Alleingeburt
Geplante Alleingeburt: Tabeas Geschichte
Wagnis Alleingeburt: Tabea Reusser und Cédéric Zeller sind bei ihrem vierten Kind einen aussergewöhnlichen Weg gegangen. Sie haben ihr Baby zu Hause ohne medizinische Hilfe zur Welt gebracht. Hier erzählt das Paar von Beweggründen, Zweifeln und starken Gefühlen.
Tabea Reusser (38), Fotografin und Cédéric Zeller (43), selbstständiger Unternehmer, leben mit ihren Söhnen Dean (8), Juul (6), Nouri (4) und Arij (vier Monate) in einem hübschen Riegelhaus in Uetendorf nahe Thun. Am Stubentisch erzählen sie von ihrem Abenteuer der Alleingeburt und warum sie auf Vorsorgeuntersuchungen verzichtet haben.
Tabea: «Die Entscheidung, Arij mit Cédéric allein zu gebären war ein langer Prozess. Er hatte jedoch nur wenig zu tun mit den drei vorherigen Geburten, die klassische und komplikationslose Spitalgeburten waren und alles schöne Erlebnisse. Gestört haben mich jedoch die Interventionen während der Geburten, die Kontrollen der Wehen, des Muttermundes. Ich konnte nicht loslassen, fühlte mich nicht frei. Die Vorsorgeuntersuchungen habe ich bei meiner ersten Schwangerschaft mit Dean unhinterfragt mitgemacht. Bei Juul und bei Nouri nervten mich die Tests immer mehr. Wieder Blut abgeben, wieder Urin, und ich dachte, wen interessiert das? Ich habe es vermisst, einfach schwanger zu sein und mich auf das Baby freuen zu können. Aber ich war noch nicht bereit, einen anderen Weg zu gehen.»
Cédéric: «Ich bin nur bei der ersten Schwangerschaft zur Vorsorge mitgegangen. Danach nicht mehr. Das tönt jetzt egoistisch. Aber ich sah den Sinn nicht. Hätte das Baby eine Behinderung gehabt, hätten wir es trotzdem bekommen. Ich konnte auch mit den Ultraschallbildern nichts anfangen. Die sind mir zu abstrakt. Da war noch keine Verbindung zu den Babys. Für mich fängts an, wenn das Kind geboren ist, ab da bin ich voll dabei. Daher hatte ich auch Null Mühe, als Tabea bei Arijs Schwangerschaft die Untersuchungen weggelassen hat.»
Tabea: «In den vergangenen drei Jahren habe ich mich vermehrt gefragt, wie will ich leben? Zu was sage ich wirklich ja, oder nur, weil alle es so machen. Als ich wieder schwanger war, habe ich mich für den eigenverantwortlichen Weg entschieden. Ich wollte auf meine weibliche Kraft und meine Intuition vertrauen.»
Tabea
Cédéric: «Mir geht es darum, gelassener zu sein, auf den gesunden Menschenverstand zu vertrauen. Meine persönliche Meinung ist, dass man irgendwann angefangen hat, festgeschriebene Prozesse zu sehr nach Schema X abzuhandeln. Ich bin ein kritischer Mensch. Und natürlich habe ich mich gefragt, was ist, wenn was schiefläuft. Aber es kann immer etwas passieren. Was unsere Beziehung ausmacht ist, dass wir uns die Freiheit lassen, eigene Entscheidungen zu treffen. Und ich wusste, wenn etwas nicht stimmen würde, würde Tabea sofort reagieren.»
Tabea: «Ich habe mir bis am Schluss der Schwangerschaft die Möglichkeit offengelassen, doch noch einen Ultraschall zu machen oder eine Hebamme miteinzubeziehen. Das hat mir eine schöne Ruhe gegeben. Diese Schwangerschaft war dann auch ganz anders. Es gab intensive Erlebnisse. Etwa als ich die ersten Bewegungen des Babys spürte. Erst da wusste ich, hey, da bist du ja, du lebst! Ich habe viel mit dem Baby gesprochen, mehr als mit den anderen. Weil ich wusste, wir werden die Geburt hauptsächlich zusammen schaffen müssen. Aber es war alles andere als eine kopflose Idee, weder egoistisch noch naiv. Ich war mir der Verantwortung bewusst.
In dieser Zeit habe ich mir sehr viel Wissen angeeignet, Dinge, die ich vorher nicht gewusst hatte. Ich habe mich intensiv vorbereitet, viel gelesen, mich gut ernährt, Vitamine zu mir genommen, darauf geachtet, dass ich gesund bin, körperlich und mental. Auch mit den möglichen Gefahren und den Sicherheitsaspekten habe ich mich intensiv auseinandergesetzt. Von der Idee der Alleingeburt sagte ich Cédéric lange nichts. Irgendwann fragte ich ihn: Willst du meine Hebamme sein?»
