Epigenetik
Wie die Ahnen uns prägen
Ihre unerklärliche Angst vor Feuer veranlasste unsere Autorin, sich mit Epigenetik zu beschäftigen. Denn seelische Verletzungen können über Generationen vererbt werden. Was sie herausgefunden hat, ist erstaunlich und für sie enorm wichtig.
Bevor ich morgens das Haus verlasse, mache ich jeweils zwei oder drei Rundgänge durch meine Wohnung. Dabei prüfe ich, ob das Bügeleisen im Schlafzimmer ausgesteckt ist, auch wenn ich es kaum je benutze. Ich kontrolliere mehrmals, ob ich den Herd ausgeschaltet habe. Auch wenn ich selten Kerzen anzünde, schaue ich jedes Mal nach, ob keine brennt – aus Angst meine Wohnung könnte in Brand geraten. Ich erinnere mich an eine Panikattacke während einer Wanderung, weil ich mir nicht mehr sicher war, ob ich die Pfanne vom Herd in der Ferienwohnung genommen hatte. Diese Bilder gingen mir nicht aus dem Kopf: Lodernde Flammen, schreiende Menschen, brennende Häuser. Und ich die Schuldige.
Ich würde mich nicht per se als ängstlich, zum Teil sogar eher als mutig bezeichnen – doch in mir schlummern viele Todesängste: Im Flugzeug und der Bergbahn sehe ich jedes Mal den Absturz vor mir, im Auto den tödlichen Unfall, am Meer das Ertrinken meines Kindes oder den Tsunami, der uns alle mitreisst.
Ich selbst habe nie eine solche oder ähnliche Katastrophe erlebt. Warum spüre ich dennoch diese starken Ängste?
Sind die Ängste von den Eltern übernommen?
Ich mache eine Therapie und stosse erstmals auf das Thema der Traumavererbung, ich beginne über die Forschung der Epigenetik zu lesen. Dann schaue ich den Film «I’ll Be Your Mirror» der Künstlerin Johanna Faust: In Gesprächen mit ihrer Mutter erfährt sie von einem Familienmuster und erkennt, warum sie das starke Gefühl verfolgt, ihre Familie verlassen zu wollen. Immer mehr wächst auch in mir die Vermutung, dass ich Traumata von meinen Eltern oder Grosseltern übernommen habe. Ich maile der Filmemacherin in die USA und frage, ob sie die negativen Gefühle auch noch beschäftigten, nachdem sie mit ihrer Mutter darüber gesprochen hatte. Sie schreibt mir zurück: «Sobald ich das familiäre Muster und die Prägung meiner Vorfahren erkannt hatte, konnte ich eine neue Beziehung dazu entwickeln.»
Ich suche das Gespräch mit meiner Mutter.
Meine Mutter: «Ich kenne diese Unruhe, immer auf das Schlimmste gefasst zu sein. Das Gefühl kommt vermutlich aus meiner Kindheit. Ich erfuhr oft Bestrafung, Erniedrigungen oder Beschimpfungen. Ich war deshalb immer auf der Hut.»
Sicherlich gab es in meiner Kindheit einige traumatische Erlebnisse, die mich bis heute prägen. Etwa die dramatische Trennung meiner Eltern, ein schwerer Autounfall meiner Mutter oder die lebensbedrohliche Hirnhautentzündung meines kleinen Bruders. Geprägt hat mich auch die Geburt meines ersten Kindes: Während der letzten Wochen der Schwangerschaft entwickelte ich ein lebensbedrohliches HELLP-Syndrom, weshalb ein Notfallkaiserschnitt nötig wurde. Mehrere Tage schwebte ich in Todesgefahr. Danach litt ich an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die ich durch verschiedene Therapien überwand.
Doch die Todesängste, die ich heute spüre, fühlen sich anders an als die Ängste nach der Geburt oder in meiner Kindheit: Subtiler.
Mutter: «Meine Eltern liessen mich als Baby schreien und meine Schwester und mich schon im Kleinkindalter nächtelang allein.»
