Psychologie
Mit einem Therapiehund Vertrauen lernen
Im Schulinternat Ringlikon unterstützt ein Therapiehund Kinder mit Bindungsstörungen dabei, Vertrauen zu den Menschen zu fassen. Ein Augenschein vor Ort.
Eben noch schnatterte Salim* wie ein Gänserich. Jetzt wird der Siebenjährige ruhig, sein kleiner Körper spannt sich und er befiehlt dem grossen Schäferhund, Platz zu nehmen. Das Hundeguetzli hält Salim fest umklammert in der Hand. «Fuss, Shiva, hier hindurch!» Der Rüde kriecht durch den dunkelblauen Spieltunnel, setzt sich danach wieder hechelnd neben Salim und klaubt mit spitzer Schnauze das Leckerli aus seiner Hand.
Ursula Rey (57) schaut genau hin, lacht und lobt: «Bravo, Salim, du bist richtig konzentriert geblieben!» Dann nimmt die Hundetrainerin einen weiteren Hundekeks aus ihrer Umhängetasche und drückt ihn Dana* in die Hand.
Die 13-Jährige – lange wallende Haare, erhobener Kopf, gereckte Brust – dirigiert den Schäfer durch einen ganzen Parcours: Auf ihren Befehl hin umrundet Shiva Fähnchen, überspringt in gestrecktem Galopp vier Hürden, robbt durch den Tunnel und – «Shiva, Sitz!» – nimmt wieder Platz neben Dana. «Gut gemacht, Shiva!», ruft das Mädchen und öffnet lächelnd die Faust mit dem Leckerli.
Starke Ängste und Traurigkeit
Vor vier Jahren, als Dana nach Ringlikon kam, wäre es undenkbar gewesen, dass sie einen Hund über Minuten hätte führen können. Es ging ihr damals schlecht. Schon als Zweitklässlerin entwickelte sie Ängste, zum Beispiel vor dem Ausgelachtwerden. Oder sie fühlte sich so traurig, dass sie nicht mehr leben wollte. Dann wieder brauste sie unkontrolliert auf, um sich gleich darauf zu verkriechen. In der Schule galt sie bald als «nicht mehr tragbar». Diagnose: starkes ADHS. Danas alleinerziehender Mutter fehlte die Kraft, neben der Arbeit auch noch für ihre drei Buben und das belastete Mädchen zu sorgen. Aber auch im Schulinternat Ringlikon stiessen die Betreuer trotz geballtem pädagogischem Wissen zunächst an ihre Grenzen.
Und mit einem Hund musste man Dana damals schon gar nicht kommen. Vor Kötern hatte sie panische Angst.
Das Schulheim Ringlikon kauert hinter dem Zürcher Uetliberg am Waldrand, der Blick fällt ins Reppischtal. Deckung im Rücken und eine Perspektive vor Augen – das ist es, was die 38 Kinder brauchen. Wer hier wohnt und zur Schule geht, ist zwischen 4 und 14 Jahre alt und amtlich dokumentiert als «Kind mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten».
Frühkindliches Trauma
Was das bedeutet, erklärt der Institutionsleiter Patrick Isler-Wirth jetzt in einem der Sitzungszimmer: «Die meisten der Mädchen und Jungen bei uns erlebten frühkindliche Traumatisierungen. Viele leiden unter Bindungsstörungen und waren nirgends mehr tragbar.» Weder in der Familie noch in der Schule. Nicht einmal Pflegefamilien kommen für die kleinen Systemsprenger infrage.
Nicht wenige der Kinder mit Asperger Syndrom oder stark ausgeprägtem ADHS stammen zwar durchaus aus intakten Elternhäusern. Ungefähr zwei Drittel aber erlebten von klein auf seelische und körperliche Misshandlungen. Mit Eltern, die schlagen, drogen- oder alkoholsüchtig sind, das Kind sexuell missbrauchten oder im Gefängnis sitzen.
Die Kinder schleppen einen Rucksack voller Enttäuschungen, Ohnmacht und Wut mit sich herum. Manchmal gebärden sie sich gar zu zornig für das Schulinternat. Wie jener Achtjährige, der sein Zimmer demolierte, die Lichtschalter herausriss, die Möbel zerlegte. Fünf Polizisten und zwei Rettungssanitäter holten den Kleinen ab und überwiesen ihn in die Kinderpsychiatrie. Einen Isolierraum – Gummizelle im Volksmund – gibt es in Ringlikon nicht.
