Flucht
«Ohne die Kinder würde ich in die Ukraine zurückkehren und kämpfen»
Die Ukrainerin Nataliia Popyk flüchtete mit ihren beiden Kindern vor sechs Monaten in die Schweiz. Über Monate hoffte sie, zu ihrem Mann und ihrer Mutter zurückkehren zu können. Daraus wurde nichts. Protokoll eines Lebens in der Warteschleife.
24. Februar 2022
Russland dringt gewaltsam in die Ukraine ein und Nataliia Popyks (38) Leben beginnt auseinanderzufallen. Wo Familie, Arbeit und Freunde unerschütterliche Heimat waren, schlagen die Bomben Löcher in Siedlungen und Seelen. Zwar stürzen im Westen des Landes, in Lwiw, wo Nataliia lebt, noch keine Häuser ein. Aber Wut und Fassungslosigkeit vermögen den Kampfgeist nicht ewig zu befeuern.
Als drei Wochen später, in der Nacht vom 13. auf den 14. März, doch Geschosse auf ihre Stadt fallen, packt Nataliia innerhalb von zwei Stunden zwei Rucksäcke mit Kleidern, Milchpulver und Windeln, schultert den sechs Monate alten Tadei, greift nach der Hand von Zlata (9). Ihr Mann fährt sie an die polnische Grenze. Von dort aus organisierten Schweizer Bekannte von Nataliia die Reise in die Schweiz.
15. März
Eine Familie in Rafz (ZH), mitgerissen von der Solidaritätswelle, heisst Nataliia und ihre Kinder willkommen. Im Einfamilienhaus direkt neben einer Baumschule erhält Nataliia ein Schlafzimmer für sich und ihre Kinder; Stube, Küche und Bad dürfen sie mitbenutzen. Darüber hinaus bieten die Gastgeber einen gedeckten Tisch, ein offenes Herz und viel Unterstützung beim teils kafkaesken Behördenkram. Von einem früheren Aufenthalt in der Schweiz blieben ein paar Brocken Deutsch, Englisch spricht Nataliia fliessend.
30. März
Nataliia sitzt am grossen Holztisch in der offenen Küche in Rafz, Tadei auf ihrem Arm nuckelt schläfrig am Milchschoppen. Kurz zuvor habe ihm sein Papa über Whatsapp zugewinkt, erzählt Nataliia. Der Vater blieb zurück in Lwiw, wie alle wehrfähigen Männer zwischen 18 und 60 Jahren und Väter mit weniger als drei Kindern. Nataliias Mann verteidigt sein Land. Er leistet humanitäre Hilfe, versorgt Alte, Kranke, Zurückgebliebene. Für Nataliia ist das richtig so. «Hätte ich keine Kinder, ich wäre geblieben und hätte selber gekämpft», sagt sie. «Wir Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen seit 300 Jahren – kein Putin wird uns unsere Heimat rauben.»
Nataliia ist eine Soldatin im Geist. Aber dennoch zu bodenständig, um sich der Realität zu verweigern. Der Realität als Mutter mit zwei Kindern, die sie brauchen. So schaukelt sie ihren Sohn auf ihren Armen, bis er einschläft und sorgt dafür, dass Zlata sich über das iPad per Video-Call in den Unterricht in der Ukraine einklinkt. Ihre Lehrerin holt die Kinder – wie zu Coronazeiten – per Homeschooling ab und vermittelt den in alle Winde zerstreuten Schülerinnen und Schülern ein Quäntchen Normalität.
In Rafz konnte Zlata noch nicht eingeschult werden, die Behördenmühlen mahlen langsam. Nataliia aber will, dass ihre Kinder Bildung erhalten, egal, wo auf der Welt.
Auch Nataliia ist gut ausgebildet und führte in der Ukraine ein zufriedenes Mittelschichtsleben. Nach zwei Mastern in Linguistik und Ökonomie stieg sie in die Finanzbranche ein und arbeitete in der Stadtverwaltung für ausländische Investoren. Sie erklomm Stufe um Stufe, wollte ihr eigenes Geld verdienen, nie abhängig sein von Männern.
Nataliia liebte das Leben in Lwiw, einer jungen, ganz nach Europa ausgerichteten Stadt. «In der Schweiz hat niemand auf uns gewartet», sagt sie. Betont aber auch immer wieder, wie herzlich die ukrainischen Flüchtlinge hierzulande aufgenommen werden.
5. April
In Rafz beginnt Nataliia, die Decke auf den Kopf zu fallen. Sie fühlt sich eingesperrt mit ihren Kindern. Tadei kränkelt, Zlata ist noch immer nicht eingeschult. Auch die Gastfamilie stösst trotz aller Bemühungen teilweise an ihre Grenzen angesichts der behördlichen Schwerfälligkeit. Zudem lassen sich zwei Erziehungskulturen und Gewohnheiten und vier anspruchsvolle Kinder nicht so einfach vermengen wie Erdbeer- und Vanille-Eis.
