Wohnen
Unsere Nachbarn und wir - drei Familien erzählen
Roger Baumeler war als alleinerziehender Vater froh um das Ersatzgrosi nebenan und für Familie Gaaied ist Nachbar Tim viel mehr als nur ein Nachhilfelehrer - Geschichten von Nachbarn, die wichtig geworden sind.
«Auch ein alleinerziehender Vater braucht Zeit zum Durchatmen.»
Roger (44), Marcel (15) und Danielle (13) Baumeler aus Luzern erinnern sich an ihre im vergangenen Jahr verstorbene Nachbarin, Freundin – und «Fast-Grosi von nebenan».
Roger: Ich bin seit acht Jahren alleinerziehend. Und da die Kinder ihre Mutter relativ selten sehen, stimmt das Wort alleinerziehend wirklich. Bea, unsere leider verstorbene Nachbarin, war für mich ein Segen. Wir vermissen sie sehr.
Danielle: Ja, gerade gestern habe ich bei der Präsentation meines Schulprojektes noch gedacht: Gleich geht die Tür auf und Bea kommt rein. War aber leider nicht so. Du, Papa, hattest ja meine Veranstaltung vergessen… Grrr. Dabei hatte ich eine so tolle Zeichnung von Eisbären und Pinguinen.
Roger: Ja, das war schlimm. Es gab völlig zurecht Tränen. Mein Fehler. Tut mir mega leid! Aber ich mache halt Fehler. In der Schule stehen die Zeugnisse an, es mussten noch Noten eingetragen werden, ich selber hatte eine Fortbildung… Irgendwie ist mir der Termin im Stress der letzten Woche durchgegangen. Bea hat mir in solchen Stressphasen da durchgeholfen.
Marcel: Ja, wir sind manchmal einfach nach der Schule zu ihr rübergegangen und haben bei ihr gegessen. Ihr Cordon bleu, war das beste der Welt.
Roger: Das war für mich so hilfreich, wenn es in der Schule mal länger gedauert hat oder irgendetwas anderes dazwischen gekommen ist. Gerade als alleinerziehender Vater steht man ständig unter Beobachtung, ob man wirklich alles richtig hinkriegt. Als Mann. Und allein. Meine Mutter lebt in Bern, da konnte sie natürlich nicht eben spontan einspringen. Hilfe direkt nebenan zu haben, hat unser Leben sehr erleichtert. Auch, dass da eine Person war, die mir gespiegelt hat, du machst das gut mit den Kindern. Bea lebte ja quasi Wand an Wand mit uns und hat mitbekommen, wie unser Leben funktioniert und wie es meinen beiden geht.
Danielle: Ich konnte bei ihr auch mal über euch Männer schimpfen. Etwa wenn, du, Papa, wolltest, dass ich mein Zimmer aufräume, wo doch deins auch nicht viel ordentlicher war. Total ungerecht.
Marcel: Ich durfte sie sogar mal übers Wochenende in ihrem Wohnwagen brsuchen.
Roger: Die ersten zwei Jahre habe ich ihre nachbarschaftlichen Hilfsangebote nur zögerlich angenommen. Ich wollte ja alles besonders gut und richtig machen und bloss nicht den Eindruck erwecken, ich würde meine Kinder abschieben oder so. Aber nach zwei Jahren habe ich gemerkt: Auch ein alleinerziehender Vater braucht ab und an Zeit für sich zum Durchatmen. Bei Bea musste ich nicht gross etwas organisieren oder Bittebitte machen. Anklingeln hat genügt. Haben wir gegrillt und sie hat das gerochen, kam sie auch einfach mit einem Teller und hat gefragt «Gibts hier noch eine Wurst für mich?» Es war wunderbar unkompliziert. Sie war das «Luzerner Grosi» und meine Mutter das «Berner Grosi». Wir treffen uns auch jetzt noch mit ihrer Tochter und gehen manchmal mit «Woya», Beas Hund, Gassi.
«Es ist doch blöd, wenn jeder nur zu sich selber schaut.»
Familie Gaaied (Mohamed (10) , sitzend, Meki (11), Meriam (9), Nadia (45), Mohsen (58), nicht im Bild) und Tim Christen (27), wohnen in Bern.
Die Gaaieds und Tim Christen leben im Norden von Bern. Im gleichen bunten Quartier mit Menschen aus allen möglichen Ländern, Studenten, Familien mit vielen Kindern. Hier ist es lebendig, die Mieten sind günstig. Waren günstig, denn seit das Viertel hip wird, explodieren die Wohnkosten. «Umso wichtiger, dass wir zusammenhalten», findet Tim. Seit rund einem Jahr unterstützt der Wirtschaftspsychologie-Student, vermittelt durch die Berner «Nachbarschaftshilfe», Mohamed ehrenamtlich beim Lernen. Meist beim Lesen und Schreiben. Derzeit ackern sie gemeinsam «4 ½ Freunde und das bellende Klassenzimmer durch». Ein quirliges Gespräch zwischen Nachbarn, die gleichzeitig, Schüler, Lehrer und Freunde sind.
Tim: «Mir bedeutet die Nachbarschaft etwas. Es ist doch schön, wenn man sich beim Einkaufen trifft, im Brocki oder auf der Strasse und dann auch ein paar persönliche Worte wechselt. Ich finde es sehr befriedigend, dass ich hier mit Mohamed etwas Sinnvolles tue.»
Mohamed: «Ich bin durch Tim schon viel besser im Lesen geworden, aber lieber spiele ich Fussball.»
