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Wenn ich gross bin, werde ich…
«Papa, in meiner Klasse wollen alle Youtuber werden, was ist das eigentlich?» fragt mich meine neunjährige Tochter und schaut mich interessiert an.
Oha, das wird nicht einfach. Auf der Habenseite steht, dass sie wirklich keine Ahnung hat, nicht versucht Bücher umzublättern, indem sie mit dem Zeigefinger über die Seiten wischt, und sich immer noch liebend gern die Sendung mit der Maus anguckt.
Youtuber sein zu wollen, gehört definitiv nicht zu meiner Generation. Gut, es gibt Ausnahmen, wie den inzwischen schon legendären Horst Lüning, der auf einem Videoportal, auf dem andere Leute Schminktipps erteilen, neue Gerätschaften «unboxen» oder sich dabei filmen, wie sie bei spannenden Videospielen ausflippen, in völlig entspannter Art und Weise Whisky verkostet und damit tatsächlich viele Menschen erreicht. Aber die meisten Menschen über 30 haben, selbst wenn sie über den Wissensstand und die Selbstverständlichkeit von Digital Natives verfügen, kaum Interesse daran, sich auf solchen Plattformen darzustellen. Die meisten Menschen haben sich in diesem Alter entweder von ihrem Traum, entdeckt zu werden, verabschiedet, oder sie hatten ihn niemals. Denn genau darum geht es bei Youtubern. Junge Menschen nutzen ein Medium, um bekannt zu werden – unabhängig davon, um was genau es sich dabei handelt. Und so erzähle ich es auch meiner Tochter, die mir staunend zuhört, als ich ihr eröffne, wie viele Berufsgruppen (und ich kenne nicht mal alle) an der Produktion eines Kinofilms mitwirken: Regisseurin, Techniker, Kostümbildner, Cutterin, Kulissenbauer, Tontechnikerin, Casting- und Cateringmenschen und viele mehr.
«Und was wollen die Kinder in deiner Klasse ausser Youtubern werden» frage ich sie, weil ich die Antwort zu kennen glaube.
«Schauspieler» entgegnet meine Tochter (YES!!!).
«Genau!» stimme ich zu. «Oder Model oder Sänger.»
Jetzt hab ich sie zum Glück auf dem Level meiner Generation. Wie gesagt: Mit Youtubern beschäftige ich mich so gut wie nie, aber der Wunsch nach Ruhm und Anerkennung hat in meiner Alterskohorte in den Alltag Einzug gehalten. Mit dem kenne ich mich aus. Vorher waren Stars unerreichbare Kunstfiguren, die irgendetwas Besonderes konnten oder taten. Mit uns begann das Zeitalter der Götterdämmerung. Jedes schiefe Nasenhaar von Prominenten wurde ab da von Paparazzi fotografiert und anschliessend im Internet kommentiert. Vorher gab es Homestories in Frauenzeitschriften. Heute zücken die Leute ihr Smartphone, wenn die bekannte Person, die im Restaurant neben ihnen sitzt, auch nur die Stimme hebt – könnte ja was passieren. Zusätzlich hielten auch noch die rechte und die linke Hand des Teufels Einzug in die Lebenswirklichkeit meiner Generation: Hartz 4 und Castingshows. Fast noch wichtiger war allerdings die gebetsmühlenartige Zurschaustellung der angeblichen Leere dazwischen. Plötzlich existierten in der öffentlichen Wahrnehmung keine Ausbildungsberufe mehr. Keine Laborassistenten, keine Steuerfachangestellte, kein Zimmermann. Es gab nur noch die absolute Bedeutungslosigkeit (ausser Freunden und Verwandten kennt einen niemand) oder grenzenlose Anerkennung (entdeckt werden). Meine Generation ist die Generation Schrägstrich: Schauspielerin/Model/Sängerin/Designerin. Die Generation, in der die Berufsbezeichnung «Was mit Medien» entstanden ist. Youtuber treiben das nur auf die Spitze. Sie sind nicht mehr auf die Gnade von Dieter Bohlen oder Heidi Klum angewiesen sondern nur noch auf die der Zuschauer. Sie müssen sich nicht länger von Mittelspersonen protegieren lassen, sondern werden direkt vom Publikum entdeckt. Alles was sie brauchen, sind Klicks, Likes und Retweets. Wenn die stimmen, klingelt die Kasse.
Das grundliegende Anliegen hat sich also nicht verändert. Es geht um Bühnenpräsenz, Erfolg und vor allem den alten Traum, mit wenig Arbeit so viel Geld zu verdienen, dass man das Leben in vollen Zügen geniessen kann. Dass das in den seltensten Fällen wenig Arbeit ist und noch seltener überhaupt zum Leben reicht, spielt dabei kaum eine Rolle. Get Rich or Die Tryin‘.
Und während ich so mit meiner Tochter rede, merke ich, wie sehr ich mir wünsche, dass sie ihre Zeit nicht damit verschwendet, Dinge zu tun, um entdeckt zu werden, sondern stattdessen herausfindet, womit sie sich gerne beschäftigen würde. Physik oder Tierpflege. Kampfsport oder Landwirtschaft. Ich merke allerdings auch, wie wenig Einfluss ich darauf habe. «Machtlosigkeit als elterliches Gefühl und wie man damit umgeht?» - dazu gibt es doch bestimmt ein Youtube Tutorial.
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Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.