20. April
In der Schweiz blühen Bäume und Wiesen, dem Frühling ist das Metzeln und Morden anderswo in Europa egal.
Heute, bei unserem zweiten Treffen in Rafz, drängt es Nataliia zu erzählen. Als könne sie damit ein Flussbett schaffen, das die Fluten an Gefühlen kanalisiert, eine Einordnung finden für die Kräfte, die auf sie einstürmen.
«Wenn ich allein wäre», sagt Nataliia, «würde ich sofort zurückkehren und kämpfen.» Aber ihren Kindern will sie ihr Herkunftsland nicht zumuten. Für sie bleibt sie in der sicheren Schweiz. Für ihre Kinder bleibt sie stark. Für sie hält sie tagsüber die Tränen zurück, erlaubt sich, nur nachts zu weinen, wenn die beiden schlafen.
Der Krieg wird hässlicher. In Mariupol sind die Menschen eingekesselt. Weil Hilfsorganisationen es nicht schaffen, humanitäre Korridore zu errichten, verhungern und verdursten die Bewohner der Stadt.
Über Whatsapp schildert ihr Mann Nataliia, wie er bei Bombenalarm in Lwiw Schutz in der Garage sucht – einen Luftschutzkeller gibt es nicht. Deshalb komme es nicht darauf an, ob sein ewiges Grab nach einem Bombeneinschlag im Keller oder zwischen den Autos liegen werde.
Auch mit ihrer Mutter whatsappt Nataliia täglich, sie hat ein enges Verhältnis zu ihr. Doch überreden zur Flucht konnte sie sie nicht. Ihre Mutter wollte in ihrem Vorstadthäuschen in Tscherwonograd nahe Lwiw zurückbleiben. Dort pflegt und bepflanzt die bald pensionierte Lehrerin ein kleines Stück Land mit Gemüse. Vergangenen Freitag schlug eine Bombe in der Nähe der Stadt ein. Man gewöhne sich daran, sagte die Mutter zu Nataliia am Telefon.
Bisweilen beschreibt Nataliia den Scherbenhaufen in ihrer Heimat nüchtern, dann wieder voller Verzweiflung und Wut. Ihr Leben ist in den Grundfesten erschüttert. Sie fühlt sich hilflos und ausgeliefert, hat kaum Optionen zu entscheiden, wie es weitergehen soll. Immer wieder ploppt der Gedanke auf, einen Bus zurück in die Ukraine zu besteigen. Zurück zu ihrem Mann und ihrer Mutter. An das erfüllte Leben zuvor anzuknüpfen. Doch sie schiebt diese Idee als Illusion beiseite. Die Vergangenheit ist tot.
Wie nicht verrückt werden, angesichts dieser Zerrissenheit und aussichtslosen Lage? Auf die Frage hin lacht Nataliia kurz auf und greift nach dem Handy auf dem Tisch: «Innerlich alterte ich um 100 Jahre», sagt sie und zeigt ein Selfie vom gestrigen Tag, auf dem sie mit verquollenen Augen und zerzausten Haaren in die Kamera blickt. «Die Kinder halten mich am Leben. Und ich glaube an Gott, das hilft.» Allabendlich um 20 Uhr nimmt sie online an den Gebeten eines jungen Priesters teil. Hunderttausende Ukrainer* innen hören ihm zu, finden für Momente Trost und Ruhe in ihrem Dasein, das fragmentiert vor ihnen liegt wie ein zerbrochener Krug.
2. Mai
Zlata besucht seit zwei Wochen die dritte Klasse in Rafz. Sie kann auf Deutsch bis 25 zählen, strahlt wie ihre Mutter Stolz und Kraft aus, ist gleichzeitig schüchtern und verspielt.
Für Nataliia aber wird je länger, desto klarer: Sie will einen Job und eine eigene Wohnung für sich und ihre Kinder. «Eine 1-Zimmer-Wohnung genügt – ich möchte einfach nach meinen eigenen Regeln leben.» Schnell schiebt sie nach, dass sie sich keineswegs überworfen habe mit der Gastfamilie in Rafz, dass diese wirklich alles für sie unternommen hätten. Doch vielleicht ist es als Flüchtling in der Fremde besonders wichtig, einen Wohnraum ganz für sich zu haben. Einen Raum, in dem die stete Beherrschung der Gefühle, die fortwährende kulturelle Anpassung fallen darf.
