
Peter Hauser
Interview
Ständig online - aber ohne Kontakt
Eltern haben viel zu oft ihr Smartphone statt ihre Kinder im Blick. Was macht das mit Familien, mit Babys? Anna Miller, Psychologin und Digital Balance Expertin sagt, Social Media aktiviere direkt unser Suchtgehirn.
«wir eltern»: Frau Miller, Sie haben ein paar Wochen in einem Vipassana-Retreat in Thailand verbracht – meist offline. War die Entkoppelung von der Welt schwierig?
Anna Miller: Ich hätte kein Buch über digitalen Konsum geschrieben, wenn ich nicht selbst meine Schwierigkeiten damit hätte. Viele von uns spüren mittlerweile instinktiv, dass mit der umfassenden Digitalisierung etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. Es geht nicht bloss ums Handy oder ein paar E-Mails zu viel – es geht darum, was in diesem digitalen Dauerrauschen alles auf der Strecke bleibt.
Mit ihrem neuen Buch «Verbunden» wollen Sie uns wachrütteln, was den Konsum von digitalen Medien betrifft – auch uns Eltern. Was ist das Problem?
Der digitale Konsum ist eine gesellschaftliche Herausforderung, weltweit. Er hinterlässt Spuren in unserem emotionalen Verhalten, in unserer Gesundheit, in der Fähigkeit, mit Stress umzugehen. Das hat Konsequenzen für uns und unsere Kinder. Das sollten wir uns bewusst machen.
Beginnen wir beim Kleinkind…Was passiert genau, wenn die Eltern nebenher dauernd am Handy sind?
Wenn Eltern online sind, sind sie nicht beim Kind. Das ist ein Fakt. Das Problem ist, dass bei den Eltern durch das Smartphone ganz viele Mikrounterbrechungen stattfinden. Es entsteht eine Konkurrenz um die Aufmerksamkeit. Das Kind wird dazu erzogen, um die Aufmerksamkeit der Eltern kämpfen zu müssen. Sind diese sehr häufig am Smartphone, macht das etwas mit dem Bindungsstil. Jüngere Studien dazu zeigen: Wenn ein Kleinkind Augenkontakt sucht und dieser oft nicht stattfindet, wird es emotional verunsichert. Kinder entwickeln dadurch mitunter Frustration und stellen den Augenkontakt von sich aus gar nicht mehr her.
In der Geschichte konnten sich Eltern noch nie 24 Stunden am Tag auf ihre Kinder konzentrieren, in Grossfamilien und unter schwierigen Lebensbedingungen erst recht nicht.
Ich will den digitalen Konsum ja gar nicht verteufeln – es geht überhaupt nicht darum, dass das Digitale immer schlecht ist und man das Kind immer priorisieren muss. Aber ich beobachte, dass viele Eltern aus emotionaler Not heraus digital abtauchen. Wenn man etwa mit dem Kind auf dem Spielplatz ist und man, statt sich dem Kind zuzuwenden, die ganze Zeit nur am Handy hängt, ist es sinnvoll, sich zu hinterfragen: Ist es ein externer Faktor? Muss ich zwingend mit jemandem kommunizieren? Oder möchte ich mich emotional abgrenzen vom Kind, weil ich gerade wenig Energie dafür habe, mich ihm aktiv zuzuwenden?
Auch vor der digitalen Ära waren die Eltern unzählige Male pro Tag emotional abwesend, sei es aus Überforderung oder wegen einer Depression.
Das Phänomen von mangelnder emotionaler Präsenz ist überhaupt nicht neu. Aber ich lasse diese Ausrede nicht gelten. Weil wir doch in einer fortschrittlichen Welt leben wollen – und Dinge zum Besseren wenden. Wir geben uns so viel Mühe, im pädagogischen Kontext ein gutes Grundwissen hinzukriegen. Wir wollen eigentlich eine liebevolle und respektvolle Beziehung zu unseren Kindern. Aber dann decken wir uns am Ende des Tages doch wieder mit 7000 Nachrichten und Tweets zu.
