Empty Nest Syndrome
Wenn die Kinder ausziehen
Sind die Kinder klein, verschwendet man keinen Gedanken an deren Auszug. Und plötzlich ist das letzte Kind weg, und Nest und Seele bleiben leer zurück. Was hilft? Und was kommt nun auf die zurückgelassenen Eltern zu?
Unser Sohn zieht morgen aus. Und endlich werde ich die hässlichen Coupe-Gläser los. Die beiden wulstigen Kelche, die er an einem Sportanlass in seiner Kindheit gewonnen hat, standen jahrelang ungenutzt im Schrank. Bei jeder Nachfrage, ob ich die unliebsamen Gefässe mit dem Altglas entsorgen, oder wenigstens dem Brockenhaus übergeben könne, winkte er entschieden ab.
So lege ich die Gläser – mit leiser Häme – in die Bananenschachtel mit den Dingen, die er aus unserem Haushalt in die neue WG mitnehmen kann: Badetücher, die bald nicht mehr bei uns herumfeuchten und auf den Pilzbefall warten. Duvets und Leintücher, für deren Wäsche er künftig selbst in die Waschküche hinuntersteigen muss. Kochkellen, die er für seine Wohnkumpels rührt. Hoffentlich. Zuhause kochte Mama.
Nach 28 Jahren Zusammenleben mit Kindern winkt ab morgen die Freiheit. Die Mamarolle fliegt über Bord und ich hebe ab.
So malte ich mir das aus.
Das Ende der Familienzeit
Doch während ich jetzt die Bananenkiste fülle, fällt die Häme, mit der ich mich vom «Hotel Mama»-Gefühl befreien wollte, von mir ab und es beschleicht mich Wehmut. Der Kopf sagt zwar: «Hej, du hast zwei Kinder behütet aufgezogen und sie als gesunde junge Menschen in die Welt hinaus entlassen – gut gemacht!» Doch die Gefühle im Bauch lassen sich nicht abwatschen mit zweckoptimistischem Eigenlob.
Während über der Hälfte meiner bisherigen Lebenszeit umsorgte ich in erster Linie andere. Ich wickelte, fütterte, schmuste, tröstete, eilte zum Kinderarzt, ins Kinderspital, putzte, hörte zu, zog bei geringster Bedrohung meiner beiden Kinder den Säbel, kämpfte für sie, gab kluge und genug oft nutzlose Ratschläge. Nun ist die Familienzeit vorbei. Endgültig.
Erst Mitte 20 aus dem «Hotel Mama»
Statistisch verabschieden sich die jungen Menschen heutzutage später von ihrem Elternhaus als früher. 1970 flogen sie durchschnittlich mit 21 Jahren aus, heute zieht es die Mädchen mit Anfang 24 fort, die Jungs mit 25 Jahren.
Der Grund für diese Verschiebung ist Generationenforschern* innen und Soziolog* innen zufolge, dass die jungen Erwachsenen heute ein viel harmonischeres Verhältnis zu ihren Eltern haben als frühere Generationen. Ihre Werte und Normen sind jenen der Eltern ähnlicher, die Jugend muss sich nicht mehr mit Vehemenz losstrampeln von ihrer Herkunftsfamilie wie noch in den 1970er- und 1980er-Jahren.
Unser Sohn gehört mit seinen knapp 24 Jahren also zu den Frühausfliegern. Und ab morgen wird sein Zimmer leer sein. Schon länger durchkämme ich deshalb mein Gehirn nach Optionen, wie der verlassene Raum sich wieder füllen lässt: Vielleicht einen Obdachlosen aufnehmen? Mein Mann verdreht die Augen. An eine Studentin oder einen Studenten untervermieten? Als warteten junge Leute darauf, ein Zimmer bei einem «älteren Paar» zu ergattern. Zum Gästezimmer umfunktionieren? Vielleicht.
Suche nach neuen Beschäftigungen
Gedanklich versuche ich nicht nur das bald leere Zimmer, sondern auch das zeitliche Vakuum zu füllen. Andere kümmern sich in dieser Ausflugsphase intensiver um ihre gebrechlichen Eltern – meine sind schon tot. Oder soll ich wieder Klavier spielen, wie früher, lange vor der Kinderzeit? Uns würde womöglich wegen Lärmbelästigung die Wohnung gekündigt. Das Arbeitspensum aufstocken? Chinesisch lernen? Einen Bikram-Yogakurs besuchen?
