bisschen wie eine Versicherung, wird unterstützt vom Migros-Pionierfonds und soll Weiterentwicklung ermöglichen, Raum schaffen für Neuorientierung, für Pausen, aber auch für Wissensvernetzung. Die zurzeit 210 Mitglieder (Stand 14. Januar 2022) zahlen monatlich mindestens 100 Franken auf ein Gemeinschaftskonto ein. Wer drei Monate dabei ist und Unterstützung möchte, kann sein Vorhaben formulieren und erhält bis zu sechs Monate Community-Grundeinkommen.
Wie zum Beispiel Rahel Ackermann. «Ting gab mir so viel Hoffnung. Mein Antrag wurde sofort angenommen, ich musste nichts belegen, man hat mir einfach vertraut. Das hat mich total berührt», sagt Rahel. 15000 Franken erhielt sie von Ting. Zusammen mit den Beträgen aus ihrem Crowdfunding hat sie nun genug Geld und muss bis zum Ende ihres Studiums nur noch 45 Prozent arbeiten, für Rahel eine grosse Entlastung: «Ich spüre immense Dankbarkeit für die Unterstützung, fühle mich getragen und eingebettet.»
Silvan Groher (47): Dringlichkeit nimmt zu
Das Grundeinkommen ist sein Beruf. Silvan Groher lebt seit einigen Jahren vom und fürs Grundeinkommen.
Silvan Groher (47) ist ein pionierhafter Macher, ein analoger und digitaler Vernetzer. Er ist Mitgründer des Vereins Grundeinkommen, der Konzepte, Initiativen und Experimente für eine bedingungslose finanzielle Grundsicherung auf die Beine stellt, wie zum Beispiel das Community-Einkommen Ting. In der Küche seiner Atelier- und Bürogemeinschaft in einem ehemaligen Industriegebäude im Zürcher Binzquartier erzählt der zweifache Familienvater, wieso er seine ganze Schaffenskraft seit einigen Jahren in Grundeinkommensprojekte fliessen lässt: «Ich kenne keine Idee, die so gross, so visionär ist, wie das Grundeinkommen.
Es entspricht meinem Menschenbild. Wenn Menschen nicht mehr dem Geld hinterherrennen müssen, können sie in die Selbstverantwortung kommen und tun, was ihnen Freude macht, was ihnen wirklich entspricht. Das macht sie zufriedener und kreativer. Der Lockdown hat gezeigt, dass die wenigsten einfach nur Netflix schauen und abhängen wollen. Die meisten suchen Sinnhaftigkeit, wollen die Welt verbessern und nicht kaputtmachen.
Die fortschreitende Digitalisierung und Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt sind Herausforderungen, die wir als Gesellschaft zu meistern haben. Ich bin überzeugt, dass es früher oder später hässlich wird, wenn die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht und wir die Umverteilung nicht angehen. Die Dringlichkeit nimmt zu, deshalb sollten wir in den nächsten Jahren Pilotversuche starten und auch wissenschaftlich untersuchen, wie sich die Leute mit einem Grundeinkommen verhalten.
Zu diesem Zweck haben wir in der Stadt Zürich eine Initiative eingereicht, die in rund zwei Jahren zur Abstimmung kommen wird. Wichtig ist, die Frage der Finanzierung zu klären, und wir müssen überlegen, wie wir das Grundeinkommen konkret umsetzen können, damit niemand durch die Maschen fällt. Denn zweifellos gibt es Kräfte, die darauf lauern, den Sozialstaat abzubauen.
Ich sehe, dass immer mehr Menschen den Anforderungen der Leistungsgesellschaft nicht mehr gewachsen sind und schon in jungen Jahren ausbrennen. Ein Burn-out hinterlässt jedoch einen harten Schaden, der oft nicht mehr vollständig behoben werden kann. Ein Grundeinkommen kann das verhindern. Es richtet Menschen innerlich auf und macht sie aufrichtiger. Das strahlt aus auf ihre Beziehungen, auf die Kinder, die Freunde, aufs gesamte Umfeld.»
Elli von Planta (72): Werte schaffen
Elli von Planta gehört zum parteilosen Komitee, das im September 2021 die Initiative für das Grundeinkommen lanciert hat. Ihr liegt daran, dass die familiäre Betreuungsarbeit endlich gewürdigt wird.
Sie hat vier Kinder geboren, und weil ihr Mann die Familie verliess als Alleinerziehende Jura studiert und berufsbegleitend eine psychologische Ausbildung gemacht. Sie war Präsidentin der UBS-Arbeitnehmervertretung und der Sozialkonferenz Basel. Und spätestens als sie das Mittagessen in ihrem Haus in Bottmingen (BL) auf Napoleon-Tellern serviert, wird klar, dass Elli von Planta (72) eine Kämpfernatur ist, durch und durch.
«Ich setze mich für das Grundeinkommen ein, weil dieses die familiäre Betreuungsarbeit zwar nicht honoriert, aber wenigstens würdigt», sagt sie. «Ich habe meinen Kindern Dinge wie Anstand und Pünktlichkeit, Hilfsbereitschaft, Dankbarkeit und Empathie beigebracht. Das sind Werte, die die Gesellschaft braucht. Männer meinen oft, diese Dinge seien einfach da, doch das stimmt nicht, sie müssen vorgelebt werden.» Im neoliberalen Schub der letzten 30 bis 40 Jahre sei das vergessen gegangen.
Von Planta glaubt, dass wir in Zukunft unser Leben in Abschnitte aufteilen, wo mal die Familie, dann wieder der Beruf wichtiger sei und Männer und Frauen verhandeln, wer wann wofür zuständig ist. «Ein Grundeinkommen könnte mehr Ruhe in den Familienalltag bringen», sagt die Grossmutter von sieben Enkelkindern. «Denn Kinder brauchen Geborgenheit, Sicherheit und Räume, wo man nicht immer auf die Uhr schaut, nicht immer unter Druck ist.» Ebenso wichtig sei Orientierung. Kinder müssten angeleitet werden, sich anzupassen, aber auch zu widersprechen. Und sie müssten lernen, dass die Grösseren für das, was die Kleineren noch nicht können, Verantwortung übernehmen.
«Genau das stört mich an der heutigen sogenannten Elite. Sie hat in den letzten Jahren keine Verantwortung übernommen, sondern nur in die eigene Tasche gewirtschaftet, grenzenlosen Wachstum propagiert und damit den Konsum angeheizt und unseren Planeten ruiniert.» Das Grundeinkommen könne eine Veränderung in Gang bringen, ist von Planta überzeugt. «Es gibt uns die Freiheit zu fragen, was will ich eigentlich mit meinem Leben? Mache ich wirklich das, wozu Gott mich geschaffen hat?»
Veronica Bonilla wollte früher Fallschirmspringerin werden. Seit sie den freien Fall bei der Geburt ihrer Kinder erlebt hat, hat sich dieser Wunsch in Luft aufgelöst. Übergänge und Grenzerfahrungen faszinieren sie bis heute. Dabei liebt sie es, um die Ecke zu denken und sich davon überraschen zu lassen, was dort auftaucht. Und stellt immer wieder fest, dass ihr Herz ganz laut für die Kinder schlägt. Sie war bis 2022 auf der Redaktion fest angestellt, seither als Freie für das Magazin tätig.