
Thomas Kuoh, Kinderkram, Gestalten 2018
Wohnen
Warum unsere Zimmer mehr Beachtung verdienen
Wie wirkt das Innen von Räumen auf das Innere von Menschen? Sicher ist: Räume prägen. Deshalb haben unsere Zimmer mehr Beachtung verdient. Schliesslich wohnt die Familie drin.
Was zu nah ist, verschwimmt vor den Augen. Man sieht es nicht richtig. So ist es vielleicht zu erklären, weshalb die Räume, die Zimmer, in denen wir leben, vergleichsweise wenig erforscht werden. Die Architektur, ja, die schon. Die ist imposant und künstlerisch. Die Umwelt wird es auch, klar. Und natürlich das Innenleben von Menschen. Von grossen, kleinen und ganz kleinen. Aber die Wirkung des Innen des Hauses auf das Innere von Personen? Da wirds dünn.
Das ist merkwürdig. Schliesslich verbringen Menschen in Europa und Nordamerika 90 Prozent ihres Lebens in geschlossenen Räumen. Für Jugendliche von heute, die Generation «Indoor», ist Stubenarrest keine Strafe, sondern ein Zustand. Und Corona hat aus unserem Zuhause auch noch gleich Büro, Isolationsstation und Schulzimmer gemacht. Da hätte sie eigentlich ein bisschen mehr Beachtung verdient, unsere Wohnung.
Denn es mag zwar sein, dass Pärchen sich beim Wohnen noch leidlich arrangieren. Werden die beiden jedoch Eltern, stehen verlässlich auf einmal eine Menge verzwickter Fragen zum Raum im Raum: Wie schaffen wir Platz für eine dritte, vierte, fünfte Person? Was heisst das eigentlich «kinderfreundlich»? Welche Farbe kriegen die Kinderzimmerwände? Sind da Bärchen als Dekor Pflicht? Und vor allem: Wie können wir nicht nur alle zusammen wohnen, sondern uns dabei auch alle wohlfühlen?
Die Forschungslage zum Drinnen ist dürr. Doch Vieles, was sich für Büros, Krankenhäuser oder Schulräume als nützlich erwiesen hat, ist auch für Privatwohnungen zumindest durchdenkenswert. Denn fest steht: Räume prägen. Stärker als man so denkt. Nämlich:
Räume prägen die Gesundheit
Okay, dem Tod haben Shusaku Arakawa und Madeline Gins kein Schnippchen geschlagen, ihr Ziel, Unsterblichkeit, verfehlt. Und doch ist das Wohnprojekt der beiden Künstler im japanischen Mitaka ein tolles Ding. Ihr Grundgedanke beim Bau: Herausforderungen halten fit. Geistige und körperliche. Und wenn es im nahen Umfeld davon genügend gäbe, so ihre Überlegung, entfiele damit der wichtigste Grund zu sterben.
Deshalb knallen in den Mitaka-Wohnungen grelle Farben aufeinander, ist die Küche in einer Art Loch platziert, der Fussboden holperig, und was in Zimmern üblicherweise klein ist, wird gross, Grosses klein. Gewohntes? Fehlanzeige. Das mit dem ewigen Leben per Zimmer-¬Challenge ist vielleicht spinnert, der Ansatz trotzdem nicht dumm. Immerhin leben Labortiere länger, wenn sie Spielzeug in ihren Käfigen haben, Raubkatzen im Zoo, wenn sie ihr Futter suchen müssen.
Und die WHO fand heraus, dass ältere Menschen seltener an Demenz erkranken, wenn sie in der Stadt als auf dem beschaulichen Land wohnen. Es ist also schlau, sich das eigene Zuhause genauer anzusehen. Ist das interessant? Oder, mal ehrlich, doch eher fad? Und muss jetzt auch der minimalistische Wohntyp mit crazy Farben hantieren, der Gesundheit zuliebe?
«Ach, was», sagt Antje Flade, Hamburger Umweltpsychologin, Autorin und Pionierin der Wohnforschung. «Stimmt, Reize sind wichtig. Aber ob wir uns in einem Raum wohlfühlen, hängt eher vom Mischungsverhältnis aus Reiz und Ruhe ab. Ein mittleres Anregungsniveau ist für die meisten Menschen das richtige. Aber was jeweils als optimal empfunden wird, ist bei jedem unterschiedlich. Also: Eyecatcher, gerne – Ruhe aber auch.»
