Diagnose: Schreibaby
Was ist dein Problem, Baby?
Von Martina Marti
Schreibabys gibt es nicht, dachte unsere Autorin. Bis ihr Sohn mit grossem Gebrüll zur Welt kam. Und nicht mehr aufhören wollte zu schreien.
zvg
Neuerscheinung am 2. April 2018
- Was Kinder unbewusst spüren
- Wie ungeborene Kinder das Familiensystem ins Wanken bringen.
Neue Erklärungen für auffällige Verhaltensweisen von Babys und Kindern, wie Übergewicht, Bettnässen, Heuschnupfen, Bauchschmerzen, dauernde Müdigkeit oder Magersucht.
Mit leichten Übungen, die das Familienleben wieder harmonischer machen.
Schreibabys sind eine Erfindung von Eltern, welche die Bedürfnisse ihrer Kinder nicht deuten können. Punkt. Diese Meinung vertrat ich ziemlich vehement. Ich werde das Kind schon schaukeln, dachte ich. Immerhin hatte ich bereits eine Tochter durch die ersten Lebensjahre begleitet und das eine oder andere Problem gelöst: Mit liebevollem Blick auf das, was sich gerade zeigt, und Mut, auch etwas an sich selber zu verändern, war alles zu schaffen. Dachte ich.
Bei Ankunft: Brunstschrei
Bis im Februar 2009 mein Sohn das Licht der Welt erblickte. Er begrüsste uns mit heftigem Gebrüll. «Was für ein männlicher Brunstschrei!», freute sich der Papa. Auch auf meiner Brust schrie Delio weiter. Ich hatte vollstes Verständnis, immerhin war auch für ihn die Geburt kein Spaziergang. Beim ärztlichen Kurzcheck, Anziehen der ersten Strampelhose und spätestens in den wiegenden Armen meines Mannes stellten wir dann unisono fest: «Am Stimmorgan fehlt es dem strammen Kerlchen nicht.» Ich hätte ihm (und natürlich auch mir) gewünscht, dass er nach den Strapazen endlich in den wohl verdienten Nachgeburtsschlaf fallen könnte, der – von Mini-Trinkunterbrüchen abgesehen – bis zu zwei Tagen andauern kann. Doch unser Sohn schlief nicht, er schrie. Auch noch Stunden nachdem sich meine Familie verabschiedet hatte. Ich summte, sang und schaukelte das Kind. Und es schrie. Oder wimmerte. Oder brüllte. Abwechslungsweise. Irgendwann weit nach Mitternacht nahm ihn eine fürsorgliche Nachtschwester zu sich: «Sie brauchen dringend ein wenig Schlaf.» Die restliche Nacht hörte ich die beiden den Spitalgang auf- und abwärtsspazieren. Abgesehen von Besuchern, die mich etwas ablenkten von meinem weinenden Kind, verlief der zweite Tag nicht viel anders. Es folgte eine weitere, schlaflose Nacht. «Er braucht einfach etwas länger, um anzukommen», tröstete ich mich. «Daheim wird sich das geben.» Ich packte meine Sachen und zügelte nach Hause. Delio brüllte weiter. Er brüllte im Stubenwagen, in der Hängematte, im Tragetuch und in unseren Armen. Und dann steckte er auch noch seine grosse Schwester an. Als wäre es die einzige Möglichkeit, ihm ihre Geschwisterliebe und Fürsorge zu beweisen, stimmte sie in das Gebrüll mit ein.
