Trauer
Wenn das eigene Kind erstickt: «Die Zeit heilt nichts.»
Wenn das eigene Kind erstickt. Zwei Familien erzählen, wie sie nach dem Tod ihres Kindes weiterleben, was ihnen geholfen hat und warum darüber reden so wichtig ist.
Stirbt ein Kind, steht die Welt still. Urs und Stephanie Stadelmann aus Bütschwil (SG) und Corina und Christian Omlin aus Appenzell haben uns eingeladen, um über den Tod ihrer Kinder, die Trauer und dem Weiterleben zu sprechen. Bei den Gesprächen flossen Tränen, aber es wurde auch herzlich gelacht. Und beide Elternpaare sagten am Schluss, wie schön es gewesen sei, über das, was geschehen ist, zu reden.
«Ich bin stolz auf uns»
Am frühen Abend des 11. Oktober 2018 erstickte Alia (2) an einem Luftballon. Ihre Mutter Stephanie Stadelmann war allein Zuhause mit Alia und Malea (4). Sie versuchte, mit telefonischer Unterstützung eines Mannes der Notrufzentrale, Alia zu reanimieren. Doch selbst das Team der Rettungsambulanz, das nach 12 Minuten eintraf, schaffte es nicht. Wie sich später herausstellte, war der Ballon so unglücklich im Hals steckengeblieben, dass eine Rettung unmöglich war. Alia hatte keine Chance.
Stephanie Stadelmann (38), Fachangestellte Betreuung Behinderte:
«Hätte ich gewusst, dass ich Alia nicht retten kann, ich hätte sie einfach in den Arm genommen. So aber kämpfte ich um ihr Leben. Leider war Malea die ganze Zeit dabei. Das hat auch bei ihr tiefe Spuren hinterlassen.»
Urs Stadelmann (36), Mitinhaber Swiss-Cheese-Factory: «Normalerweise bin ich um diese Zeit zuhause, aber ausgerechnet an diesem Abend war ich nicht da. Ich war nicht da, um Stephi zu unterstützen, nicht da für Malea und nicht, als Alia ging. Das ist so mein Thema, das beschäftigt mich. Ich habe Alia noch in den Armen gehalten, mich von ihr verabschiedet. Aber da war sie schon tot. Die harten Bilder, die musste ich nicht sehen. Ich besuchte Alia auch nicht, als sie aufgebahrt war. Ich wollte mir die Bilder bewahren von dem Mädchen, das sie war.»
Stephanie: «Urs und ich haben uns zum Glück nie gegenseitig Vorwürfe gemacht. Andernfalls wären wir heute nicht mehr zusammen, denn dann würde ich in seinem Blick immer diesen Vorwurf sehen, selbst wenn es gar nicht so wäre.»
Urs: «Wir hatten denselben Schmerz, aber wir trauerten unterschiedlich. Ich musste für mich Raum schaffen, ging unter die Leute, musste vorwärts gehen. Ich hatte meine Momente, in denen ich bewusst bremste und trauerte. Aber ich suchte den Alltag, ging wieder arbeiten. Ich habe gute Freunde und meine Familie, mit ihnen konnte ich reden. Aber irgendwann kommst du an einen Punkt, da willst du nicht mehr, dass es immer Thema ist. Irgendwann konnte ich es nicht mehr ertragen.»
Stephanie: «Ich war ganz unten. Total am Boden. Ich hatte riesige Schuldgefühle, befand mich in einer Schockstarre. Ich war nur noch zuhause, um Alia nahe zu sein. Doch ich wusste, du musst jetzt da rein, ganz tief in diese Wunde, du musst dich dem stellen. Sonst kommt das nicht gut. Ich begann, alles aufzuschreiben und ich ging mehr als ein Jahr zu einer Psychologin. Es war ein langer Prozess. Urs kam ein paar Mal mit zur Therapeutin, auch wenn es ihm widerstrebte.»
Urs: «Ja, ich ging nicht gerne hin. Du haust natürlich dann wieder voll ins Thema rein, wenn du vielleicht gar nicht bereit bist dazu. Aber ich muss sagen, es war gut, nur schon, damit ich erfuhr, wie es Stephi geht.»