Frühchen auf Neugeborenen-Intensivstationen beispielsweise, profitieren von grösstmöglicher Ruhe, schreibt die Fachzeitschrift «Pediatrics». Wurden sie nämlich, statt auf der umtriebigen Gemeinschaftsstation in einem stillen Familienzimmer untergebracht, nahmen sie schneller zu, ihr Pulsschlag normalisierte sich, der Sauerstoffgehalt ihres Blutes stieg… Kurz: Sie konnten früher entlassen werden. Segensreiche Wirkung des beruhigenden Raumes.
Und da wir gerade schon bei Patient* innen sind – ebenfalls segensreich fürs Genesen: Pflanzen. Untersuchungen der University of Delaware ergaben: Kranke erholen sich schneller von einer OP, wenn sie im Spital durchs Fenster Bäume statt Mauern sehen konnten. Sie benötigten weniger Schmerzmittel, hatten seltener Ängste. Selbst Bilder von Wald und Strauch sollen sich als Booster fürs Immunsystem erwiesen haben.
Vielleicht gilt auch für Gesunde: Zimmerpflanzen wären nicht schlecht. Auch, weil sie einfach hübsch sind. Nur die bitte nicht unter Neonröhren wachsen lassen, denn grelles Licht, schildert Emily Anthes in ihrem Buch «Drinnen», sorgt dafür, dass Menschen hastiger, zu grosse Portionen essen – und ungesunde Pfunde zulegen.

Räume prägen die Kompetenzen
Jawohl, Räume wirken aufs Können. So fand etwa der amerikanische Psychologe Sheldon Cohen heraus, dass Stadtkinder, die in den oberen Stockwerken wohnen, besser lesen können als die, die in Parterre lebten. Warum? Weil in den oberen Etagen die reicheren Leute leben? Kann sein.
Cohen allerdings erklärt es anders: die unteren Wohnungen sind die lauteren und Strassenlärm beeinträchtigt das Gehör. Die untersuchten Kinder jedenfalls konnten sprachliche Nuancen schlechter identifizieren, schnitten bei Hör- und Leseverstehens-Tests schlechter ab – und griffen auch im späteren Leben seltener zum Buch. Generell, belegen Studien in Grossraumbüros, sinken mit steigendem Geräuschpegel Konzentration und Gedächtnisleistung.
Fazit für die eigene Wohnung: Kinder machen zwar Krach, das Kinderzimmer jedoch sollte ruhig sein. Für Schlaf und Hausaufgaben. Zusätzlich nützlich für die Ufzgi: den Raum so gestalten, dass alles, was für die Aufgaben gebraucht wird, griffbereit ist. Zumindest steigt bei medizinischem Personal die Fehlerhäufigkeit dramatisch an, wenn es bei einer Operation erst hierhin und dahin wuseln muss, um an die notwendigen Instrumente zu gelangen, fand die Architekturprofessorin Anjali Joseph heraus.
Bequemlichkeit ist Trumpf. Liegt wohl in der Natur des Menschen. Kinder beispielsweise kommen selten auf die Idee, Sachbücher über Ernährung zu lesen. Sind die Bücher jedoch gleich neben Pasta und Pudding platziert, dann schon, weiss man aus Studien in kalifornischen Schulkantinen.
Wie die Kantinen beleuchtet waren, ist nicht überliefert. Könnte aber interessant sein. Macht doch, ergaben Versuche in Hamburg und Ulm, tageslichtähnliche Beleuchtung von etwa 650 Lux, Schüler* innen wach und munter. 1000 Lux pushen die Konzentration maximal, 300 Lux machen chillig. Ist das Licht bläulich, steigt die Konzentration, ist es warm, die Kreativität. Folge für daheim: Lampen mit Dimmer wählen.

