Interview Jessica Pehlke-Milde
Was das Geburtserlebnis verbessert
Die Hebammenwissenschaftlerin Jessica Pehlke-Milde setzt sich dafür ein, dass es Mutter und Kind während Schwangerschaft und Geburt gut geht. Was simpel tönt, ist gar nicht so einfach.
«wir eltern»: Frau Pehlke, wir leben in einer Zeit grosser Veränderungen und Verunsicherung. Wie geht es den schwangeren Frauen damit?
Jessica Pehlke: In vergangenen Pandemien hat sich gezeigt, dass schwangere Frauen überdurchschnittlich stark leiden, wenn eine gesundheitliche Bedrohung einschränkende Massnahmen erfordert, nicht zuletzt, weil Frauen in der Schwangerschaft und gerade beim ersten Kind einen enormen Umstellungsprozess durchlaufen. Es schwächt, wenn die sozialen Kontakte eingeschränkt werden. Dazu kommen die Sorgen um die Gesundheit, nicht nur um die eigene, sondern auch um die der Kinder und der Familienangehörigen.
Wie können es werdende Eltern schaffen, trotz dieser Belastungen «guter Hoffnung» zu sein?
Sie sind nun ganz besonders gefordert, gut für sich zu sorgen und zu spüren, was ihnen im Alltag wohltut. Wichtig ist sicher Kontakt und Austausch, vielleicht mit weniger Leuten als üblich, doch die Hauptsache ist, dass werdende Eltern und Familien genug Unterstützung erhalten. Gut ist auch alles, was hilft, mit Stress umzugehen. Mit «Zäme schwanger» gibt es in Winterthur ein Angebot, das medizinische Schwangerschaftsvorsorge mit gesundheitsförderndem Empowerment und Austausch mit anderen Eltern kombiniert. So können sich Mütter schon früh vernetzen und einander auch gegenseitig unterstützen (siehe Box).
Es gab in den vergangenen zwei Jahren Phasen, da durften die Partner* innen die Frauen nur eingeschränkt zur Geburt begleiten und im Wochenbett nicht besuchen. Was hat man aus dieser Erfahrung gelernt?
Es hat sich gezeigt, dass manche Massnahmen so nicht umsetzbar sind oder den gebärenden Frauen schaden. Wie eben wenn die Gebärende ohne Begleitung gebären muss. Ebenso wenn Hebammen versuchen, Abstand zu halten, statt die Frau in den Wehen auch mit ihren Händen zu unterstützen. Daraus hat man gelernt; auch die WHO hat erkannt, dass es eine enge Begleitung während der Geburt braucht. Allerdings hatte die veränderte Situation auch positive Seiten.
Interessant, erzählen Sie!
Durch die Kontaktbeschränkungen ist das Wochenbett im Spital deutlich ruhiger geworden. Hebammen und Pflegende der Wochenbettstationen berichten, dass sich die Frauen besser erholen konnten und weniger Stillprobleme auftraten. Einige Spitäler werden diesem Aspekt bei der Besuchsregelung in Zukunft Rechnung tragen müssen, sodass zumindest die Frauen, die es wollen, genug Ruhe haben.
Prof. Dr. Jessica PehlkeMilde (57) hat von 1984 bis 2002 sowohl als angestellte wie auch als freiberufliche Hebamme in Berlin gearbeitet. 2009 promovierte sie an der Medizinischen Fakultät Charité in Berlin und ist heute an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) als Professorin und Leiterin der Forschungsstelle Hebammenwissenschaften tätig. Pehlke-Milde hat einen 21-jährigen Sohn und lebt mit ihrem Mann am Bodensee.
Nach vorgängiger Zurückhaltung empfiehlt das Bundesamt für Gesundheit schwangeren Frauen seit September 2021, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen. Wie ist es dazu gekommen?
Aus ethischen Gründen war es nicht möglich, die Impfstoffe an Schwangeren zu testen. Nun haben wir aber weltweite Daten zur Impfung und man hat gesehen, dass die Vorteile der Impfung überwiegen. Nach aktuellem Wissensstand erkranken Schwangere deutlich häufiger an Covid-19 als gleichaltrige Nicht-Schwangere. Zudem sind die Verläufe schwieriger und sie müssen öfter auf der Intensivstation beatmet werden. Auch das Risiko für eine Frühgeburt ist erhöht.
