Wechselmodell
Unsere Erfahrungen mit der alternierenden Obhut
Betreuen Vater und Mutter ihre Kinder nach einer Trennung zu gleichen Teilen, gilt das als vorbildlich. Was aber macht das mit den Eltern? Und was mit den Kindern? Ein Erfahrungsbericht.
Das jüngere Kind tickt aus, das ältere ist bedrückt: Beide wollen so nicht mehr weiter machen. Seit fast drei Jahren pendeln sie im Wochentakt zwischen uns Eltern hin und her. Jetzt haben sie genug. Was nun?
Rückblende: Vatertag 2018. Die Kinder wollen ihren Papa mit einem Picknick in Montreux überraschen. Die Sonne scheint warm am Ufer des Genfersees, die Stimmung ist gemütlich.
Als Paar hatten wir uns vier Jahre zuvor getrennt, als Eltern funktionieren wir gut. Gemeinsame Ausflüge, Feste, Ferien sind für uns normal. Wir hatten die Kinder immer schon mehrheitlich gemeinsam betreut. Für uns war klar, dass wir das auch im Fall einer Trennung so weiterführen würden. Obschon wir sicher waren, dass es nie soweit kommen würde.
Als es dann elf Jahre später trotzdem so weit war, kam uns das in der ersten schwierigen und schmerzlichen Zeit zugut. Streit um die Kinderbetreuung wäre für uns nicht infrage gekommen. Die Pfeiler waren bereits gesetzt. Die Mädchen würden nun jeweils dienstags und mittwochs sowie jedes zweite Wochenende von Freitag bis Sonntag beim Vater sein. Den Rest der Zeit bei mir. Das war für alle okay.
Auch die Alimenten-Zahlungen hatten wir als getrenntes Konkubinats-Paar selbst bestimmt. Die waren nicht im höheren Bereich, wir uns aber einig, dass sie variabel und wir flexibel sind.
Als ich nun an jenem Vatertag in Montreux mit meiner damals 14-jährigen Tochter kurz allein bin, sagt sie: «Wäre es okay für dich, wenn ich ab jetzt wochenweise abwechselnd bei Papi wohne? Ich möchte ihn gerne heute damit überraschen.»
Hundert Gedanken flitzen innert Sekunden durch meinen Kopf, wie eine Billardkugel, die zwischen die Banden prallt. Sie will gehen? Warum? Hat sie mich über? Bin ich nicht mehr genug? Oder zu viel? Zwar waren wir uns einig, dass das Betreuungsmodell geändert werden kann. Doch damit gerechnet? Nein, das hatte ich absolut nicht.
Aber ich sage: «Klar ist das okay. Sags ihm, er wird sich freuen.» Sie strahlt. Tatsächlich freut er sich. Er weint sogar ein bisschen. «Ich war emotional total überwältigt. Dass meine Tochter zu mir ziehen wollte, hat mich sehr berührt», sagt er heute rückblickend.
Noch am selben Abend packte das Kind. Dieses Mal einen prall gefüllten Koffer. Mehr also, als nur einen Pyjama für zwei Nächte. Ab da war sie für jeweils eine ganze Woche weg. Bis sie freitags zurückkam. Und eine Woche später wieder ging.
Die Jüngere, damals acht Jahre, wollte nicht wochenweise wechseln. Also blieben wir allein zurück. Und ja, es fühlte sich seltsam an. Da war eine Lücke. Ein Vakuum. Die witzige, unbeschwerte Art der Grösseren fehlte mir. Es wurde stiller im Haus.
Viel von ihrem gelebten Alltag bekam ich nun nur noch in Bruchstücken mit. Manchmal telefonierten wir am Abend. Aber oft hatte sie keine Lust, keine Zeit. Schickte ich ihr ne WhatsApp-Nachricht: «Na du, wie gehts?», kam zurück: «Ok.»
Aber ja, ich gewöhnte mich bald an die Situation. Die Jüngere aber war nicht glücklich. Die Schwester fehlte ihr. Die Gemeinsamkeiten. Das zusammen Rumhängen am Feierabend. Die Flüstermomente, die nur für sie beide bestimmt waren. Alles war jetzt auf ein Minimum reduziert, verschoben auf nächste Woche. Durch die inniger werdende Beziehung zwischen Vater und Schwester fühlte sie sich zunehmend aussen vor. Sie wollte Teil davon sein.