Stephanie: «Malea war auch in Therapie. Es ging ihr zeitweise sehr schlecht. Die Psychologin erklärte, in Maleas Alter seien Eltern magisch, Superhelden, die alles können. Malea hatte aber erlebt, dass ich ihre Schwester nicht retten konnte. Ihr Vertrauen in mich und ins Leben waren erschüttert. Und sie hatte ihre beste Freundin verloren.»
Urs: «Wir schafften uns Bali an, einen Kater, um Malea bei der Verarbeitung ihres Traumas zu unterstützen. Er brachte ihr Freude und hat ihr geholfen, am Morgen in den Kindergarten zu gehen, indem er sie jeweils ein Stück begleitete. Bali kam zur genau richtigen Zeit zu uns. Meine Angst ist schon, wie Malea in Zukunft mit dem Erlebten umgeht. Ich hoffe, dass sie es packt, wenn sie älter ist. Aber sie macht das wirklich prima.»
Stephanie: «Was ich als besonders hart empfunden habe war, dass mich die Leute mieden. Ich hätte mir gewünscht, sie würden mich ansprechen, ich hätte gerne über das, was passiert war, gesprochen und über Alia, wie sie war. Im Sommer 2019 wurde ich schwanger. Wir wollten beide ein Kind, aber es war zu früh. Ich hatte Panik, dass das Baby den Platz von Alia einnimmt. Als Kiana dann zur Welt kam, sah sie ganz anders aus als Alia. Ich war unglaublich erleichtert. Kiana tut uns unheimlich gut. Wir sind noch einmal einen Schritt weitergekommen. Für mich ist sie wie eine Sonne, die aufgegangen ist.»
Urs: «Mittlerweile sieht Kiana fast identisch aus wie Alia. Auch von der Art her ist sie ihr ähnlich. Das ist krass. Aber ich sehe in ihr nicht Alia, sondern Kiana, die so viel Herziges von ihrer Schwester hat. Alia war mir sehr nahe, das finde ich jetzt in Kiana wieder. Das ist total schön.»
Stephanie: «Mit den Aufzeichnungen konnte ich vieles verarbeiten. Daraus ist ein Buch entstanden. Ich habe es Malea gewidmet, damit sie es später lesen kann. Denn unsere Erinnerungen werden verblassen. Ich hoffe, dass ich mit dem Buch Menschen erreiche, die ähnliches erlebt haben. Dann ist Alias Tod nicht mehr ganz so sinnlos.»
Urs: «Die Zeit heilt nichts, die Narben bleiben. Aber ich bin stolz auf uns, wie wir es geschafft haben, weiterzugehen. Ich fühle mich heute stärker. Mir ist das Schlimmste passiert, was passieren konnte. Egal was kommt, es kann mich nicht mehr umhauen. Wir haben für Alia eine Japanische Zierkirsche gepflanzt. Wenn wir mal 80 Jahre und noch hier sind, werden wir unter diesem Baum sitzen, in Gedanken bei unserem Mädchen. Der Baum wird riesengross sein und stark. Und er wird wunderschön blühen. So stelle ich mir das vor.»
Das Buch «Ich hätte mein Leben gegeben, um deines zu retten» ist erhältlich unter: alia-geschichte.ch
«Rituale sind total wichtig»
Am 29. Dezember 2021 schluckte Thierry (17 Monate) in einem Restaurant ein Stück Wienerli, welches so unglücklich im Hals steckenblieb, dass er trotz sofortiger Reanimationsmassnahmen durch Personal und Ärzte und der Einweisung ins Spital nicht überlebte. 26 Stunden nach dem Unfall wurde Thierry für hirntot erklärt.
Christian Omlin (37), Verkehrsplaner: «Nach der Diagnose mussten wir schnell entscheiden, ob wir mit einer Organspende einverstanden sind. Corina sagte sofort ja. Ich musste es mir kurz überlegen, fand aber keinen Grund, der dagegen sprechen würde. Wir hatten uns vor dem Unfall zufälligerweise mit dem Thema auseinandergesetzt. Doch dachten wir dabei natürlich an uns, nicht an die Kinder.