Und drücken den Kindern ein Smartphone in die Hand, kaum können sie dieses halten. Was macht das mit den Kleinen?
Wenn ein Kind jedes Mal, wenn es unruhig ist oder schreit, ein Handy vor die Nase gesetzt bekommt oder einen Film anschauen darf, damit es überhaupt am Tisch isst, dann wird es konditioniert. Es geht nicht darum, dass Kinder nicht auch mal ein Filmchen gucken dürfen. Aber es sollte uns klar sein, dass ein Kind nicht fünfmal am Tag einen Burger und einen Milchshake verdrücken sollte. Genauso achtsam sollten wir mit dem digitalen Konsum umgehen.

zvg
Anna Miller (1987) ist Journalistin, Autorin und Expertin für digitale Achtsamkeit. Sie hat einen Masterabschluss in Positiver Psychologie und schreibt über Gesellschaftsthemen. In «Verbunden – wie du in digitalen Zeiten wieder Platz schaffst für Dinge, die dir wirklich wichtig sind» gibt Miller viele konkrete Tipps und Übungen, auch für Eltern. Das Buch ist im Verlag Ullstein erschienen. Ab Fr.19.90. ➺ anna-miller.ch
Hat die frühe Nutzung digitaler Geräte direkte Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung?
Das Kindergehirn ist noch nicht entwickelt. Es wird alles aufgesogen und schnell erlernt. Wenn man ein Kind die ersten fünf Jahre im Rollstuhl herumschiebt – obwohl es gehen könnte –, werden die Muskeln zum Gehen nicht ausgebildet. Ein Kind braucht psychologisch und neurologisch in den ersten Jahren eine starke Basis, eine starke Verwurzelung, damit es seelisch wachsen kann. Wenn das kleinkindliche Gehirn unter Dauerreiz steht, ist eine gesunde Entwicklung schwierig.
Aber spricht angesichts der rasenden Entwicklungen der Technologie nicht alles dafür, unsere Kinder möglichst früh an die digitalen Skills heranzuführen, auch an den Schulen?
Da wird doch einfach unnötig Panik geschürt. Das ist der Druck aus der Wirtschaft. Kinder haben «neuronale Zeitfenster», wenn es um ihre Entwicklung geht. Wann wir lernen, zu sprechen, mit anderen zu interagieren und vernetzt zu denken, folgt einem Zeitplan. Es ist wichtig, dieses Zeitfenster zu schützen. Je mehr der Fortschritt kommt, desto sinnvoller ist es auch für uns Erwachsene, wenn wir emotional und gemeinschaftlich fähig sind, das Beste aus dem Fortschritt zu machen. Wir sind ihm nicht gewachsen, wenn wir uns ganztags mit einem Nervensystem, das auf 180 ist, von allem ablenken, das unangenehm ist. Dann landen wir alle in einem kollektiven Burn-out.
Eine etwas dystopische Weltsicht…
Das ist keine Dystopie. Wir befinden uns in einem kollektiven Zustand eines überreizten Nervensystems. Wir werden kaputt konsumiert, bis unser Lämpchen nur noch flackert, weil wir alle zu müde sind, weil wir keine Nerven mehr haben für ein lebendiges Miteinander. Angst- und Depressionserkrankungen nehmen weltweit zu – unter anderem wegen des digitalen Überkonsums. Das sagt auch Anna Lembke, eine renommierte Psychiaterin, die im Silicon Valley eine Suchtklinik leitet. Dieser Überkonsum ermüdet uns langfristig alle.
Ausgerechnet die Erfinder der digitalen Technologien – wie etwa Bill Gates – erziehen ihre eigenen Kinder bildschirmfrei und schicken sie in Waldorfschulen...
Ja, es gibt namhafte Menschen, die die Digitalisierung an vorderster Front mitprägen und ihre Kinder möglichst digitalfrei erziehen. Bill Gates etwa nimmt sich selber laut einer Netflix-Doku pro Jahr mindestens eine Woche digitale Auszeit. Er packt Bücher in sein Köfferchen, fährt irgendwohin und verbringt die Zeit ausschliesslich mit seinen Gedanken und analogem Lesen. Er tut als Vordenker genau das, was es für innovatives Denken braucht: sich nicht die ganze Zeit Reizen auszusetzen. Man kann nur über Probleme nachdenken und Lösungen finden, wenn man den Raum dazu hat.