Cédéric: «Ich war anfangs nicht gerade euphorisch. Für mich war die Frage, was meine Rolle sein wird. Aber anhand der anderen drei Geburten wusste ich bereits, wie das vor sich geht. Der Punkt war für mich, dass diese Geburten komplikationslos waren. Ich sagte, ich bin dabei, unter der Bedingung, dass ich nur der Supporter bin. Solange alles unter Kontrolle ist, ists okay. Wenn mir nicht mehr wohl ist, rufe ich die Ambulanz. Das war der Deal.»
Tabea
Tabea: «Als Vorbereitung für die Geburt habe ich einen Gymnastikball gekauft und ein paar Decken. Und ich habe eine Playlist erstellt mit Lieblingsliedern, die mich durch die Geburt begleiteten.»
Cédéric: «Mein Beitrag war das Beschaffen einer richtig guten, scharfen Schere für die Nabelschnur. Ich kaufte sie bei einem Messerschmied. Die Schere habe ich bis zur Geburt gut aufbewahrt, sie war mein Glücksbringer.»
Tabea: «In der Nacht auf den 11. Oktober gings los. Cédéric und die Kinder schliefen nebenan. Gegen Morgen hatte ich einen Wehen-Stopp, was bei den anderen Geburten nie vorgekommen war. Auf einmal hatte ich eine Krise, war unsicher und fragte mich, ob es richtig war, das Baby allein zu gebären. Dann ist die Nacht gewichen, es dämmerte, die Sonne ging auf. Und alles war wieder gut. Das Vertrauen war zurück.»
Cédéric: «Ich ging ein paar Mal nach Tabea schauen, ob es ihr gut geht, ob sie was braucht. Doch sie wollte nichts. Dann habe ich mich zu den Kindern schlafen gelegt. Die Kinder hatten mitbekommen, dass das Baby zur Welt kommen wird, dass Tabea Wehen hat. Sie haben das als etwas Normales zur Kenntnis genommen. Tagsüber wurden sie von der Grossmutter betreut. Sie kamen immer mal wieder schauen, ob das Baby schon da ist. Und gingen dann wieder spielen.»
Tabea: «Richtig los gings ab dem Mittag. Ich versuchte, durch Hypnobirthing-Sequenzen auf meinem Handy mit den Wehenwellen mitzugehen, mich einzulassen, loszulassen. Mal ging das gut, mal weniger. Zwischen den Wehen scherzten wir, lachten, gingen zusammen raus auf den Balkon. Irgendwann tanzte ich ein bisschen, weil ich wusste, jetzt muss diese Fruchtblase dann mal aufgehen. Und irgendwann zog ich die Kleider aus und war nackt. Ich hatte immer das Gefühl, dass es dem Baby gut geht, es hat sich immer bewegt.»
Cédéric: «Ich habe Tabea den Rücken gehalten, sie beim Atmen unterstützt. Ich hatte frischen Ingwer gekauft, kochte ihr Tee. Die Stimmung war entspannt und schön.»
Tabea: «Im Moment, als die Fruchtblase platzte, war ich so erleichtert und total euphorisch. Ich hatte ein starkes Gefühl und wusste, das kannst du, ich hatte keine Sekunde Angst. Nach der dritten Wehe ist Arij in Cédérics Hände hineingeboren.»
Cédéric
Cédéric: «Als Arijs Kopf halb draussen war, war das ein Schreckmoment, ein Moment des Zweifels und der Angst. Er war ganz grau. Ich hatte das Gefühl, jetzt geht es um Leben und Tod. Doch dann gings ganz schnell, er kam raus und du siehst, wie sich die Körperfarbe verändert, wie er rosa wird. Und alles ist da, Finger, Füsse, und du weisst, alles ist gut. Das war um 17.30 Uhr.»
Tabea: «Ich habe Arij zu mir genommen. Fast gleichzeitig kamen die Kinder herein und meine Mutter. Das war sehr berührend. Die Kinder hielten ihren Bruder, küssten ihn. Er war verschmiert und verbunden mit der Nabelschnur, die wir auspulsieren liessen und erst später durchtrennten. Dann kam recht schnell die Plazenta raus. Es war das erste Mal, dass ich selbst eine Nabelschnur berührt habe. Die Buben fanden das alles echt spannend.»
Cédéric: «Bei einer vorherigen Geburt hatte eine Hebamme mir genau erklärt, dass man eine Plazenta auf Vollständigkeit oder Risse untersuchen muss. Das war dann mein Job. Und aufräumen, putzen. Ich war recht kontrolliert. Das reale Gefühl des Glücks, der Freude, das kam erst später.»
Tabea: «Es war mega gewaltig, ein wahnsinnig starkes Gefühl. Alles ist gut gegangen. Dass wir das geschafft haben, dass wir zusammen das Vertrauen hatten, du und ich, das hat mich noch mehr mit dir verbunden.»
Als Quereinsteigerin in den Journalismus schreibt Anita Zulauf erst für die «Berner Zeitung», die Migrationszeitung «Mix», nun bei «wir eltern» und als freie Journalistin bei dem Kulturmagazin «Ernst». Sie mag Porträts und Reportagen über Menschen-Leben und Themen zu Gesellschaft und Politik. Als Mutter von vier Kindern hat sie lernen müssen, dass nichts perfekt, aber vieles möglich ist.