Digitale Medien
Mit Kindern das Smartphone erkunden
Von Anita Zulauf und Martina Schnelli
In Zeiten des «Social Distancing» spielen digitale Geräte in Familien rund um die Welt eine noch grössere Rolle. Erziehungswissenschaftlerin Jutta Wiesemann erforscht, was Digitalisierung mit den Allerkleinsten macht – und plädiert für mehr Gelassenheit.
«Frühe Kindheit und Smartphones» heisst das Forschungsprojekt von Jutta Wiesemann (geb. 1960). Sie ist Professorin für Erziehungswissenschaften an der Uni Siegen (D) und untersucht seit 2016, wie Kinder zwischen null und sechs Jahren mit Smartphones umgehen und welche Rolle digitale Geräte in Familien rund um die Welt spielen. Dazu begleiten sie und ihr Team 20 Familien in fünf Ländern mit der Kamera. Das Projekt ist das einzige dieser Art und läuft bis 2028.
wir eltern: Frau Wiesemann, seit vier Jahren filmen Sie und Ihr Team Familien in der Schweiz, Deutschland, Indien, Marokko und in Österreich, um zu schauen, wie Kinder im Zeitalter digitaler Medien aufwachsen. Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis?
Jutta Wiesemann: Digitalisierung verändert alles – wie wir Beziehungen führen, wie wir in der Familie miteinander umgehen, wie wir uns Wissen aneignen. Doch obwohl das Smartphone alltäglich geworden ist, tun
sich Eltern schwer zu entscheiden: «Was ist gut für unser Kind?» Sie sind verunsichert, fragen sich: Darf ich das? Während dem Kochen das Kind mit dem Smartphone beschäftigen? Ein digitales Buch vorlesen? Gemeinsam ein Filmchen schauen? 2019 zeigten wir in einer Ausstellung, wie die von uns untersuchten Familien das Smartphone im Alltag einsetzen. Besucher – junge Mütter und Väter – waren geradezu erleichtert zu sehen, dass andere ihren Kindern ebenfalls das Smartphone in die Hand geben. «Das machen wir auch», war die für sie wichtige Erkenntnis. Und: «Scheint doch normal zu sein.»
Sie plädieren für einen unbefangeneren Umgang mit digitalen Medien?
Wir geben Kindern Schnuller oder Rasseln, damit sie ruhig sind und wir schnell die Wäsche aufhängen können, warum dann nicht auch ein Smartphone? Ich halte nichts davon, diese Geräte zu verteufeln, wie es im öffentlichen Diskurs nach wie vor geschieht. Für Eltern ist es nicht hilfreich, wenn Hirnforscher im Zusammenhang mit Smartphones Krankheiten und Gefahren heraufbeschwören. Fakt ist: Das Ding können wir nicht mehr abschaffen. Mein Job ist es, das Phänomen genau anzuschauen und offen zu diskutieren. Eltern wiederum sollten mit Kindern gemeinsam das Smartphone erkunden.
Wie meinen Sie das?
Verteufeln wir digitale Medien, verhindern wir, dass Eltern offen darüber mit ihren Kindern reden und gemeinsam Regeln aufstellen. Denn diese braucht es – wie etwa «das Smartphone hat beim Essen nichts zu suchen». Daran müssen sich aber auch Eltern halten. Wird der Nachwuchs älter, ist es wichtig, ihn nicht mit den Geräten alleine zu lassen: Dabei sein, beobachten, fragen: «Was machst du da? Das ist ja spannend!»
Und was machen wir mit den Allerkleinsten?
Es gibt keinen einzigen Grund, weshalb man Kleinkindern auf dem Smartphone nicht einen Film zeigen sollte, auf dem sie selbst zu sehen sind. Medien wurden schon immer verteufelt – früher waren es eben Comics oder Fernsehen. Deshalb ist es absurd zu behaupten, Kinder dürften frühestens ab drei Jahren ein Tablet in die Hand bekommen oder Smartphones seien erst ab 14 Jahren erlaubt. Dies entspricht nicht der Realität, in der Kinder aufwachsen. Zudem: Digitale Medien sind nicht die Ursache für Schwierigkeiten in einer Familie, sie bringen diese nur auf spezielle Weise hervor.
Und sie werden von allen begehrt: Schliesslich sind sie immer dabei, blinken, sprechen…
Genau. Eltern mögen im Umgang mit Smartphones noch nicht so sicher sein – für den Nachwuchs sind sie ganz normal. Kinder gehen sehr souverän und natürlich damit um, geben ihnen auch oft Namen. So heisst das Gerät in einer Familie «Hallo», in einer anderen «Papa».
Sie sagen, Digitalisierung verändert, wie wir Beziehungen aufnehmen und führen – was meinen Sie damit?
Mit der Digitalisierung ändert sich die Art und Weise, die Welt zu sehen und sich selbst: Wer bin ich? Wo höre ich auf? Wo sind die anderen? Diese Grenzen verwischen. So hat sich das Verständnis von Anwesenheit und Abwesenheit durch den alltäglichen Gebrauch digitaler Medien völlig verändert. Früher war eine Person abwesend, wenn sie den Raum verlassen hat. Heute kann sie via Skype oder Videoanruf für das Kind immer noch anwesend sein. Schon Kleinkinder verstehen ein Smartphone als «Oma ist da drin» und kommunizieren unbedarft – sowohl face-to-face als auch face-to-screen. Wir nennen das Phänomen «Oma in unterschiedlichen Darreichungsformen».