Jedes zehnte Kind gilt als «Schreibaby»: Das heisst, es schreit mehr als drei Tage in der Woche mindestens drei Stunden pro Tag aus vollem Hals und das über einen Zeitraum von mindestens drei Wochen. Das verursacht Stress, ein Gefühl des Ungenügens bis hin zu Aggressionen. Der Schlafentzug macht den Teufelskreis perfekt, aus dem betroffene Eltern kaum mehr allein herausfinden. Hilfe finden Sie hier:
- Mütterberatung, Frühkinderziehung, Kinderarzt
- Cranio Sacral Therapie, Osteopathie oder ergo- und physiotherapeutische Massnahmen
- Spezialisierte Abteilung in den meisten grösseren Kinderspitälern (Kinderspital in Zürich, St. Gallen, Kinderklinik Bern …)
- Stadtspital Triemli Zürich mit dem TIKSS-Programm
- Verein Schreibabyhilfe: www.schreibabyhilfe.ch
Goodbye Biorhythmus
Am Tag 5 nach Delios Geburt machte sich bei meinem Mann und mir langsam Panik breit: Was war nur mit unserem Sohn los? Wir betrachteten dieses winzige Geschöpf, wie es wild herumfuchtelte, sich mit hochrotem Kopf die Lunge aus dem Leib schrie und einfach nicht zur Ruhe kam. Das Baby schlief höchstens 45 Minuten am Stück. Ich hatte vier Nächte kein Auge zugetan und mein Zustand wurde langsam kritisch. Auch wenn der Papa Nachtschicht schob, konnte ich nicht schlafen. Mein Biorhythmus war total aus den Fugen geraten. Es war höchste Zeit, etwas zu tun. Die Odyssee begann. Meine Ärztin verschrieb mir ein Medikament um den Tages- und Nachtrhythmus wieder zu finden. Unsere Naturheilärztin testete die richtige, kuhmilchfreie Babymilch für Delio aus (durch den Stress floss nur noch tropfenweise Milch durch meine Brust). Eine bekannte Mütterberaterin zeigte uns wichtige Bauch- und Fussmassagen um sein – mögliches – Bauchweh zu lindern und die Verdauung zu fördern. Ausserdem riet sie uns, ihn schon bei den kleinsten Anzeichen von Müdigkeit in sein Bettchen ins Zimmer zu legen, um jegliche Überreizungen zu vermeiden (das Tragetuch konnte Delio auch mit ihren Kniffs nicht ausstehen). Und wir begannen mit der Cranio Sacral Therapie, dem Wunderheilmittel für alle Frischgeborenen mit Startschwierigkeiten aller Art. Die Erstreaktion auf die Behandlung war fatal: Aus 45 Minuten Schlaf wurden knapp 30 und unser Sohnemann schrie wie am Spiess. «Eine normale Reaktion», beruhigte uns die Therapeutin. «Danach wird es besser.» Doch nichts wurde besser. Nach zehn Sitzungen entschuldigte sie sich, dass sie leider nichts mehr für uns tun könne. Ich war am Boden zerstört.
Was ist dein Problem, Baby?
Wie wild durchforstete ich das Internet nach Lösungen. Kein Baby schreit ohne Grund! Was hatte der arme Kerl bloss? Besonders brutal waren für mich Delios «lichte» Momente. Momente, in denen ihn das Böse, das Belastende, was es auch immer war, für wenige Minuten verliess. Und er zufrieden und glücklich in seinem Laufgitter strampelte und blubberte, ich in seine strahlenden Äuglein blickten durfte, die zu sagen schienen: «Du machst nichts falsch, Mami. Mir geht es prima.» Nur um sich kurze Zeit später wieder zu winden und zu schreien, als ob ihm jemand ein Messer in den Bauch gerammt hätte. Wir versuchten es mit Homöopathie. Es half nichts. Mein Mann und ich vereinbarten einen Termin bei einer systemischen Familientherapeutin. «Vielleicht lastet ja eine alte Familiengeschichte auf ihm. Oder wir übergeben ihm bereits unseren Stress», sinnierten wir. Es half nichts.