Im ersten Schwangerschaftsdrittel sollte man allerdings nicht impfen. Wieso das?
Damit die Schwangerschaft erhalten bleibt, ist das Immunsystem der Frau im ersten Trimenon etwas ausgebremst und eine Impfung nicht empfehlenswert. Im zweiten Trimenon hat sich der Fetus eingenistet, die Organentwicklung ist abgeschlossen und der Körper der Frau zur Ruhe gekommen.
Gibt es bereits Erkenntnisse, wie sich die Impfung während der Schwangerschaft auf die Neugeborenen auswirkt?
Man hat bis jetzt keine Auffälligkeiten gesehen und es kommen laufend neue Erkenntnisse dazu, die die Impfempfehlung stützen. So zum Beispiel, dass das Kind offenbar bis zu drei Monaten nach der Geburt mit Antikörpern geschützt ist, wenn sich die Mutter in der Schwangerschaft impfen lässt.
Aus der Psychoneuroimmunologie wissen wir, dass sich Angst nicht nur negativ auf unser Wohlbefinden auswirkt, sondern auch auf unsere Gesundheit. Viele Frauen entlastet die Tatsache, dass sie sich in der Schwangerschaft impfen lassen können...
Deshalb bin ich froh, dass es eine Impfempfehlung gibt, die jetzt Orientierung schafft.
Anderen wiederum macht die mRNA-Impfung wegen möglicher noch unbekannter Spätfolgen Angst.
Die Wahrnehmung des Risikos ist sehr individuell, daran können wir nichts ändern. Als Gesundheitsfachperson hat man den Auftrag, die Menschen dabei zu unterstützen, zwischen verlässlichen und unseriösen Informationsquellen zu unterscheiden.
Stichwort Impfpflicht: Ist sie zulässig?
Ich kann mir im Moment nicht vorstellen, dass bei Schwangeren eine Impfpflicht eingeführt werden kann. Wir sollten aber schwangere Frauen als vulnerable Personen schützen, weil für sie Covid-19 mehr Risiken mit sich bringt.
Sie sind als Professorin für Hebammenwissenschaften in Ausbildung und Forschung tätig. Weshalb ist es wichtig, dass auch Hebammen forschen?
Wir sind in einem Beruf mit hoher Verantwortung für Mutter und Kind und deshalb ist es wichtig, dass wir unser Tun systematisch überprüfen. Wenn uns dann die Forschung korrigiert – und das passiert immer wieder – kann das irritieren, ist aber nötig.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Als ich vor 40 Jahren ausgebildet wurde, bekam jede Gebärende einen Dammschnitt. Wir haben das mit bestem Wissen und Gewissen gemacht, weil wir dachten, wir schützen die Frauen vor der späteren Inkontinenz. Die Studienlage zeigte dann, dass das nicht stimmt. Seit dem gibt es den routinemässigen Dammschnitt nicht mehr. Das Gleiche wird nun mit dem Kaiserschnitt passieren.
Das bedeutet, dass nicht jeder Kaiserschnitt nötig wäre?
Bei einer Kaiserschnittrate von über 30 Prozent kann man nicht mehr von einer gezielten und notwendigen Intervention sprechen. Der Kaiserschnitt ist heute eine Lösung für vieles und nicht immer die beste. Und die Forschung zeigt, dass die kurz -, mittel- und langfristigen Folgen für Mutter und Kind uns davon abhalten sollten, so schnell zum Kaiserschnitt zu greifen.
«Zäme schwanger» in Winterthur
«Zäme schwanger» ist ein schweizweit neues Gruppenangebot für Schwangere und kombiniert medizinische Schwangerenvorsorge, gesundheitsförderndes Empowerment, Geburtsvorbereitung sowie emotionale Begleitung durch Hebammen, Gynäkologinnen und andere Schwangere. Die Kleingruppen von fünf bis acht Frauen treffen sich alle fünf Wochen während zweier Stunden in Winterthur.
Info: ➺ zhaw.ch/gesundheit/thetriz
Welche Folgen sind das?
Aktuelle Studien zeigen, dass die Fruchtbarkeit von Frauen nach einem Kaiserschnitt verzögert sein kann. Überraschend für viele war, dass der Kaiserschnitt auch für die Kinder mit langfristigen gesundheitlichen Folgen einherzugehen scheint. Wir wissen noch nicht, warum das so ist, aber Studien zeigen, dass sich die Besiedlung des Darms mit Mikroorganismen bei Neugeborenen, die per Kaiserschnitt geboren wurden, von dem der vaginal Geborenen unterscheidet. In Folge scheinen Kaiserschnittkinder deutlich häufiger an kindlichem Diabetes und Asthma zu erkranken.