Sie meinen, wenn Oma virtuell mit am Tisch sitzt, obwohl sie wegen des Coronavirus nicht mehr zu Besuch kommen darf?
Genau, sie ist gleichzeitig da und auch wieder nicht. Das Spannende daran: Kinder unterscheiden nicht zwischen Präsenz auf dem Bildschirm und leibhaftiger Anwesenheit. Eltern versuchen diese Differenz oft sprachlich zu vermitteln, betonen etwa: «In drei Wochen sehen wir Oma» – was Kinder nur verwirrt. «Wieso?», denken sie dann, «wir sehen sie doch gerade!»
Noch bevor die Generation Smartphone in den Kindergarten kommt, wurde sie tausendfach fotografiert – von ihren Eltern hingegen gibt es oft nur wenige Kindheitsfotos. Wie prägt das heutige Kinder?
Tatsächlich ist diese Kleinkindgeneration die erste, die sich selbst beim Aufwachsen zusieht. Sich-selbst-Betrachten ist dabei etwas anderes, als sich im Spiegel zu erblicken. Wer sich so sieht, hat ein anderes Verhältnis zu sich und der Welt. «Das bist du» ist einer der häufigsten Sätze, der in Familien fällt. «Schau, da hast du das erste Mal Brei gegessen, da Laufen gelernt», sagt der Vater, zeigt aber nicht auf das Kind, sondern auf das Video. In Zeiten von Selfies und Videos löst sich Identität vom Körper und nimmt Formen an, die medial geteilt werden können.
Was macht das mit Kindern?
Selbstbild und Identitätsbildung laufen künftig viel mehr über digitales Material. Es bleiben Unmengen von Bildern und Filmen, auf die immer wieder Bezug genommen werden kann. Wir wissen noch nicht genau, wie sich diese ständige Vorzeigbarkeit auswirkt, aber sie wird Folgen haben – auf unsere Vorstellung von Personen und deren Identitäten. Während meine Generation eine lineare Erinnerung hat, werden heutige Kleinkinder ihr Aufwachsen eher als Fleckenteppich verschiedener Foto- und Filmdokumentationen sehen. Gleichzeitig selektieren Kinder früh, was ein gutes Foto ist, sagen etwa: «Oma soll das nicht sehen.» Hier beginnt das Aushandeln, was öffentlich ist, was privat. Aber auch ganz praktisch zeigt sich die Digitalisierung im Alltag.
Woran denken Sie?
Familien haben den Videobeweis für sich entdeckt. Will das Kind nicht baden, sagt aber «Morgen mache ich das», nimmt Papa das Statement auf. Gibt es am anderen Tag wieder Streit darüber, zieht er das Smartphone heraus und sagt: «Moment, schau mal, was du gestern versprochen hast.» Diese neuen Formen der Dokumentation verändern den Familienalltag.
Inwiefern beeinflussen digitale Medien frühes Lernen?
Schon die Kleinsten können mit dem Smartphone ein Verhältnis zur Welt entwickeln und diese gestalten, etwa durch erste Formen digitaler Mitteilung: Kinder lieben es, wild auf dem Smartphone herum zu drücken und bunte Bildchen – Emojis – zu verschicken. Aber auch Erwachsene müssen Kommunikation neu denken: Wie beende ich ein Gespräch auf Whatsapp? Braucht es eine Grussformel, obwohl die Konversation informell ist? Ähnlich verhält es sich bei Skype-Gesprächen: Während ich ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht beende, in dem ich die Tür hinter mir zu ziehe, muss ich beim virtuellen Gespräch einen Knopf drücken. Dies mit Oma zu koordinieren, kannherausfordernd sein. Kommunikationsprozesse transformieren sich also medial, Rituale und Routinen verändern sich.
Was hat Sie am meisten überrascht?
So verschieden die von uns begleiteten Familien sind mit ihren unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergründen: Die Formen der Aneignung des Smartphones durch die Kleinen ist überall ähnlich. Kinder lernen, dass dieses Gerät zum Familienalltag gehört und erobern es sich wie den Schlüsselbund der Mutter durch Greifen und in den Mund nehmen. Sie lernen früh, sich vor der Kamera in Pose zu bringen oder per Video zu telefonieren. Die Gespräche um Nutzung des Smartphones von Kindern, die wir in indischen Familien führen, unterscheiden sich jedoch von den hierzulande häufigen Gefahrendiskursen: In Indien beschäftigen sich Erwachsene und Kinder unbefangen mit digitalen und elektronischen Spielgeräten, das Smartphone ist nur eines von vielen Spielsachen.
Was wünschen Sie sich für den Umgang mit digitalen Medien?
In Vorträgen zeige ich gerne zwei Fotos: Auf dem ersten ist ein Kind in einer Wiese zu sehen, das fasziniert eine Blume betrachtet. Davon sind immer alle begeistert. Das zweite Bild zeigt ein Kind, das starr auf einen Handybildschirm blickt – was bei Zuschauern in der Regel Entsetzen hervorruft. Wir müssen uns jedoch klar machen, dass unser Bild vom kindlichen Lernen in der Natur überholt ist und Foto Nummer zwei genauso der Realität entspricht. Wir können das Rad nicht zurückdrehen, sondern müssen mit den Folgen der Digitalisierung zurechtkommen und verstehen, was diese für uns und unsere Kinder bedeutet, anstatt sie pauschal zu verteufeln. Deshalb ist es Zeit für ein neues Kinderbild.