Je verbissener ich nach Sinnstiftung suche, desto verlorener fühle ich mich. «Ist das alles nur potenzielle Beschäftigungstherapie?» Mit dieser Frage sitze ich jetzt bei Veronika Roth in ihrer Altbaupraxis in Zürich. Laut der Psychotherapeutin, die häufig mit Familien arbeitet, darf ich gerne alles ausprobieren.
Aber um den Abschied und die unter Umständen heftigen Gefühle komme niemand herum, sagt sie. «Nichts hilft über die vom Leben verlangte Ablösung hinweg – gut, wer sich das eingesteht.» Eine Lebensphase ist vorüber, das tut weh. «In jedem Menschenleben wird es Herbst, das ist mit Trauer und Wut verbunden.»
So fällt meine Mutterrolle nun also ab wie ein welkes Blatt. Wer bin ich jetzt?
Tröstlich ist es, nicht die einzige zu sein mit Abschiedsschmerz. Wir sind viele. So viele, dass in den 60er-Jahren in den USA eigens der Begriff «Empty Nest Syndrome» (ENS) geschöpft wurde und Eingang gefunden hat ins ICD 10 – «Internationale Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation».
Pillen für Mütter in der Identitätskrise
Eine Anerkennung des Leidens – aber auch eine Goldgrube für die Pharmaindustrie. Denn viele Frauen, die ganz aufgingen in ihrer Rolle als Mutter und Hausfrau, rutschten beim Wegzug ihrer Kinder in eine tiefe Identitätskrise.
Und so erhielt das damals neu auf den Markt geworfene Valium zusätzlich eine lukrative Zielgruppe. Die Pharma empfahl es Müttern – nicht aber Vätern – wärmstens gegen das Verlassenheitsgefühl. Von den Rolling Stones wurde die Beruhigungspille gar als «Mother’s Little Helper» besungen.
Das «Empty Nest Syndrome» ist keine Krankheit
Heute ist das «Empty Nest Syndrome» noch immer Bestandteil des ICD 10, aber nicht mehr als eigenständige Krankheit, sondern in der Kategorie «Anpassungsprobleme an eine Übergangsphase im Lebenszyklus», wie etwa die Pensionierung.
Und verlassenen Müttern werden keine Glücksmacher mehr angedreht. Wir haben diese auch nicht mehr nötig, denn die Rollenbilder haben sich gewandelt. Manche Mama ist heutzutage berufstätig, verfolgt ihre eigene Karriere und identifiziert sich nicht mehr ausschliesslich mit dem Muttersein. Das erleichtert das Loslassen der Kinder.
Umgekehrt bräuchte vielleicht der eine oder andere Papa heute «Father’s little Helper» beim Auszug des letzten Kindes. Denn auch die Vaterrolle hat sich verändert. Mein Mann lebte diese vor allem auch in den letzten Jahren aus. Bis heute gucken Vater und Sohn in inniger Verbrüderung Fussballmatches; nicht selten höre ich die beiden von lautem Gelächter begleitet im Wohnzimmer raufen oder während des Schachspielens fluchen.
Es wird still werden. Auch für meinen Mann. Und ja, auch er leidet. Vielleicht noch mehr als ich, weil es ihn irgendwie kalt erwischt. Bei mir gehörte es berufsbedingt dazu, mich mit dem Aufwachsen und Ablösen der Kinder auseinanderzusetzen. Mein Mann windelte, spielte, schimpfte und lachte mit den Kindern genauso wie ich. Über Phänomene wie das Empty Nest Syndrome aber dachte er im Vorfeld nie nach.
Auch er ist traurig. Und weil wir beide traurig sind, so hoffen wir, schweisst uns der Verlust der Elternrolle zusammen.
Scheidung beim Auszug des letzten Kindes?
Denn nach dem Wegzug der Jüngsten brechen Ehen häufiger auseinander als in den Jahren zuvor, warnen einschlägige Quellen.
Plötzlich schweigt man sich in der Zweisamkeit an und merkt: Beide gingen zwar auf in der Vater-, respektive Mutterrolle. Doch die Identität als Paar blieb irgendwo zwischen Pampers, Putzen und Pubertätsgeknatsche liegen.