Schliesslich führte all das dazu, dass auch sie sich ein Jahr später der Schwester anschloss. Jede zweite Woche packten nun beide ihre Taschen und zogen zum Vater. Um mich wurde es still.
Der getrennte Vater geniesst Alltag mit den Töchtern
Die Kinder genossen es, den Papa nun über lange Zeit zu erleben. Den Alltag spüren, den Gute-Nacht-Kuss jeden Abend, in den Papa-Wochen. Wenns mal bei einem von uns Eltern Stunk gab, wussten sie, bald geh ich zum anderen. Streit und Uneinigkeiten wogen daher leichter.
Und ja, auch der Vater mochte es. «Durch die Trennung wurde unser Alltag jäh unterbrochen. Nun waren die Mädchen wieder bei mir, ganz nah. Das gemeinsame Leben, es fühlt sich gut an», sagt er.
Allerdings bekam nun auch er ungefiltert vor die Nase geknallt, wie es ist, wenn pubertierende Teenager explodieren. Laut und hysterisch schreien, schlecht gelaunt die Augen rollen, keine Antwort geben, die Küche im Chaos hinterlassen und trotzdem die Zimmertür knallen. Als die Mädchen hauptsächlich bei mir lebten, verschonten sie ihn mit üblen Launen und Pubertätsschüben. Ich bekam das voll ab.
Beschwerte ich mich bei ihm, meinte er lapidar: «Also bei mir sind sie immer total lieb und anständig.» Das «Irgendwas machst du falsch», oder «Es muss schon auch an dir liegen» waberte unausgesprochen und klebrig in der Luft. Doch mit dem nahen Zusammenleben änderte sich das. Bald schon fragte er, leise verzweifelt: «Wie lange geht so ne Pubertät schon wieder?»
Child weeks und wild weeks
Seither haben wir also «child weeks» und «wild weeks», wie es eine Kollegin mal ausdrückte. Wir gewöhnten uns an diese stillen und wilden Tage. Er wie ich. Und dann liebten wir sie. Spontan Freunde treffen? Möglich. Essen gehen, statt selbst kochen? Möglich. Feierabend um 18 Uhr? Alltag. Allein sein? Gern. Nichts erklären, nicht schlichten, nicht sprechen müssen? Wunderbar.
Ja, die neue Freiheit, sie fühlt sich gut an. Allerdings sind da auch jene Zeiten, in denen es zu still ist. Dann, wenn Freunde mit ihren Familien zusammen sind, wenn keiner Zeit hat für ne Auszeit. Ich allein rumhänge. Mich langweile. Tote Stunden.
In der Betreuungswoche ist das Haus laut
Beginnt meine child week, wird am Freitag gegen 18 Uhr die Tür aufgerissen. Die Kinder platzten rein. Laut. Ungestüm. Risse in der Stille. Im Nu ist der Korridor vollgestopft mit Sachen und Taschen. Knuddeln hier, drücken da. Elternbesprechung, mal zwischen Tür und Angel, mal bei einem Bier. Abschiedsumarmungen für den Papa.
Das Haus ist wieder laut. Voller Stimmen, Lachen, Gezanke und Geschrei. Das Bad ist permanent besetzt. Und innert kurzer Zeit sind überall Spuren meiner Töchter, tausend liegengelassene Sachen. Die schönen Seiten der child week. Und die anstrengenden.
Durch die Distanz wird vieles intensiver. Bewusster. Die Mädchen und ich bequatschen jeweils die Woche. Was gelaufen ist und was wir in unserer vorhaben. Erzählen uns, wie es uns geht. Was sie gerade beschäftigt. Und mich. Wir füllen beim gemeinsamen Einkauf den Kühlschrank und kochen auch mal zusammen.
Wechselmodell: Nirgends richtig zu Hause
So ging das fast drei Jahre lang. Bis. Ja, bis das jüngere Kind, gerade 12 geworden, vor Kurzem eben austickte. Der Anstoss dazu war mein Genörgel über die halb ausgepackten Taschen. Nach jeder Papa-Woche lagen die in ihrem Zimmer rum. Das Chaos, perfekt.
Doch statt die Forderungen wie üblich zu überhören, wurde sie laut: «Warum soll ich auspacken? Ich muss ja sowieso schon bald wieder alles einpacken! Das nervt! Es ist so anstrengend, ständig hin- und herzuziehen!» Sie weinte.