Hundetherapie für kleine Systemsprenger
Damit solche Szenen möglichst selten vorkommen, will Patrick Isler-Wirth alle Optionen pädagogischer und entwicklungspsychologischer Erkenntnisse ausschöpfen und nicht stur nur einer Theorie verhaftet sein. Zu seinem Team gehören Heil- und Sozialpädagogen, Psychologinnen und Psychiater, die Kinder besuchen die Logopädie, Ergotherapie, Psychomotorik und Reit- oder Figurenspieltherapie. Oder eben: die Hundetherapie.
Was Politiker vom rechten Rand «Kuschelpädagogik» nennen, ist der Versuch, Kinder mit schwierigsten Startbedingungen oder hirnorganischen Beeinträchtigungen aufzufangen. Sie an die Hand zu nehmen und sie darauf vorzubereiten, gesellschaftlich dazuzugehören. Die Kinder können nichts dafür, dass sie in ein zerrupftes oder liebloses Nest geboren wurden oder die Botenstoffe in ihrem Gehirn ausser Rand und Band geraten.
Charaktertier mit Jagdtrieb
Normalerweise findet «Shiva-Sport», wie alle das Training mit Hund nennen, ein- bis zweimal pro Woche statt, mit einem oder zwei Kindern. Oft aber wird ein Kind, das unkontrolliert von Gefühlen überschwemmt wird, ausflippt, nicht mehr stillsitzen kann, auch zwischendurch einmal für eine Runde zur Hundetrainerin geschickt.
Was Salim, Dana und elf weitere Kinder durch die Hundetherapie lernen, ist kein Kinderspiel. Mit Ursula Rey zusammen üben sie, sich auf eine einzige Sache zu konzentrieren, klar und deutlich zu formulieren, was sie vom Hund erwarten. Schweifen bei den Übungen die Gedanken selbstvergessen ab, trottet Shiva gelangweilt davon. Nur wer ihm klare Befehle gibt, hält ihn bei der Stange.
Ursula Rey suchte Shiva gezielt schon als Welpen aus, um ihn von klein auf zum Therapiehund auszubilden. Rasse und Geschlecht spielten dabei keine Rolle, im Grunde lässt sich jeder Hund trainieren. Aber bei einer Strassenmischung ist unsicher, welches Wesen einem erwartet, «und mit einer läufigen Hündin lässt sich zudem kaum arbeiten», erklärt Ursula Rey.
Ihre Wahl fiel deshalb auf einen Rüden. Einen Schweizer Schäferhund, der «ohne Ende» gefordert werden will. Kein flauschiges Pudeli, kein Schosshündchen, keinen Wauwau, der durch Reifen springt. Ein Charaktertier mit Jagdtrieb und starkem Willen sollte es sein. «Unsere Kinder haben oft ein gebrochenes Selbstwertgefühl – und es ist ein Unterschied, ob sie es schaffen, einen kleinen Kläffer oder einen Schäferhund zu führen.»
Shiva gibt Bodenhaftung
Shiva lernte früh, nicht zu bellen, wenn eine neue Person den Raum betritt, inmitten einer Schar tobender und schreiender Kinder bleibt er stoisch ruhig. Und er würde sich hüten, einem Kind ein Gipfeli aus der Hand zu schnappen oder an Hosenbeinen zu zerren. Denn auch ein Hund hat keine Lust auf einen Rüffel.
Über die letzten Jahre führte Ursula Rey Dana zunächst behutsam, dann mit immer schwierigeren Übungen an Shiva heran. Allmählich verlor das Mädchen seine Furcht vor Hunden. Jetzt verbringt es wöchentlich mehrere Stunden mit dem weissen Schäfer im Wald oder auf der weitläufigen Wiese vor dem Internat.
Wenn Danas Gefühle und Gedanken wieder einmal wie Blitzlichter in alle Richtungen schiessen, sie sich selbst zu verletzen droht und keinen mehr an sich heranlässt, genügt eine halbe Stunde mit Shiva, um auf den Boden zurückzukommen. Durch die Schulung mit dem Hund erfuhr Dana, dass man statt mit den Fäusten oder Redestreik auch mit klaren Worten und Körperhaltung etwas bewirken kann. Selbstwirksamkeit nennt es die Psychologie.
Dana gebraucht nicht das analytische Vokabular der Erwachsenen, wenn sie über die Bedeutung des Trainings mit Shiva spricht, sondern ihr eigenes: «Hunde sind lieber als Menschen, der Hundesport macht mich einfach glücklich.»