25. Mai, nachmittags
Nach dem Mittagessen will Nataliia den Quartierhilfe-Laden der nahen Siedlung besuchen. Dieser wurde kurz nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs eröffnet und bietet gesammelte Kinderkleider und -schuhe, Spielzeug, Puppen, Malstifte. Nataliia zieht ein blaues Hemd und eine braune Manchesterhose für Tadei vom Bügel. Zlata würde am liebsten sämtliche Legos, Playmobilfiguren und Stofftiere einpacken. Hamstern aber gilt nicht. Es stehen noch viele andere Ukrainerinnen und weitere Flüchtlingsfrauen aus aller Welt im Laden.
Tadei ist im Kinderwagen eingeschlafen. Nataliia will noch im nahe gelegenen Rosengarten spazieren gehen. Sie zieht die stark befahrene Strasse der Abkürzung durch das ruhige Quartier vor. Die Hauptstrasse erinnert sie an eine ähnliche in Lwiw. «Hier kann ich mir einen Moment einbilden, ich sei zu Hause», sagt sie. Und wischt sich die Tränen aus den Augen. Heimweh ist ein Schmerz, der jedes Licht schluckt wie ein schwarzes Loch.
6. Juni
Endlich hält Nataliia den Ausweis mit Schutzstatus S in Händen, auf den sie monatelang gewartet hatte.
In einer Mail schreibt sie: «Letzte Woche startete Zlata endlich mit der Schule in Bern, sie ist glücklich.» Aber auch: «Es ist schwierig hier. Dein Land ist teuer. Zu teuer. Wenn der Krieg nicht bald aufhört, denke ich darüber nach, in ein anderes Land zu ziehen.»
Der Krieg ist nicht zu Ende. Er tötete bisher Tausende, trieb Millionen in die Flucht. Die Bomben Putins zersetzen das Land täglich weiter. Die Bilder mit den zerstörten Häusern erinnern an einen Mund voller zerfressener Zähne.
In der Ukraine lebte Zlata im Sommer jeweils für zwei Monate bei ihrer Grossmutter – und liebte es. Weil die Oma nur eine kurze Autofahrt entfernt am Rande von Lwiw wohnt, fuhr Nataliia unter der Woche oder am Wochenende regelmässig bei Zlata und ihrer Mutter vorbei. «Familie ist wichtig für uns, die Haustüre steht für alle jederzeit offen», sagt sie. In der Schweiz hingegen herrsche eine Reserviertheit zwischen Grosseltern und erwachsenen Kindern. «Statt wie bei uns frei ein und aus zu gehen bei den eigenen Eltern, lädt man sich hier zu Kaffee und Kuchen ein und geht nach zwei Stunden wieder weg.»
Nataliia vermisst ihre Mutter. So sehr, dass sie sie immer wieder bittet, wenigstens für eine Weile in die Schweiz zu kommen, um sie mit den Kindern zu unterstützen. Zumindest während der grossen Sommerferien. Endlich willigt diese ein.
22. Juli
Für den Fototermin hat Nataliia sich und ihre Kinder besonders schön gekleidet. Und sie wirkt entspannter als noch vor sechs Wochen. Das hat einen Grund: Seit ihre Mutter hier ist (die nicht fotografiert werden möchte) und die teils schwierigen Nächte mit Tadei übernimmt, schläft Nataliia wieder durch. Zudem kann sie tagsüber die Haushalts- und Betreuungsarbeiten bei der Berner Familie ohne das Baby auf den Armen erledigen. Ihre Mutter schaut derweil zu den Enkelkindern.
Mitte August wird sie zurück nach Lwiw reisen. Davor fürchtet sich Nataliia.
Den Gedanken, in ein anderes Land zu ziehen, hat Nataliia verworfen. Solange Krieg herrscht, will sie in der Schweiz bleiben.
26. Juli
Nataliia schickt per Whatsapp ein Foto: Vor ihrer Wohnungstüre lagen heute Morgen fünf Pack Pampers und zwei grosse Dosen Aptamil. Dazu schreibt Nataliia: «Just wanted to show how Swiss people help us. It’s priceless!» Ein vor Rührung weinendes Smiley schliesst den Text ab.
August 2022
Das letzte halbe Jahr erschütterte Nataliia in ihrem Kern. Von einer ambitionierten Business-Frau wurde sie zu einem Flüchtling. Das Dasein in der Warteschlaufe vermag Lebensmut zu zersetzen, die Wut über Putins Krieg bleibt.
Doch Nataliia lässt nicht zu, dass sich Resignation einnistet. Sie kämpft weiter um ein würdiges Leben für sich und ihre Kinder. «Wir Ukrainerinnen und Ukrainer werden vielleicht über den Erdball verstreut leben, aber wir tragen unsere Heimat im Herzen. Wir verlieren unsere Jobs, unseren Lebensstandard, geliebte Menschen – aber unsere Wurzeln verlieren wir nicht. Irgendwann werde ich mein Land wieder aufzubauen helfen – ob von der Schweiz aus oder in der Ukraine.»