Thomas Kuoh
Buchtipps
Die Bilder stammen aus dem Buch von R.Klanten; S.Fuls u.a:
«Kinderkram – Kinderzimmer für kleine Leute von heute»,
Die Gestalten Verlag, Fr.56.90.–
Weitere Bücher zum Thema:
♦ Sabine Stiller: «Aus 4 Zimmern mach 6 Räume», Prestel, Fr.53.90
♦ Emily Anthes: «Drinnen – Wie uns Räume verändern», Harper Collins, Fr.31.90
Räume prägen die Psyche
In manchen Zimmern fühlen wir uns wohl, in anderen nicht. Eine Binse, klar. Doch woran liegt es, dass der eine Raum als angenehm, der andere als unangenehm empfunden wird? Dafür gibt es subjektive Kriterien und – objektive. Helligkeit und Temperatur sind objektive. Kalt und Dunkel ist dem Menschen ein Graus. Allen und überall.
Wobei Frauen es zwei Grad wärmer benötigen als Männer. Wird ein Raum als zu kalt empfunden, hat er keine Chance mehr. Wer fröstelt, unterstellt dem Zimmer oft auch noch gleich, die Akustik darin sei mies und die Luft ebenfalls. Das Urteil von frierenden Arbeitnehmer* innen über ihre Büros war ein gnadenloses, haben Arbeitswissenschaftler* innen herausgefunden. Hell will es also der Mensch, warm und einen Rückzugsbereich. Fehlt der, fehlen bald auch Mitarbeitende und Arbeitnehmerin.
In Grossraumbüros jedenfalls lag die Zahl der Krankmeldungen 62 Prozent über denen von kleinen Büros. Das schreibt Arbeitspsychologe R.J.Hodgson in einem Aufsatz über Effizienz am Arbeitsplatz. Sagt uns das was über unser Zuhause? Ja. An Heizkosten und Lampen zu sparen, zahlt sich nicht aus.
Und: Jeder braucht sein privates Eckchen. Lofts sind cool, Türen zum hinter sich Zumachen aber auch nicht zu verachten. «Und zwar nicht nur die Tür vom Kinderzimmer», betont Antje Flade. «In Wohnungen werden die Bedürfnisse der Eltern leider oft vergessen.»
Lampen, Türen, Wärme … Und was ist mit den Farben? Geschmackssache? Oder muss es Baker-Miller-Pink sein? Diese Rosavariante soll ja derart beruhigend wirken, dass es in der Schweiz sogar Gefängniszellen in diesem Ton gibt. «Quatsch», befindet Antje Flade. «Dafür fehlt jede ernst zu nehmende Evidenz.» Zwar seien wir kulturell auf Farben konditioniert – blau = kalt, rot = heiss – aber so eins zu eins, nein, so wirken Farben nicht.
«Wir wissen, dass es fürs Wohlbefinden deutlich wichtiger ist, dass die Menschen ihre Wohnräume eigenständig, individuell gestalten.» Hell für die Wände sei zwar günstig, aber in welchem Ton ziemlich egal. «Wer einen Raum aktiv und konsequent nach eigenen Bedürfnissen einrichtet, erlebt sich als selbstwirksam. Das macht glücklich, und wir fühlen uns wohl.»
Röhrender Hirsch in Öl? Kinderzeichnungen im Goldrahmen? Grosis Frisiertisch? Her damit. «Individuelle Prägung zählt. Leider achten viele Menschen stärker darauf, wie repräsentativ und stylisch ihre Wohnung ist, als darauf, was sie selbst wirklich mögen.» Apropos mögen. Kendall Jenner mag ihr Baker-Miller-Pink in der Küche. Ihre Diät – ist zu lesen – lasse sich dadurch besser durchhalten.
Na dann. Geschmackssache. Nicht Geschmackssache, sondern erwiesen: Unwohl fühlen sich Menschen in einem überteuerten Zuhause. Richtwert: Die Wohnkosten sollten nicht mehr als ein Drittel des Einkommens betragen.

Räume prägen den Alltag
Wie wir unsere Umgebung gestalten, ist ein Zeichen dafür, was wir wertschätzen. Warum also steht der Wäscheständer im Schlafzimmer? Weshalb hat jedes Kind ein eigenes Zimmer, selten aber die Mutter? Nein, «die Küche» ist die grundfalsche Antwort.
