Frühgeburt
Warum Vorsingen Frühgeborenen hilft
Wiegenlieder helfen und heilen. Darum werden sie in der Neonatologie eingesetzt. Ein Gespräch mit Musiktherapeutin und Forscherin Friederike Haslbeck über Gehirnreifung, Gesang und Gefühl.
wir eltern: Frau Dr. Haslbeck, Sie sind Musikwissenschaftlerin, Geigerin, Musiktherapeutin
und haben Ihren Doktor in Medizin gemacht. Jetzt forschen Sie auf der Neonatologie des Unispitals Zürich zur Wirkung des Vorsingens auf zu früh geborene Babys.
Friederike Haslbeck: Ja. Sie müssen sich vorstellen, eine Neonatologie ist ein sehr stressiger Raum, in dem es manchmal um Leben und Tod geht. Oft ist es da laut, technisch, nicht gerade babygerecht. Zudem sind die Kinder, die bei uns im Unispital liegen, extrem
klein. Sie haben viele Erfahrungen, die termingerecht geborene Babys schon im Bauch machen konnten, nie gemacht. Ihr Gehör ist bereits sehr gut entwickelt, aber ihnen fehlen viele Wochen im Mutterleib, in dem
sie normalerweise nicht nur die Nähe zur Mutter erleben, sondern auch ihr Blutrauschen, ihren Herzschlag und ihre Stimme hören. Die Eltern sind starkem Stress ausgeliefert, sie haben Angst, dass ihr Kind vielleicht nicht überlebt. Auch zu ihren Gefühlen ist es wichtig, Zugang zu bekommen.
Und da hilft es ihnen, also beiden, vorzusingen?
Ja. Wir haben zur Kreativen Musiktherapie weltweit die erste Studie zur Gehirnentwicklung durchgeführt. Im Gehirn bildete sich durchs Vorsingen die Verbindung von Thalamus zu kortikalen Arealen, wie zum Beispiel dem Präfrontalcortex besser und schneller aus. Sozusagen von Trampelpfad zum Weg.
Diese Verbindungen sind unter anderem wichtig für das spätere sozial-emotionale Verhalten und die Konzentrationsfähigkeit. Kurz: Das Singen liess das Gehirn schneller nachreifen.
Hätte beruhigendes Sprechen nicht die gleiche
Wirkung gehabt?
Der Unterschied zwischen Singen und Sprechen ist wie der zwischen Tomaten und Tomatenmark. Singen ist ein Konzentrat von zugewandtem, gefühlvollen Sprechen. Natürlich nur, wenn die Mutter auch von Herzen für ihr Baby singt und sich nicht gezwungen fühlt. Frühgeborene und Kinder spüren diese Zwischentöne. Also, wenn man sich unwohl beim Singen fühlt oder keine Lust dazu hat, dann ist es besser, mit dem Kind zu sprechen. Singt die Mutter aber gerne – zumindest
nicht widerwillig – tut es Mutter und Kind sehr gut. Das liegt in der Evolution begründet.
Affen singen doch nicht?
Wohl nicht. Aber als der Homo sapiens den aufrechten Gang entwickelte und kein Fell mehr hatte, in dem der Nachwuchs sich am Körper der Mutter festkrallen konnte, mussten die Mütter ihre Kinder ablegen, wenn sie etwas mit den Händen erledigen wollten. Mit beruhigenden Lauten, einem Singsang, blieben sie in Beziehung zum Nachwuchs und zeigten dem abgelegten Baby: Keine Angst, ich bin ja bei dir. Das war wohl die Geburt des Wiegenliedes.
Ist es egal, ob ich «Schlaf, Kindchen, schlaf», «Satisfaction» oder ein Wanderlied vorsinge?