Dennoch: Wir sind mittlerweile alle zutiefst abhängig von Laptop und Smartphone und wir Eltern sind ja zusätzlich verantwortlich für den Umgang unserer Kids mit der digitalen Welt. Was können wir tun?
Egal, ob mit oder ohne Kinder – es ist immer mühselig, aus einer Abhängigkeit zu finden. Aber es ist auch mühsam, Körper, Schlaf oder Partnerschaft zu pflegen. Eltern sollten bezüglich digitalen Miteinanders Prinzipien vorleben, die dem Gemeinwohl und der Verbundenheit dienen. Genauso wie wir Tisch- und Essregeln haben. Wir müssen Inseln schaffen, um emotionale und soziale Kompetenzen zu fördern.
Können Sie konkreter werden?
Es ist eine gute Idee, auch bezüglich digitalen Konsums räumlich und zeitlich Regeln aufzustellen. Dass man räumlich einen Platz für die Geräte bestimmt und diese nach dem Gebrauch routiniert an einen «Ruheplatz» legt. Man macht etwa ab, wo die Smartphones am Sonntag zwischen 10 und 16 Uhr versorgt werden sollen, weil dann Family-Time ist. Dann lässt aber auch Papa sein Handy am besagten Ort liegen!
Weitere Möglichkeiten?
Wenn man einen Familienausflug macht, nimmt abwechslungsweise nur jemand ein Handy mit, für den Notfall, und um Fotos zu machen. Oder zwischendurch kann man sich als Familie zu Hause eine halbe Stunde Daddel-Zeit vereinbaren, in der jeder auf seinem Handy machen kann, was er will. Oder ein schönes Beispiel, von dem ich gehört habe: Wenn Mama im Homeoffice die Spielzeugkrone aufsetzt, dann ist sie gerade am Telefonieren und das Kind darf in dieser Zeit nicht mit ihr sprechen. Solange man dem Kind kommuniziert, «ich bin nun eine Viertelstunde mit jemandem am Telefonieren», ist das völlig ok.
In vielen Familien wird ein erledigtes Ämtli oder Hausaufgaben mit Bildschirmzeit belohnt. Was halten Sie davon?
Es ist wie bei den Süssigkeiten. Ab und zu ist ok. Nicht aber, wenn jede kleine Aufgabe mit Bildschirmzeit belohnt wird. Das Kind lernt sonst: Die Aufgabe an sich ist sinnbefreit, es geht nur noch um die Belohnung. Besser ist, wenn die Belohnung innerhalb der Aufgabe stattfindet – also eine Zufriedenheit erzeugt, weil man etwas sauber geputzt hat oder die Französisch-Vokabeln beherrscht. Ein Kind muss lernen, dass Aufgaben zur Gemeinschaft und zum Leben dazu gehören.
Und ab wann empfehlen Sie, dem Kind ein eigenes, internetfähiges Handy zu kaufen?
Erst nach der Unterstufe. Die Zeit bis dahin kann man beispielsweise überbrücken, indem man dem Kind ein nicht internetfähiges Mobiltelefon mitgibt. Es braucht natürlich auch mehr digitale Achtsamkeit an Schulen und im Gespräch mit anderen Eltern. Denn ist das Kind das einzige in der Klasse, das kein Smartphone hat, ist es verständlich, dass es sich ausgeschlossen fühlen kann. Aber viel wichtiger als konkrete Bildschirmzeiten finde ich, dass man sich als Familie bewusster mit der digitalen Realität auseinandersetzt. Gemeinsam wieder mehr Zeit und Raum findet, die schönen Seiten des Familienlebens zu geniessen. Viele Kinder und Jugendliche wollen nämlich nach wie vor Dinge unternehmen und sich geborgen fühlen. Und die Eltern können viel dafür tun, den Rahmen dafür zu schaffen.