Aus der positiven Beziehung zum Tier soll irgendwann eine positive Beziehung zu Menschen werden. Dort wo bei manchen Kindern eine Lücke herrscht, sie sich vielleicht nie wahrgenommen und gespiegelt fühlten, weil die Eltern überfordert und mit sich selber beschäftigt waren, da wo gesunde Kinder ein Rückgrat, Bodenhaftung und ein starkes Gefühl für sich selber entwickeln konnten, da brauchen die Kinder in Ringlikon viel Unterstützung, um Wurzeln in der eigenen Seele schlagen zu können, um ihre Gefühle wahrzunehmen und diese zu benennen. Unter anderem dank der Beziehung zu Shiva. Das Streicheln seines kuscheligen, weissen Fells scheint die Kinder zu beruhigen, die Anleitung zu Übungen selbstbewusster werden zu lassen.
Ein Quäntchen Vertrauen
Jetzt ist Salim wieder an der Reihe. Aufgeregt setzt der Junge sich auf die Wiese und stülpt sich einen leeren Eimer über den Kopf. Die dünnen Beinchen zappeln, die Arme rudern in der Luft, als Dana nun ein Leckerli auf den umgekehrten Kübelboden legt. Für den Jungen ist es eine enorme Mutprobe, den riesigen Hund auf sich zuhecheln zu hören. Salim erobert mit der Übung ein Quäntchen Vertrauen zurück, das er schon früh verloren hatte. Was ihm als Kleinkind widerfahren ist, soll nicht in die Öffentlichkeit.
Jetzt aber, nachdem Shiva das Guetzli auf dem Eimer geschnappt hat, strahlt sein Gesicht. Überglücklich rennt Salim zu Ursula Rey und drückt seinen Kopf an ihren Bauch. Sie streichelt ihm über die dunklen Haare. Für Sekunden findet der Junge Halt, bevor er über die Wiese davonrennt. Die Lektion ist zwar noch nicht abgeschlossen. Doch kein autoritäres Hinterherrufen veranlasst ihn zur Umkehr. Er will zu seinen Freunden auf den Spielplatz. Punkt.
Ursula Rey seufzt – und lacht nachsichtig:«Es ist oft ein langer Weg, den die Kinder gehen müssen.» Sie versteht ihre Zöglinge, kann sich gut in sie einfühlen. Vielleicht deshalb, weil auch ihre Kindheit nicht in Watte gepackt war. Mangelnde Wertschätzung, Vernachlässigung und Schläge gehörten auch bei ihr zum Alltag, erzählt sie, ob in der Schule oder zu Hause. «Der einzige Ort, an dem ich mich geborgen fühlte, war das kuschelige Fell unseres Familienhundes.»
Puzzleteil in der Biografie
Aber das ist Vergangenheit, Ursula Rey hat sie längst verarbeitet. Seit dem Auszug ihrer eigenen Kinder konzentriert sie sich seit elf Jahren als «Hundesport»-Trainerin, wie sie ihre Arbeit nennt, auf die Buben und Mädchen im Schulinternat Ringlikon. Eingebunden in ein grosses Team an Fachpersonen, treibt sie das Pionierprojekt dank langjähriger Erfahrung mit Therapiehunden und der Begeisterung für jene Kinder, die nicht stromlinienförmig daherkommen, voran.
Ursula Rey macht ihren Job mit Herzblut. Illusionen aber gibt sie sich keinen hin: «Wir alle hier sind ein Puzzleteil in der Biografie der Kinder – wir geben unser Bestes und hoffen, dass daraus Dünger für einen fruchtbaren Boden für die Zukunft wird.»
Für Dana scheint der Boden gedüngt. Seit Kurzem wartet am Wochenende Luno, ein Golden Retriever, auf sie. Bald wohnt Dana wieder zu Hause. Dann darf sie den Hund zusammen mit ihrer Mutter zum Assistenzhund ausbilden. Zudem erhielt sie eine Spezialbewilligung, sie darf Luno künftig auch in der neuen Tagesschule dabei haben. Alles in der Hoffnung, dass Dana das feine Gefühlsnetz, das sie in der Beziehung zu Shiva aufgebaut hat, und das Werkzeug zum Handeln, das sie im Schulinternat in Ringlikon erhalten hat, ins Leben mitnehmen kann.
*Name von der Redaktion geändert