Und warum bloss erinnern Schulen zuweilen an missglückte Kreuzungen aus Bunker, Bahnhofshalle und Baustellencontainer? Dabei belegen Untersuchungen, dass Vandalismus abnimmt, je schöner das Umfeld ist. In hochwertigen Schulgebäuden, schreibt Emily Anthes in ihrem Buch, erbringen Schüler* innen zudem «bessere Leistungen (und haben) auch mehr Vertrauen in ihre eigene Fähigkeit, Erfolg herbeizuführen».
Das Kinderzimmer – je nach Alter – gemeinsam mit dem Kind hübsch einzurichten, ist also keine Geldverschwendung, sondern eine Investition. Und Liebeserklärung.

Tipps fürs Einrichten und Wohlfühlen für alle
♦ Grundriss ansehen. Muss die Raumverteilung so sein, wie es auf dem Plan vorgesehen ist?
♦ Welcher Raum soll welche Funktion erfüllen? Ist wirklich das Wohnzimmer der Treffpunkt für alle, oder doch die Küche? Dann muss der grösste Raum nicht das Wohnzimmer sein. Und eine schicke Kochinsel in der Küche stört wahrscheinlich…
♦ Ist es möglich, Wände einzuziehen oder herauszureissen? Nein? Kann ein Raumteiler helfen? Rückzugsmöglichkeiten müssen sein.
♦ Schlafen braucht weder viel Platz noch Tageslicht.
♦ Auslagern durchdenken: CoWorkingSpace? Lagerraum für geerbtes Klavier und Skiausrüstung?
♦ Mal ehrlich: Wie oft kommt Übernachtungsbesuch? Reservieren wir dafür wirklich ein Gästezimmer?
♦ Lebensumstände ändern sich. Mobiliar sollte flexibel anpassbar sein.
♦ Möbel und Farben gliedern einen Raum in Funktionsbereiche. Schon ein Teppich oder ein Regal können signalisieren: Das hier ist der Arbeitsbereich, dieses hier der Spielbereich.
♦ Zimmerverteilung nach Geräuschpegel. Schlafen und Arbeiten brauchen Ruhe.
♦ Aus 1 mach 2: Schiebewände sind praktisch und brauchen wenig Platz
♦ Aus einem Kinderzimmer mach zwei. Schrankwand in der Mitte einziehen. Oder Schiebetür. Voraussetzung: jeder Zimmerteil hat eine Tageslichtquelle.
♦ Räume brauchen Struktur. Etwa mit Ebenen. Ausserdem lässt sich im Inneren eines eingebauten Podestes viel unterbringen.
♦ Kinder lieben Hochbetten. Platzsparend sind die zudem. Für die Sicherheit: die Betteinfassung sollte mindestens 20 Zentimeter über den Matratzenrand ragen. Für die Ordnung: Unter dem Bett sollte 1,40 Höhe oder mehr bleiben, sonst wird der Platz nicht zum Chillen oder Arbeiten genutzt, sondern verkommt zur Rumpelkammer.
♦ Problemfall Flur: Warum bloss, sieht der immer aus wie eine Geröllhalde? Geordneten Stauraum schaffen! Niemand hat Zeit, morgens Mütze oder Schlüssel zu suchen. Flur-Idee zwei: Mit Outdoorteppich auslegen. Der ist unempfindlich gegen schlammige Kinderschuhe.
♦ Alte Wohnungen haben oft viele Durchgänge. Lässt sich bei Platznot vielleicht einer davon zum Regal umfunktionieren?
♦ Wozu eigenen sich Treppenhauswände? Als Bildergalerie.
♦ Schon mal über einen Schlafkubus im Wohnzimmer nachgedacht? Ist Platz Mangelware, sind ungewöhnliche Lösungen gefragt.
♦ Mut: Was gefällt UNS? Pfeif’ auf alle Style-Gurus.
Caren Battaglia hat Germanistik, Pädagogik und Publizistik studiert. Und genau das interessiert sie bis heute: Literatur, Geschichten, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – und wie man am besten davon erzählt. Für «wir eltern» schreibt sie über Partnerschaft und Patchwork, Bildung, Bindung, Erziehung, Erziehungsversuche und alles andere, was mit Familie zu tun hat. Mit ihrer eigenen lebt sie in der Nähe von Zürich.