Ich war perplex. Damit hatte ich nicht gerechnet. Tags darauf erzählte ich ihrer Schwester davon. Und war wieder völlig überrascht. Über deren Reaktion. «Mir gehts genauso. Das ist mir alles zu viel», sagte sie bedrückt. Und sie sagte auch noch, was mich echt bestürzte: «Wenn ich 18 bin, ziehe ich mit meinem Freund zusammen. Dann habe ich endlich wieder ein richtiges Zuhause.» Also. Zeit für eine Familienkonferenz.
Das Wechselmodell immer wieder überprüfen
Zu viert sassen wir zusammen und diskutierten das Problem. Für uns Eltern war klar, dass wir nicht auf null zurückwollten, nicht zurück zum alten Modell, mit den zwei Tagen die Woche über und den geteilten Wochenenden. Keiner von uns wollte verzichten. Weder auf die intensive Zeit mit den Kindern, noch auf den – für uns – angenehmen Auszeit-Rhythmus.
Genauso wenig kam für uns eine Alternative wie etwa das Nestmodell infrage, bei dem die Eltern pendeln. Wir schlugen verschiedene Varianten vor, die Tage anders aufzuteilen. Es gab Tränen. Und Vorwürfe, warum sich Kinder anpassen und den Wohnort wechseln müssten, Eltern jedoch nicht.
Müde vom Diskutieren schlugen wir eine Zwei-Wochen-Variante vor. Und: Der betreuende Elternteil sollte jedes zweite Wochenende einen freien Abend bekommen. Die Begeisterung über den neuen Rhythmus hielt sich bei allen in Grenzen. Versuchsstart war der 1. Januar 2021.
Nun. Seither sind ein paar Wochen vergangen. Und es fühlt sich tatsächlich besser an. Es ist jetzt mehr Ruhe, die Kinder können sich niederlassen und dann auch bleiben, für eine Weile.
Einmal pro Woche treffen wir uns beim betreuenden Elternteil zum gemeinsamen Nachtessen. So bleiben wir in gutem Kontakt. Wir haben mehr von uns, mehr Abende, mehr Zeit für gemeinsame Essen, für Gespräche. «Es ist wirklich entspannter, für die Mädchen und auch für mich», sagt auch der Vater.
Die alternierende Obhut verlangt viel Flexibilität. Von uns allen. Auch wenn es manchmal holpert, ist es für uns der beste Weg. Warum wir nicht von Anfang an dieses Modell gewählt haben, fragte der Kindsvater kürzlich. Unsere Jobs hätten es möglich gemacht. Und die Kinder waren schon früh selbstständig. Ich habe keine Ahnung, sage ich, es war damals einfach nicht Thema.
Was ist alternierende Obhut
Kinder entwickeln sich in der Alternierenden Obhut wie in einer intakten Familie. Dies haben neueste Studien ergeben. Die alternierende Obhut bedingt nicht zwingend, dass die Eltern die Kinder zu je 50 Prozent betreuen.
Ab einer Aufteilung von 30/70 spricht man von alternierend. Eine Erhebung vom Bundesamt für Statistik im Jahr 2018 hat ergeben, dass immer mehr Kinder von beiden Eltern betreut werden (57 Prozent) und/oder in beiden Haushalten leben, oft sogar zu gleichen Teilen. Kinder unter 13 Jahren werden häufiger auch vom anderen Elternteil betreut (67 Prozent) als ältere Kinder.
Seit dem revidierten Kinderunterhaltsrecht von 2017 müssen Gerichte und Kindesschutzbehörden im Scheidungsoder Trennungsfall die alternierende Obhut prüfen, sofern ein Elternteil dies verlangt. Verschiedene Bundesgerichtsentscheide, die neusten von 2019 und 2020, geben nun die «Marschrichtung» vor: Die alternierende Obhut muss gewährt werden, sofern das Kindeswohl nicht gefährdet ist.
Als Quereinsteigerin in den Journalismus schreibt Anita Zulauf erst für die «Berner Zeitung», die Migrationszeitung «Mix», nun bei «wir eltern» und als freie Journalistin bei dem Kulturmagazin «Ernst». Sie mag Porträts und Reportagen über Menschen-Leben und Themen zu Gesellschaft und Politik. Als Mutter von vier Kindern hat sie lernen müssen, dass nichts perfekt, aber vieles möglich ist.