Der Begriff «Trauma» stammt vom altgriechischen Wort «Wunde» und wird in der Psychologie als «seelische Verletzung» verstanden. Eine gewalttätige Erziehung, ein schwerer Unfall, eine Vergewaltigung und Missbrauch, aber auch eine schwere Krankheit, Folter und Naturkatastrophen können traumatisch sein und gehen sehr oft mit einem erlebten Kontrollverlust oder Lebensgefahr einher. Nach solchen traumatischen Erlebnissen können neben posttraumatischen Belastungsstörungen auch andere psychische Krankheiten auftreten. Zum Beispiel Angst- und Zwangsstörungen, Depressionen, Suchterkrankungen, Dissoziationen oder gar Psychosen.
Traumata ändern die DNA
Isabelle Mansuy, Professorin am Institut für Hirnforschung der Universität Zürich und an der ETH Zürich, erforscht, wie sich nach traumatischen Erlebnissen das Gehirn, die Organe, aber auch das Erbgut in Spermien und Eizellen verändert. Sie belegte kürzlich anhand von Versuchen mit Mäusen, dass diese Veränderungen sogar bis in die vierte Generation vererbt werden können, aktuell forscht sie an der fünften Generation. Isabelle Mansuy und ich sprechen via Zoom miteinander.
Geduldig und ausführlich erklärt sie mir, dass Traumata im Körper eine Produktion von Stresshormonen auslösen. Dies wiederum bewirke eine Veränderung in der DNA: «Eine hohe Konzentration an Stresshormonen sowie veränderte biochemische Faktoren nach Stresssituationen bewirken sogenannte epigenetische Veränderungen.» Eine dauerhafte Veränderung der Epigenome erfolge vor allem durch schwere traumatische Erlebnisse im Kindesalter, im Mutterleib oder kurz nach der Geburt.
Gene und Erziehungsmuster prägen uns
Auch ich könnte demnach die Traumata meiner Ur-, meiner Grosseltern und meiner Eltern spüren. Sei es durch die Gene oder die Erziehungsmuster, die uns Generation über Generation prägen. Zähle ich ab meinem Urgrossvater, bin ich die vierte Generation. Für ihn, der auf einem Bauernhof aufwuchs, konnte ein Feuer – meine grösste Angst – seine Lebensgrundlage zerstören. Erlebte er als Kind einen Brand? Die Antwort darauf werde ich in meiner Familie nicht mehr finden.
Mutter: «Ich habe Angst, seit ich denken kann. Ich weiss nicht genau, was nach meiner Geburt passiert ist. Sicher ist: Meine Eltern lehnten mich emotional ab. Als Kind hatte ich jeden Abend Panikattacken, die ich in meinem Bett alleine bewältigen musste.»
Der Trauma-Experte Arne Hoffmann hat Tausende Opfer von Terroranschlägen, Kriegsflüchtlinge oder Tsunami-Überlebende therapiert. Und beschreibt in seinen Büchern, dass ein Trauma äusserlich scheinbar abgeheilt sein kann, sich darunter unter Umständen ein schwerer Abszess gebildet hat.
Um Traumata aufzulösen, gibt es die verschiedensten medizinischen und alternativen Therapien. Hoffmann therapierte vor allem mit EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), einer Desensibilisierung und Verarbeitung von Traumata durch Augenbewegungen.
Die Traumatherapeutin Angela von Rotz arbeitet nach dem Psychotraumatologen Peter Levine. Seine Therapieform soll das Empfinden von «hier und jetzt» zu «dort und damals» verändern. Denn die Wahrnehmung der Gegenwart werde oft durch das zurückliegende Trauma verzerrt, was unangemessene Reaktionen – wie in meinem Fall starke Todesängste oder Panikattacken – erzeugen kann. In seinen Therapien geht es vor allem um Körperempfindung und visuelle Wahrnehmung.