Eigentlich ja, nur wenn ich Kinder beruhigen möchte, sollte es im Wiegenliederstil sein. Wiegenlieder haben charakteristische Merkmale. Europäische Wiegenlieder bewegen sich im 5-Ton-Raum, haben einen kleinen Tonumfang, sind ruhig und haben sich wiederholende Elemente. «Schlaf Kindchen, schlaf» ist sehr typisch. Dazu diese drei absteigenden Töne ... Alles, was nach unten geht, beruhigt. Tonfolgen, die nach oben gehen, regen an. Was bei frühgeborenen Kindern manchmal auch wichtig sein kann. «Schlaf, Kindchen, schlaf» ist nicht umsonst so beliebt. Es ist ein einfaches Volkslied mit klaren, einprägsamen Strukturen. Deshalb eignet es sich gut für Rituale. Brahms «Guten Abend, gute Nacht» dagegen ist eigentlich ein Kunstlied, aber auch wunderschön. Jedenfalls gibt es in allen Kulturen der Welt Wiegenlieder. In Osteuropa haben sie allerdings oft einen 7/8-Takt.
zvg
Musik und Kinderlieder sind wichtig und wertvoll, unter anderem weil sie kleine Wunder wirken beim Beruhigen und oder Einschlafen. Zum Weltfrühgeborenentag (17.11.21) veröffentlicht der Verein amiamusica ein Liederbuch mit ausgewählten, interkulturellen Liedern und Texten von Familien für Familien frühgeborener Kinder zur spielerischen Förderung im ersten Lebensjahr. 5000 Exemplare von «Mit dem Oktopus ins Liedermeer» werden in der Schweiz, Österreich und Deutschland verschenkt. Das Charity-Projekt kann man auch unterstützen und als Nicht-Betroffene ein Buch kaufen (Fr. 18.-): liederbuch@amiamusica.ch.
Wieso denn das?
Weil die Mutter in die Kultur und Musik ihres Landes eingebunden ist. Sie kann am besten authentisch singen, wenn das Lied nicht fremd oder übergestülpt ist. Deshalb variieren nicht nur Musik und Sprechmelodie von Land zu Land, sondern mit ihnen auch die Wiegenlieder. Leider tun wir Nord- und Mitteleuropäer uns oft schwer mit dem Vorsingen.
Wie haben da einen völlig überzogenen Perfektionsanspruch. In Südeuropa etwa oder in Lateinamerika ist diese Sing-Scheu viel weniger ausgeprägt.
Wir sprechen nur immer über die Mutter, darf der Vater denn nicht singen?
Klar, darf und sollte er. Frühgeborene lieben diese tiefen Frequenzen oft besonders beim «Känguruhen», also wenn die Kinder zum Kuscheln beim Papa auf der Brust liegen.
Bevorzugen Kinder hohe oder tiefe Stimmen?
Gute Frage, das wird noch erforscht. Fest steht allerdings, dass grössere Kinder leichter zum Singen zu ermuntern sind, wenn man in der gleichen Stimmlage wie sie singt. Und Kinderstimmen sind nun mal hoch … Trotzdem lieben es Kinder, wenn ihre Papas singen.
«Hoppe, hoppe Reiter» – alles.
Letzte Frage: Bringt dieser Trend etwas, Babys vorgeburtlich mit Mozart zu beschallen, um sie intelligenter zu machen?
Mozart ist grossartig, aber nein, den Mozart-Effekt gibt es nicht. Mein dringender Appell an Eltern: Singt euren Kindern so viel wie möglich selbst vor! Zur Beruhigung: Kinder finden die Stimmen der Eltern immer wunderschön. Das ist doch eine tolle Chance, von seinen Kindern für seinen Gesang angehimmelt
zu werden. Sind sie nämlich erst mal in der Pubertät, darf man damit nicht mehr rechnen.
Caren Battaglia hat Germanistik, Pädagogik und Publizistik studiert. Und genau das interessiert sie bis heute: Literatur, Geschichten, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – und wie man am besten davon erzählt. Für «wir eltern» schreibt sie über Partnerschaft und Patchwork, Bildung, Bindung, Erziehung, Erziehungsversuche und alles andere, was mit Familie zu tun hat. Mit ihrer eigenen lebt sie in der Nähe von Zürich.