Meriam: «Ich habe alle meine Freundinnen nebenan. Die klingeln und dann spielen wir draussen. Wir fahren Inlineskater, hüpfen auf einem Bein oder fangen uns. Ich habe beste Freundinnen aus Albanien, Sri Lanka, aus Italien, aus Bern… Ich kann sogar schon ein Wort Albanisch.
Nadia: «Wir sind froh, dass Tim uns unterstützt. Ich selbst kann den Buben nicht in der Schule helfen. Wir haben wunderbare Nachbarn, ich gehe mit den Frauen zum Yoga. Unsere Wohnung ist eigentlich zu klein, aber aus dem Quartier wollen wir nicht weg.»
Meki: «Ich habe auch einen Freund aus dem Quartier, der mir bei der Schule hilft. Ich schreibe gerne, aber ich mache leider Fehler. Tim und Mohamed spielen manchmal Fifa 21. Das ist cool, würde ich auch gerne machen.»
Meriam: «In Tunesien wohnt neben unserem Haus, der Onkel vom Onkel. Und daneben der Cousin und eine Tante. Überall Familie. Aber wir hier in unserer Strasse sind auch wie Familie.»
Tim: «Es ist doch blöd, wenn jeder nur zu sich selber schaut. Beide Seiten profitieren, wenn man etwas zusammen macht. Durch die «Nachbarschaftshilfe» durfte ich Menschen kennenlernen, die ich sonst vielleicht nicht kennengelernt hätte. Mohamed ist ja einiges jünger als meine sonstigen Freunde. Wir sind doch Freunde, oder Mohamed?
Mohamed: Klar, sind wir.
Die beiden lesen weiter. Gar nicht so einfach, den Satz «Ein Zimmer voller Lehrer oder das perfekte Schlafprogramm» laut vorzulesen. Langes Wort, dieses «Schlafprogramm» aber lustig. Die beiden lachen. Zwei Leser, zwei Freunde, zwei Nachbarn.
«Wir profitieren alle von unserem Haus der offenen Türen»
Esther Michel (44), Christoph Kinsperger (42), Billie (7). Und: Sarah Roth-Profenius (36), Benji Kesselbach (47), Billie (2 ½), Bo (6) wohnen in Zürich.
Die beiden Familien leben in einem verwunschenen alten Haus mitten in einem eher industriell geprägten Zürcher Quartier. Eine Familie wohnt in Parterre, eine in der ersten Etage. Die Kinder wuseln mal oben, mal unten herum. Da, wo es ihnen halt passt.
Esther: «Wir sind vor acht Jahren, kurz vor Billies Geburt, in dieses Haus gezogen und hatten den Wunsch, dass es ein ‹Familienhaus› werden würde.»
Christoph: «Billie ist ein Einzelkind, deshalb fanden wir den Gedanken schön, Nachbarn mit Kindern im etwa gleichen Alter zu haben, mit denen sie unkompliziert zu Hause spielen kann. Wir haben uns sehr gefreut, dass sich Sarah, Benji, Bo und die ‹kleine Billie› um die Wohnung beworben haben. Ideal.»
Benji: «Für uns war das auch ideal. Wir sind genau zur Coronazeit von Berlin nach Zürich gezogen. Homeoffice, Homeschooling, kein Kino, keine Restaurants, keine Freunde hier, keine Familie… Da wären wir ohne euch ziemlich einsam gewesen.»
Sarah: «Vor allem ich. Ich war gerade wieder Mutter geworden und hatte damals auch noch keinen Job in Zürich. Ein Glück, dass ich wenigstens mit jemandem im Haus sprechen konnte.»
Esther: «Einmal in der Woche essen wir gemeinsam Znacht. Meist bestellen wir Thai oder Grillieren, das ist zur Tradition geworden.»
Christoph: «Wir profitieren alle von unserem ‹Haus der offenen Türen›, wo die Kinder einfach, mal in diese, mal in die andere Wohnung gehen können.»
Esther: «Ja, das ist für mich als Selbstständige mit wechselnden Arbeitszeiten praktisch, dass ich sagen kann: Billie, klingle einfach unten, ich komme ein bisschen später.»
Billie: «Wir kriegen jetzt alle zusammen Häsli für den Garten. Schwarz-weisse. Ich habe schon eine Trinkflasche und einen Salzstein für sie.»
Christoph: «Und wir haben gemeinsam den Dachstock ausgebaut zu einem Kino/Spielzimmer/Yogaraum. Alleine wäre das kaum zu schaffen gewesen.»
Sarah: «So ist das perfekt. Man ist eine Gemeinschaft und trotzdem hat jeder seinen eigenen Bereich.»
Christoph (lacht). «Naja, eigener Bereich… Bo ist auch schon in unser Badezimmer spaziert, gerade als ich auf dem Klo sass. Ich glaube, zu Hause ist für unsere Kinder das ganze Haus.»
Esther: «Hinten im Garten haben die Kinder noch ein eigenes Spielhüsli – das ist Kinderzone. Die Nachbarn im Haus nebenan haben gerade Nachwuchs gekriegt. Wir machen nun ein Türchen in den Zaun, damit das Kind, wenn es etwas grösser ist, auch ganz einfach zu uns rüberkommen kann. Wäre doch schön.»
Billie: «Und ich bin die älteste von allen.»
Caren Battaglia hat Germanistik, Pädagogik und Publizistik studiert. Und genau das interessiert sie bis heute: Literatur, Geschichten, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – und wie man am besten davon erzählt. Für «wir eltern» schreibt sie über Partnerschaft und Patchwork, Bildung, Bindung, Erziehung, Erziehungsversuche und alles andere, was mit Familie zu tun hat. Mit ihrer eigenen lebt sie in der Nähe von Zürich.