Die Kaiserschnittrate wird also wieder sinken?
Sie muss. Der Kaiserschnitt ist eine Errungenschaft und es ist ein Glück, dass er so sicher geworden ist. Aber wir müssen im Einzelfall schauen, ob er wirklich nötig ist.
Wie kann das gelingen?
Die geburtshilflichen Teams müssen reflektieren, wie sie die Betreuung der Frauen qualitativ verbessern können, und zwar bereits in der Schwangerschaft. Während der Geburt ist es wichtig, dass sich die Gebärende sicher fühlt. Ein geburtshilfliches Team, das sie schon in der Schwangerschaft kennengelernt hat, kann diesen geschützten Rahmen schaffen. Wir wissen heute, dass eine 1:1-Betreuung die Interventionsrate reduzieren kann und das Geburtserlebnis besser ist.
Eine Untersuchung in der Schweiz zeigte, dass sich jede siebte Frau während der Geburt nicht gut behandelt fühlte. Das wirft kein gutes Licht auf die Geburtshilfe.
Es ist nötig, dass nun darüber geredet wird. Denn wenn es einer Frau unter der Geburt schlecht geht, ist das Risiko, psychisch zu erkranken, erhöht. Übrigens auch für den Mann. Sicher geben die geburtshilflichen Teams ihr Bestes, doch wenn eine Hebamme vier, fünf Gebärende gleichzeitig betreuen muss, kann sie nicht die Begleitung anbieten, die nötig ist. Das führt schliesslich auch zu einer hohen Rate von Berufsaussteigerinnen. Dem müssen wir entgegenwirken.
Sie selbst haben kürzlich zum moderaten Alkoholkonsum in der Schwangerschaft geforscht. Worum ging es dabei?
In der Schweiz hat sich in den letzten Jahren die Empfehlung durchgesetzt, in der Schwangerschaft überhaupt keinen Alkohol zu trinken. Trotz dieser Null-Toleranz-Empfehlung konsumieren bis zu 20 Prozent der Schwangeren in der Schweiz geringe Mengen an Alkohol. Wir wollten deshalb von den werdenden Eltern wissen, wie sie das Risiko des niedrigen oder moderaten Alkoholkonsums wahrnehmen.
Was haben Sie herausgefunden?
Auf Eltern und besonders auf den Frauen lastet heute ein grosser Druck, alles richtig zu machen. Sobald sie wussten, dass sie schwanger sind, haben alle Frauen in unserer Studie ihren Alkoholkonsum entweder stark reduziert oder sie verzichteten ganz darauf. Manche mieden sogar Saucen, die verkochten Alkohol enthalten. Andere kämpften mit massiven Schuldgefühlen, wenn sie zum Beispiel einmalig an einem Glas Wein genippt hatten, weil sie in der Frühschwangerschaft diese nicht offenbaren wollten, beispielsweise bei einer Betriebsfeier.
Die wissenschaftliche Unsicherheit, wo die Grenze des schädlichen Alkoholkonsums bei jeder Frau und bei jedem Kind liegt, macht die Sache nicht einfacher und die Frauen brauchen eine sensible und individuelle Beratung. Besonders erschüttert hat uns, dass der Umgang mit Alkohol in der Schwangerschaftsvorsorge offenbar kein Thema ist und die Frauen sich nicht trauen, das Thema von sich aus anzusprechen. Diesbezüglich gibt es noch viel zu tun.
Das Interview erschien zuerst in «wir eltern» 02/22.
Veronica Bonilla wollte früher Fallschirmspringerin werden. Seit sie den freien Fall bei der Geburt ihrer Kinder erlebt hat, hat sich dieser Wunsch in Luft aufgelöst. Übergänge und Grenzerfahrungen faszinieren sie bis heute. Dabei liebt sie es, um die Ecke zu denken und sich davon überraschen zu lassen, was dort auftaucht. Und stellt immer wieder fest, dass ihr Herz ganz laut für die Kinder schlägt. Sie war bis 2022 auf der Redaktion fest angestellt, seither als Freie für das Magazin tätig.