Mehr Stresshormone bei den Kindern
Angela von Rotz und ich treffen uns in einem ruhigen Zürcher Café und wählen einen Tisch auf der Aussenterrasse. Sie kommt gerade von einer Tanzgruppe. Sie sagt, dass besonders bei schwer traumatisierten Menschen transgenerationale Traumata eine grosse Rolle spielen; nicht nur genetisch, auch in Bezug auf ihr Verhalten: «Wenn zum Beispiel die Eltern schwer traumatisiert sind, können sie sich nur bedingt auf ein Kind einstimmen und somit herausfinden, was wohl gerade sein Bedürfnis ist.» Sie bestellt sich ein Glas Wasser, dann benennt sie die Folgen: Das Kind produziert ebenfalls vermehrt Stresshormone und entwickelt dadurch unter Umständen neue Probleme.
Der Körper ist involviert
Später schreibe ich mit der Therapeutin, die ihre Praxis im Kanton Solothurn hat, weitere E-Mails. Angela von Rotz schildert: «Ich bin immer wieder beeindruckt davon, wie wir alle eine innere Stimme haben, die weiss, was wir brauchen. Therapien können helfen, diese innere Ressourcen zu aktivieren.» Sie erklärt mir, dass der Körper bei Traumata immer involviert ist und deshalb auch ein Grossteil der Therapie als Körperarbeit stattfindet: «Wenn ich als Kind eine traumatische Situation erlebe, in der ich eigentlich kämpfen oder flüchten wollte, das aber nicht konnte, setzt sich dieses Erlebnis in meinem Körper als eine Art blockierte ‹Energie› fest.» Was so viel bedeutet wie: Unser Nervensystem hat den Schock von damals gespeichert. Erlebe ich später Ähnliches, erinnert sich der Körper und ich fühle mich getriggert, reagiere zum Beispiel ängstlich oder aggressiv.
Mutter: «Als ich mit dir schwanger war, traute mir mein Vater nicht zu, dich zu versorgen. Er schrie mich an, du kämst in ein Kinderheim. Ich war damals in grosser Angst, auch vor den Behörden – 1980 wehte in der Schweiz noch ein anderer Wind. Ich war dadurch grossem Stress ausgesetzt.»
Kriege traumatisieren ganze Generationen
Nicht nur ein Individuum, auch ganze Gesellschaften können ein Trauma erleben – von einem kollektiven Trauma spricht man oft im Zusammenhang mit Krieg – wie etwa jetzt in der Ukraine. Die Vererbung von Traumata ist aber vor allem von Kriegsenkeln des Zweiten Weltkriegs aus Deutschland bekannt: Auch noch die Kinder der Kriegskinder spürten die traumatischen Erlebnisse ihrer Vorfahren.
Die Schweiz blieb von Kriegen in den letzten Jahrzehnten zwar verschont. Doch auch hier litten ganze Generationen unter Bedrohungen – und ihre Nachkommen bis heute unter möglichen vererbten Traumata. Im 19.Jahrhundert etwa herrschte in vielen Teilen der Schweiz grosse Armut. Angst vor Ernteausfällen war vor allem bei den Bauernfamilien allgegenwärtig. Zwischen 1918 und 1920 kam als Bedrohung die Spanische Grippe hinzu: In der Schweiz starben 25000 Menschen, mehrheitlich junge Männer. Zehntausende verloren dadurch ihre Brüder oder Väter.
Hungersnöte, Behördenmissbrauch
Auch die Angst vor Behörden und die Umsetzung von sogenannten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen traumatisierten Zehntausende: Bis in die 1970er-Jahre verdingte man Kinder in Bauernfamilien, wo sie oftmals unter Kälte und Hunger, Missbrauch und Brutalität litten. Heimkinder, Fahrende oder Jenische wurden durch Gerichtsbeschlüsse zu «administrativ Versorgten» gemacht und damit ihrer Freiheit und Selbstbestimmung beraubt. Viele von ihnen wurden gezwungen abzutreiben, sich sterilisieren oder unterbinden zu lassen.
