Baby
Wie Babys essen lernen
Kleine grosse Momente sind im Leben von Eltern so zahlreich wie Plüschtiere im Spielzeugladen. Einer ist, wenn das Kind zum allerersten Mal etwas anderes zu sich nimmt als Milch, dieses «andere» neugierig, vorsichtig oder kritisch mümmelt, kaut, schluckt – oder sofort wieder ausspuckt. Und langsam vom Säugling wird zum … was eigentlich? Kauling? Essling? Einfach nur Kleinkind?
In den 1960er-Jahren startete ein Kind seine Ess-Karriere im Alter von vier Monaten mit einem Löffelchen Orangensaft. 30 Jahre später verabreichten Eltern zuerst salzlosen, fein pürierten Rüebli-Kartoffelbrei, aber keinesfalls vor Ende des sechsten Monats; die Angst vor Allergien liess Eltern ihre Babys oftmals länger vom gedeckten Tisch fernhalten als es sich Letztere wünschten. Heute ist alles wieder anders. Zeit also, die Mythen um den Babybrei und das erste Zufüttern zu enttarnen.
Mythos 1 - Beikost nicht vor sechs Monaten
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vertritt diesen Grundsatz bis heute. «Sechs Monate sind ein guter Richtwert», sagt Gabi Eugster, Ernährungswissenschaftlerin und Autorin des Buches «Babyernährung gesund & richtig». Doch: «Babys signalisieren selbst, wann sie essen möchten. Und einige tun dies früher.» Sie rudern zum Beispiel mit den Armen, greifen nach elterlichem Essen oder verschlingen dieses geradezu mit den Augen. Dann sei es in Ordnung, ab vier Monaten mit der Beikost zu beginnen, sagt Eugster: «Niemand wundert sich, wenn ein Kind mit neun und ein anderes mit 14 Monaten gehen kann. Dass Kinder sich unterschiedlich entwickeln, gilt auch beim Essen.» Die ersten vier Monate sollten Babys allerdings keine Beikost erhalten; der unreife Darm wäre damit überfordert.
Mythos 2 - Beikost ist Breikost
Der Gemüsebrei wird mit Liebe gekocht und extra fein püriert. Und nun dies: Der Säugling verschmäht die Kost. «Zwar gibt es ausgesprochene Brei-Liebhaber. Genauso gibt es aber Kinder, die keinen Brei mögen», sagt Eugster. Wird der Brei verweigert oder stets nur wenig davon gegessen, dürfen Eltern es auch mit einer Reiswaffel probieren. Viele Kinder schieben sich nämlich am liebsten selbst etwas in den Mund. Dieser Tatsache trägt auch das «Baby Led Weaning» Rechnung: Eine Methode der Beikosteinführung, bei der das Kind mehr oder weniger selber entscheidet, was es essen möchte. Die Sorge, dass es sich an festerer Nahrung verschlucken könnte, liegt nahe. Rohe Rüebli etwa sind ungeeignet. «Reiswaffeln oder weichgekochte Nudeln und Gemüse treffen die Fähigkeiten und den Geschmack der kleinen Esser oft hervorragend», weiss Eugster. Weiterer Vorteil: Der Kochaufwand fällt deutlich geringer aus.
Mythos 3 - Beikost heisst füttern
Wenn die Beikost aus Brei besteht, kommen die Eltern kaum ums Füttern mit dem Löffel herum. Oft wird also zuerst der Säugling verpflegt, bevor der Rest der Familie isst. Erhält das Kind Fingerfood, kann es bei der Mahlzeit der Grossen dabei sein. Für das Baby ist es ein tolles Erlebnis, nach weich gekochten Nudeln zu greifen. Solches «Knabberessen» kann – wie beim «Baby Led Weaning» – schon früh einsetzen, ist ab sieben bis neun Monaten fast schon ein «Muss». Nicht vergessen: Auch Brei-Fans essen mit zunehmendem Alter gerne mal selbst.
Verbotene Lebensmittel
Die folgenden Nahrungsmittel sollte das Baby bis zu seinem ersten Geburtstag nicht essen:
- Quark enthält zu viel Eiweiss und belastet dadurch die kindlichen Nieren.
- Eier und Rohmilch sollten wegen der Salmonellengefahr gemieden werden.
- Salate können Babys noch nicht kauen.
- Hülsenfrüchte führen oft zu Blähungen.
- Kaltgepresste Öle können die Leber zu stark belasten.