Corina Omlin (34), Juristin: «Für uns war das ein Trost. Thierrys Tod ist nicht mehr so absolut sinnlos. Er konnte zwei Kindern und einem Mann ein neues Leben schenken. Die ganze Familie verabschiedete sich im Spital Chur von Thierry. Auch Gregory, der dreieinhalb Jahre alt und bei dem Unfall dabei war. Wir konnten uns zwar an Thierry kuscheln, aber richtig in die Arme nehmen leider nicht. Er war wegen der bevorstehenden OP verkabelt. Das Halten, das Umarmen, fehlen mir heute. Ich wollte nicht zur Aufbahrung in St. Gallen. Doch Chrigi sagte, da gehen wir hin. Im Nachhinein bin ich dankbar, dass wir das gemacht haben, denn es war sehr wichtig, Thierry nochmal Tschüss zu sagen und ihm nahe zu sein. Leider wussten wir da noch nicht, dass wir Gregory hätten mitnehmen müssen. Er hat seinen Bruder nie wirklich tot gesehen, das hätte ihm bei der Verarbeitung geholfen.»
Gregory, 4 Jahre.
wir eltern: Ein Kind erstickt an einem Luftballon, das andere an einem Stück Wienerli. Müssen Eltern diese Gegenstände und Nahrungsmittel aus dem Haushalt fernhalten?
Linn Krüger, Oberärztin Insel-Kinderspital Bern: «Ich denke nicht, letztendlich stecken sich kleine Kinder vieles in den Mund, da müsste man noch viel anderes auch entfernen. Dies sind einfach schwere Schicksalsschläge.»
Die meisten Fälle verlaufen glimpflich. Ist es einfach grausames Pech, wenn ein Kind tatsächlich erstickt?
«Ja. Aber wenn ein Kind etwa erkältet und die Nase verstopft ist, kann das Risiko noch höher sein. Generell hängt es aber auch von der Lage des Fremdkörpers ab. Wenn dieser im Bereich des Kehlkopfeinganges ist, kann es passieren, dass keine Luft mehr vorbei geht.»
Laut Statistik ersticken in der Schweiz pro Jahr etwa drei Kinder unter vier Jahren. Warum sind nur kleinere Kinder betroffen, ältere nicht?
«Dies hängt damit zusammen, dass bei kleineren Kindern die Atemwege auch kleiner sind und etwa eine Karotte den ganzen Atemweg verschliessen kann. Ausserdem stecken sich kleine Kinder alles in den Mund - orale Phase - lassen sich schneller ablenken und laufen gerne mit oder während dem Essen herum.»
Wie oft haben Sie in der Klinik mit Kindern zu tun, die Gegenstände verschluckt haben?
«Regelmässig, wir entfernen etwa zwei Mal pro Monat Fremdkörper aus Atemwegen. Gefährlich für Kinder unter vier Jahren sind unter anderem Nüsse, rohe Karotten, ungeschältes Obst, Würste, ganze Trauben, kleine Spielsachen, Kleinstteile wie Nadeln, Legoteile, kleines Plastikspielzeug, Luftballons und Kaugummis.»
Was tun bei Erstickungsanzeichen?
Kindernotfall Erste Hilfe-Poster unter: ➺ littleplan.de/erste-hilfe-poster
Christian: «Die Tage danach waren kaum auszuhalten. Darum stiegen wir sofort in den Alltag ein. Ich arbeitete im Homeoffice, Corina ging ins Büro. Ich erzählte dem Team per Videokonferenz, was geschehen war und war überrascht, dass einige wie ich in Tränen ausbrachen. Diese Anteilnahme tat unheimlich gut.»
Corina: «Für uns beide gibt es Dinge, die müssen wir nicht diskutieren, sie stehen einfach fest und wir ziehen am gleichen Strang. Für Greg mussten wir weitermachen. Viele Menschen schweigen den Tod eher tot. Daher war es mir wichtig, den Leuten selber zu erzählen, was passiert ist. Meine Offenheit führte dazu, dass mich auch heute noch viele fragen, wie es uns und Gregory geht. Das schätze ich sehr.»
Christian: «Ich weiss, dass es ein Unfall war. Doch mein angreifbarer Punkt ist, dass ich mir zwar einrede, dass ich keine Schuld habe. Aber es kommt trotzdem immer wieder hoch. Das Gefühl, du hättest es anders machen müssen. Thierry sass auf meinem Schoss, ich habe ihm eines der beiden Wienerli klein geschnitten und nicht gesehen, dass er nach dem anderen greift. Was wäre, wenn.... Diese Frage treibt mich um.»