Trauma ist kein Schicksal
So düster das Thema, so hoffnungsvoll stimmen mich dabei die Erkenntnisse von Isabelle Mansuy: «Epigenetische Veränderungen müssen kein Schicksal bleiben», erklärt mir die Wissenschaftlerin in unserem Zoom-Meeting weiter. Sie wirkt voller Zuversicht: «Die Forschung an den Mäusen hat gezeigt, dass die Auswirkungen von Traumata durch eine positive Umgebung abgeschwächt und die Weitergabe sogar unterbrochen werden kann.» Eine positive Umgebung übertragen auf den Menschen heisse etwa, eine liebevolle, vertrauensvolle Erziehung oder eine kindgerechte Umgebung zu erhalten, Sport zu machen, gesund zu Essen.
Viel Nähe und Liebe
Genau das hat meine Mutter versucht: Eine Umgebung für mich zu schaffen, die besser ist als diejenige, die sie selbst erdulden musste. Sie gab mir Nähe und Liebe, liess mich nicht schreien. Zwar trage ich noch immer viele Ängste in mir und nicht alles lief so, wie sie oder ich es mir für meine Kindheit wünschten – doch sie hat es geschafft, dass wir reden, ich Vertrauen in mich und das Leben habe. Viel mehr, als sie es vermutlich je konnte.
Ob ich die Vererbung der Ängste für meine Kinder ganz unterbrechen kann?
Therapeutin Angela von Rotz schildert, warum es für die gesamte Gesellschaft wichtig ist, sich mit Traumata auseinanderzusetzen: «Wenn wir Trauma verstehen, wird uns klarer, warum Menschen so sind, wie sie sind oder eben so handeln, wie sie handeln. Dadurch verstehe ich mein Gegenüber besser, aber auch mich selbst.» Auch auf die Erziehung habe Traumaarbeit einen wichtigen Einfluss: «Dadurch kann ich zum Beispiel besser nachvollziehen, wenn mein Kind anders handelt, als ich es erwartet hätte.» Und sie fügt an: «Das Verständnis rund um Trauma lässt uns in eine zutiefst menschenfreundliche Haltung hineinwachsen und macht uns empathischer.»
Jahrelange Leidensgeschichte endlich lösen
Zum Schluss unseres Gesprächs spricht die Epigenetikerin Isabelle Mansuy über die Beweggründe für ihre Forschungsarbeit: «Menschen haben zum Teil jahrelange Leidensgeschichten, versuchen sich mit Therapien und Medikamenten zu helfen und trotzdem stossen sie immer wieder auf Fragezeichen. Die Epigenetik kann helfen, zu verstehen, dass es nicht nur einen bestimmten Grund, sondern viele verschiedene Faktoren gibt, die jemanden zu dem Menschen machen, der er ist.» Und sie fügt an: «Das kann dabei helfen, Muster aufzulösen, anstatt die Schuld – etwa für eine Depression – bei sich zu suchen.»
Mutter: «Schon meine Eltern hatten traumatische Kindheiten, ihre Grosseltern auch. Ich bin stolz, dass ich mithilfe einer Therapie beginnen konnte, ein Muster zu durchbrechen. Ich hoffe, du hast dadurch schon weniger Ängste als ich und kannst es mit deinen Kindern nochmals besser machen.»
Durch die Gespräche mit meiner Mutter werde ich versöhnlicher. Mit ihr, aber auch mit mir und meinen Ängsten. Ich spüre, wie die Ängste täglich weniger werden, wie ich es mehr und mehr schaffe, aus dem Haus zu gehen ohne das Feuer vor Augen zu sehen.
Marah Rikli ist freie Autorin, Moderatorin, ehemalige Buchhändlerin und aktive Speakerin für Diversität und Inklusion. Sie lebt mit ihrer Patchworkfamilie in Zürich. Und lancierte kürzlich ihren eignen Podcast Podcast Sara & Marah im Gespräch mit…