Nach sechs Wochen landeten wir nachts um 23 Uhr in der Notaufnahme des Zürcher Triemli Spitals. Einerseits, weil wir sicher waren, dass etwas mit unserem Sohn nicht stimmen konnte, andererseits weil ich physisch und psychisch am Ende war und zweimal wirklich kurz davor war, mein Kind aus dem Fenster zu schmeissen. Ich habe Delio nicht einmal auch nur ein Härchen gekrümmt, konnte aber zu diesem Zeitpunkt total nachvollziehen, warum Eltern aus Verzweiflung ihr Kind schütteln. Niemand hält dieses permanente Geschrei, die grosse Sorge und das unbändige Versagergefühl über längere Zeit aus. Man nahm uns ins Programm Säuglinge mit Schreien als Problem (TIKKS) auf. Während fünf Tagen waren wir alle in Behandlung. Zum Nachschlafen, zum körperlichen Rundumcheck, zur Beratung – das ganze Paket. Delio wurde zum offziell deklarierten Schreikind. Ohne erkennbaren Grund. Gemeinsam mit den Ärzten erstellten wir einen Entlastungsplan für die Kinder und den Haushalt. Unsere Eltern und Freunde wurden eingespannt, wo es nur ging. «Im Schnitt ist der Spuck nach drei bis vier Lebensmonaten vorbei», versprach man uns bei der Entlassung.
Als Delio sechs Monate alt war, konnte man noch immer die Stopp-Uhr stellen: Am Tag 45 Minuten Schlaf am Stück, nachts maximal zwei Stunden. Sein Zustand: Dauerübermüdet. Die Folge: Weinen. Daran änderte auch die Umstellung auf feste Nahrung nichts. Ich begann wieder zu rauchen. Die einzigen drei Minuten pro Tag, die nur «mir» gehörten. Egal, was gerade tobte. Mein Mann und ich wurden zu einem ausgeklügelten, hochkomplexen Organisationsteam, was die Abwicklung der alltäglichen Dinge, die «Alleine-Zeit» mit unserer Tochter und die Betreuung von Delio anging. Alles immer unter Stress und Hochdruck. Immer mit der bangen Frage im Bauch: «Wann schreit er wieder?» Ich hatte die Hoffnung längst aufgegeben. Ich hatte alles versucht und musste akzeptieren, dass unser Leben nicht mehr so verlief, wie ich mir das vorstellte.
Um nicht gänzlich in eine Erschöpfungsdepression zu versinken, suchte ich eine Psychologin und Polarity-Expertin auf. Nachdem sie mich einigermassen stabilisiert hatte, empfahl sie mir Sereina Heim, eine Mediale Lebensberaterin: «Ihre Arbeit mit Säuglingen grenzt an ein Wunder, glauben Sie mir.» Ich glaubte ihr nicht! Keine Ahnung, warum ich dennoch hinging. Vermutlich nur, um ihr zu beweisen, dass es keine Wunder gibt.
Sieg über den Dämon
60 Minuten dauerte die Behandlung bei Sereina Heim. Sie hatte Delio energetisch behandelt und nicht einmal berührt. Mehr weiss ich nicht mehr. Nur, dass ich dachte: «Das ist der grösste Unfug, den ich je versucht habe.» Zuhause legte ich Delio wie gewohnt um acht in sein Bett. Er schlief zehn Stunden durch. Nach dem Morgenschoppen schlief er nochmals drei Stunden. Über Mittag erneut vier Stunden. Fortan jeden Tag. Tendenz an Schlafstunden: Steigend. Wir hatten ein anderes Kind. Der Dämon war besiegt. Wieso? Keine Ahnung, aber das war mir auch schnurzegal. Mit neun Monaten durfte unser Kind endlich anfangen zu leben!
Heute gehört Delio zu den zufriedensten Kleinkindern, die ich kenne. Er sprüht vor Lebensfreude. Ein kleiner Buddha, den wir mit Dankbarkeit geniessen. Jeden Tag. Und jede Nacht. Sereina Heim besuchen meine Kinder immer noch in unregelmässigen Abständen. Wenn etwas ansteht in ihrem Leben, bringt sie die Kids wieder in Einklang – mal mit, mal ohne Berührungen. Ich habe aufgehört zu versuchen, ihre beeindruckende Arbeit mit dem Verstand nachzuvollziehen. Ich weiss einzig: Es gibt Schreibabys. Und es lohnt sich, Hilfe anzunehmen. Denn Wunder passieren wirklich.