Corina: «Ich muss an dieser Stelle etwas loswerden, was mich unglaublich enttäuscht: Emotional werden trauernde Männer vernachlässigt und alleingelassen. Selbst Chrigis Freunde haben sich nur bei mir gemeldet, bei ihm meiden sie das Thema. Ja, vielleicht weinen wir, vielleicht stottern wir rum, das ist möglich. Aber wir brauchen Gespräche und Mitgefühl!»
Christian: «Das Ausweichen, das nicht nachfragen, kommt rüber wie Desinteresse. Das schmerzt. Ich würde gerne über Thierry reden und erzählen, wie er war, was für ein toller, kleiner Kerl.»
Corina: «Für die Verarbeitung waren für uns bestimmte Dinge wichtig. Der Abschiedsgottesdienst etwa, an dem Chrigi und ich einen Brief an Thierry vorlasen. Oder dass wir seine Urne mit nach Hause nehmen konnten. Die Asche werden wir an einem schönen Ort verstreuen, aber wir haben keine Eile. Das Zurückgehen an den Ferienort war wichtig, wir haben alle Stationen besucht, an denen wir unsere letzte, schöne Zeit als Familie verbracht hatten, bevor der Unfall geschah. Das war traurig und schön zugleich. Wichtig sind meine Freundinnen, die für mich da sind, meine Seelsorgerin, mit der ich gute Gespräche habe und mein Blog, in den ich schreibe, wenn es mir nicht gut geht, und auch für Greg, damit er später erfährt, was wir erlebt haben in diesen Tagen und der Zeit danach.»
Christian: «Gregory hatte einen Monat nach dem Unfall Phasen, in denen er wegen Kleinigkeiten völlig ausgerastet ist. Heute geht es ihm besser. Rituale sind wichtig für ihn, etwa muss er sich immer von lieben Leuten mit Winken verabschieden. ‹Tschüss› dürfen wir nicht mehr sagen, das verbindet er mit der Verabschiedung von Thierry im Spital. Wir sagen jetzt ‹Tschau›.»
Corina: «Für ihn lebt Thierry im Himmel weiter. Greg erzählt uns Geschichten, wie er dort lebt. Aktuell in einem Hochhaus, mit Götti René, einem verstorbenen Nachbarn, mit Bisnonna, meiner Grossmutter und mit ganz vielen, tollen Autos. Seine Geschichten sind für uns sehr tröstlich.»
Christian: «Jeden Abend sagen wir Thierry auf dem Balkon gute Nacht. Greg zündet eine Kerze an, wir wählen einen Stern und schicken Thierry Ghetto-Fäuste, Küsschen und Umarmungen in den Himmel. Das ist für Greg wichtig, und tut auch uns gut.»
Corina: «Schon am Tag des Unfalls war für uns klar, dass wir wieder ein Kind wollen. Ich bin jetzt schwanger. Die beiden Extreme, diese unendliche Trauer und die Freude, haben noch keinen Platz nebeneinander, das ist noch schwierig für mich. Am «Chindli» gegenüber denke ich, ist es unfair, es hätte es verdient, dass wir uns freuen. Meine Angst ist, dass Thierry noch schneller vergessen wird.»
Christian: «Ich denke, das wird nicht passieren. Er wird immer zu unserer Familie gehören, in unseren Gesprächen weiterleben. Ich freue mich auf unser Baby. Für mich ist es tröstlich, dass ein kleiner, neuer Mensch in unsere Familie kommen wird.» corina-und-christian.jimdofree.com/tut-blog
Als Quereinsteigerin in den Journalismus schreibt Anita Zulauf erst für die «Berner Zeitung», die Migrationszeitung «Mix», nun bei «wir eltern» und als freie Journalistin bei dem Kulturmagazin «Ernst». Sie mag Porträts und Reportagen über Menschen-Leben und Themen zu Gesellschaft und Politik. Als Mutter von vier Kindern hat sie lernen müssen, dass nichts perfekt, aber vieles möglich ist.