- Honig kann sogenannte Botulismussporen enthalten, die im unreifen Darm des Babys auskeimen und zu Vergiftungen führen können.
- Salz belastet die kindlichen Nieren. Allerdings sind ganz geringe Mengen, z. B. an in Salzwasser gekochten Nudeln, für ein Baby von mindestens acht Monaten unbedenklich.
- Ganze Nüsse, insbesondere Erdnüsse, sollte ein Kind wegen der Erstickungsgefahr erst ab drei Jahren essen.
Mythos 4 - Allergene Nahrungsmittel möglichst lange meiden
Früher hiess es, allergene Lebensmittel seien bei allergiegefährdeten Kindern für eine gewisse Zeit zu meiden. «Dieser Grundsatz wird heute infrage gestellt», so Eugster. Es gibt Hinweise darauf, dass die Einführung von allergenen Lebensmitteln im Alter zwischen vier und sechs Monaten die Toleranz fördern, Allergien also gar vorbeugen können. Darauf weist auch die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung hin, welche zusammen mit der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie im 2011 ein Merkblatt zur Einführung der Lebensmittel beim Säugling erstellte: «Die spätere Einführung von bestimmten Lebensmitteln, wie beispielsweise Fisch, Eier oder Nüssen, erst nach mehreren Monaten oder sogar erst im zweiten oder dritten Lebensjahr kann einer Allergie nicht vorbeugen.» Nüsse dürfen allerdings wegen der Aspirationsgefahr nicht gegeben werden.
Einen Ratschlag hält Eugster nach wie vor für wichtig: «Wenn ein neues Nahrungsmittel eingeführt wird, sollte drei bis vier Tage nichts anderes folgen. So wird schneller klar, was das Baby allenfalls nicht verträgt.»
Mythos 5 - Zufüttern heisst Abstillen
Wenn zugefüttert wird, heisst das nicht automatisch, dass abgestillt werden muss. Beikost und Stillen gehen gemäss Eugster sehr gut zusammen. Es habe gar Vorteile, wenn noch weiter gestillt werde, denn dadurch könne das Risiko für Unverträglichkeiten teilweise gesenkt werden. So gibt es Studien, die darauf hinweisen, dass ein kleineres Risiko für Zöliakie, eine Getreideunverträglichkeit, besteht, wenn bei der Einführung von Getreide noch gestillt wird.
Mythos 6 - Breimahlzeit ersetzt Stillmahlzeit
Es gibt Kinder, die nach vier Löffeln Brei genug haben und danach noch gestillt werden wollen. Andere Babys essen keinen Brei, wenn sie hungrig sind. Auch sie dürfen laut Eugster vor der Breifütterung gestillt werden. Natürlich dauert es so länger, bis eine Stillmahlzeit vollständig ersetzt werden kann. «Stimmt dies auch für die Mutter, kann es harmonischer sein, das Stillen bis zum ersten Geburtstag langsam weniger werden zu lassen», so Eugster. «Auch Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit wieder aufnehmen, können noch morgens und abends stillen.»
Wird das Kind abgestillt, bevor es einjährig ist, sollte auf Formula-Milch gewechselt werden. Kuhmilch dürfen Babys erst nach dem ersten Geburtstag trinken. Allerdings sei auch davor nicht jedes Tröpfchen oder jedes Produkt aus Kuhmilch schädlich: «Kleine Käsemöckli zum Beispiel stellen kein Problem dar.»
Mythos 7 - Zuerst Rüebli, dann ...
Welcher Brei einem Baby beim ersten Mal vorgesetzt wird, ist kulturell bedingt. In der Schweiz ist es der Rüeblibrei, und lange galt die Regel «Gemüse vor Früchten». Muss alles nicht mehr sein. Erlaubt ist Kürbis in der Kürbissaison, Bananen, weil sie sich gut zerdrücken und praktisch mitnehmen lassen. In den USA erhalten Babys oft Avocado gemischt mit Kartoffeln. «Vergleicht man die Richtlinien verschiedener Länder sieht man schnell, welche Empfehlungen auf kulturellen Begebenheiten beruhen und welche auf medizinischen Tatsachen», sagt Eugster.
Gesicherte Regeln für die Beikosteinführung gibt es also wenige. Abgesehen von der Einhaltung der «Verbote» (siehe Box) empfiehlt Eugster vor allem etwas: «Auf den eigenen Instinkt und den des Kindes zu hören und beiden mit Selbstvertrauen zu folgen.»