Die Familientherapeutin Veronika Roth legt Eltern deshalb nahe, sich von Anfang an auch als Paar und als Individuen Zeit zur Weiterentwicklung zu nehmen. Damit verändert sich zwar die Dynamik im Verlaufe der Familienzeit immer wieder. «Aber wenn Paare lernen, wie bei einem Tanz den wechselnden Rhythmus miteinander zu akzeptieren, werden sie auch nach dem Auszug der Kinder miteinander weitertanzen – einfach wieder etwas anders.»
Statistisch – ich atme auf – lässt sich eine höhere Scheidungsrate nach der Familienzeit nicht erhärten. Am häufigsten lassen sich Eltern scheiden, wenn die Kinder zwischen 5 und 14 Jahre alt sind.
Mein Mann und ich sind zuversichtlich.
Sich mit anderen Eltern austauschen
Ein Rezept zur Vorbereitung auf den Auszugstag gibt es nicht. Aber es hilft, mit Müttern und Vätern zu reden, die gleichfalls mit der Trauer um die ausfliegenden Kinder ringen. Die den Seelenschmerz verstehen, wenn man davon erzählt, wie ein Teil des Lebenssinns endgültig wegzudriften scheint.
Klar, wir mussten unsere Kinder Jahr für Jahr ein bisschen mehr hergeben. In manchen Momenten fiel es leichter – dann etwa, wenn die kleinen Monster an unserem Schlaf nagten, bis wir wie Zombies durch den Tag schlichen. Oder wenn das Chaos nicht aufhörte, seine Spuren aus dem Kinderzimmer durch die Wohnung zu ziehen. Oder später, wenn das Bad chronisch blockiert, das kindliche Gehirn im pubertären Umbau war. Dann erreichten unsere Stossgebete den Himmel: «Wann hört das endlich auf!?»
Und wenn es aufhört, fehlt plötzlich doch ganz viel: Es fehlt das dichte Gefüge an Lebendigkeit und Austausch, das bunte Gemälde eines Familienalltags, an dem Tag für Tag gepinselt, getupft, gewerkelt wird. Meist fürsorglich, bemüht, engagiert, oft genug übermüdet, chaotisch, verzweifelt.
Tränen am letzten Morgen
Dann ist er da, der Abschiedsmorgen. Ich wecke unseren Sohn zum letzten Mal in seinem Zimmer. Nicht, dass ich ihn in den vergangenen Jahren morgens hätte wecken müssen, dazu nutzte er sein Handy. Gestern aber fragte er mich für den Weckdienst, falls er verschlafen würde.
Ein Wink, so rede ich mir ein, dass er doch noch ein bisschen «unser Kind» bleiben will. Aber er ist längst erwachsen, längst selbstständig, längst kein Küken mehr, das man aus dem Nest stossen muss. Im Gegenteil: Seit Jahren ein Adler, der sein eigenes Leben segelnd erkundet und ortet. Trotzdem: Irgendwo in ihm möchte ich ein klitzekleines Vögelchen sehen, das immer unser Junge bleibt.
Ein letztes Mal das gemeinsame Frühstück auftischen: Drei Teller, drei Messer, drei Kaffeetassen. Ab morgen sind es nur noch zwei.
«Nicht weinen!» sage ich mir. Nicht vor unserem Sohn! Denn er freut sich auf seine erste WG, auf Spielabende und Absturznächte, ohne Kontrollinstanz im Rücken. Und was gibt es Cooleres, als seine Kids erfolgreich durch die Kindheit manövriert zu haben und sie aus dem Nest fliegen zu sehen? So will ich ihn grossherzig und beherrscht ziehen lassen. Ohne kleinliches Geheul.
Doch der Appell in meinem Kopf bleibt ungehört. Angesichts der gepackten Kisten und Papiertragtaschen, angesichts des gemieteten Kleintransporters unten im Hof rollen die Tränen über meine Wangen, und es drängen unkontrollierte Schluchzer aus meiner Kehle.
Unser Sohn umarmt mich tröstend. Der Abschied ist da.
Machs gut!
Übrigens: Die Coupe-Gläser habe ich der Bananenkiste wieder entnommen. Sie stehen nun gut sichtbar im Gläserschrank.