Entwicklung
Spiele: Kinder müssen verlieren erst lernen
Zank, Tränen, Wutausbrüche – das alles können Uno, Eile mit Weile und Co. bei jüngeren Kindern auslösen. Wie Eltern Freude an den Spieltisch bringen und Frust begegnen können.
Konzentriert legt meine vierjährige Tochter die Uno-Karten vor sich hin. «Ich will den gelben Tukan», sagt sie und klaubt die entsprechende Karte aus dem Stapel heraus. «Ähm nein, du kannst die Karten nicht aussuchen», interveniere ich, «wir verteilen sie verdeckt.» «Ich will aber den gelben Tukan!», schreit meine Tochter nun energisch. Ok, soll sie ihn halt nehmen, dann können wir wenigstens spielen.
Eine Weile später: Wir sitzen vor einem Brettspiel mit Würfel. Sie würfelt drei, fährt aber vier. Weil sie so auf das bessere Feld gelangt. «Nein, du kommst auf dieses Feld, du hattest nur drei», sage ich. «Nein, ich will aber auf dieses Feld.» Und so geht das munter weiter. Beim Memory deckt sie drei Kärtchen auf, wenn sie kein Pärchen gefunden hat. Verliert sie beim Uno, fegt sie die Karten wütend vom Tisch.
Ich bin ratlos. Sollte Spiele spielen nicht Freude machen? Bin ich jetzt die kleinliche Spassbremse, wenn ich auf Einhaltung der Regeln bestehe? Dass sie verlieren lernen muss, ist mir klar. Doch wie reagiere ich, wenn sie schummelt oder ihre Enttäuschung in einen Wutausbruch mündet?
Zeit für ein Gespräch mit Fachpersonen. Das sind der Spieleentwickler Thomas Vock, Gründer und Geschäftsführer des Schweizer Spieleverlags carta.media, und die Entwicklungspsychologin Natascha Helbling, die an der Universität Zürich zur Entwicklung von Moral und sozialen Normen forscht. In zwei unabhängigen Gesprächen haben sie meine Fragen beantwortet.
Müssen Eltern auf Regeln bestehen?
Thomas Vock: Eltern sollten keinesfalls stets den Polizisten spielen. Aber Kinder müssen lernen, sich an Regeln zu halten. Man muss nicht jedes Spiel genau nach Anleitung spielen. Oft gibt es Varianten, die eine gewisse Flexibilität zulassen.
Natascha Helbling: Wichtig ist, dass das Kind mit den Regeln nicht überfordert ist. Manchmal brechen Kinder Regeln, weil sie diese von ihrem Entwicklungsstand her gar noch nicht einhalten können. Ist das Spiel altersgerecht, sollten Eltern grundsätzlich das Einhalten der Regeln einfordern.
Wie sollen Eltern reagieren, wenn ein Kind sich nicht an die Regeln hält?
Thomas Vock: Ich würde das Spiel unterbrechen und dem Kind erklären, dass ich so nicht mitmachen möchte.
Natascha Helbling: Eltern sollten die Situation spüren und Regeln nicht absolut und streng durchsetzen. Deckt das Kind aber beispielsweise beim Memory immer mehr Kärtchen auf, würde ich eine Pause einlegen oder eine andere Aktivität vorschlagen.
Bei jüngeren Kindern ist das Schummeln offensichtlich. Was sollen Eltern tun, wenn ein älteres Kind heimlich schummelt?
Thomas Vock: Auch das würde ich unterbinden und dem Kind erklären, dass andere nicht gerne mit Schummlern spielen.
Natascha Helbling: Ich würde das Kind darauf ansprechen, weshalb es schummelt. Oft steckt die Angst vor dem Verlieren dahinter. In diesem Fall würde ich fragen: «Was würde es denn bedeuten, wenn du verlierst?» Manchen Kindern macht das Mogeln aber auch einfach Spass. Dann kann man auch mal ein Schummel-Spiel spielen, zum Beispiel Mogelmotte.
zvg
Zu Beginn Spiele mit wenig Frust-Potential:
ab 2 bis 3 Jahren
♦ Erster Obstgarten von Haba: Gemeinsam versuchen die Spieler* innen, alle Früchte dank des Farbwürfels zu pflücken, bevor der Rabe sie erwischt.
♦ Hase hüpf! von Ravensburger: Die Spieler* innen legen Puzzleteile mit Tierkindern zur richtigen Familie und ahmen deren Geräusche und Bewegungen nach.
♦ Mein erstes Mitmachspiel von Ravensburger: Die Spieler* innen tanzen, singen, turnen, ahmen Tierstimmen nach und erspielen sich so zusammen das Zelt, in dem die Maus schlafen kann.
ab 4 Jahren
♦ Bauernhofbande von Haba: Die Bauernhoftiere nehmen Reissaus. Mit Glück beim Würfeln und etwas Strategie schaffen es die Spielenden, gemeinsam die Tiere zurückzulocken.
♦ Der Wolkenmacher von Haba: Mit Würfelglück, etwas Strategie und Merkfähigkeit kann man die Zutaten sammeln, um ein Wunderwetter zu kochen. Wer schafft es, bevor der Wolkenmacher nach Hause kommt?
ab 5 Jahren
♦ Mix Max Swiss Edition von carta.media: Durch Würfeln erhalten Spieler* innen Hut-, Kopf-, Bauch- und Beinekarten und setzen so lustige Fantasiegestalten zusammen. In der zweiten Runde stibitzen sie sich gegenseitig Karten, um richtige Figuren zu bilden.
Verlieren ist für Kinder schwierig. Sollen Eltern sie gewinnen lassen?
Thomas Vock: Kinder müssen das Verlieren lernen, aber genauso das Gewinnen, ohne überheblich zu werden. Ich würde sie nicht bewusst gewinnen lassen. Das merken sie ohnehin. Dennoch hat man verschiedene Möglichkeiten, damit Kinder auch Erfolgserlebnisse haben. Wichtig ist, dass das Spiel altersgerecht ist und alle die gleichen Chancen haben, zu gewinnen. In einem Wissensspiel kann das jüngste Kind zum Beispiel einen Götti bekommen, der ihm hilft. Oder bei Eile mit Weile können Erwachsene denjenigen Zug fahren, mit dem sie das Kind nicht nach Hause schicken.
Natascha Helbling: Ich würde ein Kind weder ständig gewinnen noch verlieren lassen. Erwachsene können sich zurücknehmen, wenn sie in einem Spiel überlegen sind. Verliert ein Kind immer, kann das der Wahrnehmung seines Selbstwerts schaden. Dennoch muss es auch lernen, mit der Frustration des Verlierens umzugehen.
Und wie hilft man dem Kind dabei?
Thomas Vock: Eltern können das Kind trösten und ihm vorschlagen, nochmals zu spielen.
Natascha Helbling: Eltern sollten dem Kind Zeit geben, den Frust loszulassen. Meist steckt hinter einem Wutanfall das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Eltern können die Gefühle der Kinder verbalisieren, indem sie beispielsweise sagen: «Ich verstehe, dass du enttäuscht bist. Das ist ok.» Wenn das Kind ruhiger ist, kann man ihm erklären, dass Verlieren dazu gehört und es nicht an seinen eigenen Fähigkeiten liegt. Danach kann man gemeinsam nach einer Lösung suchen, beispielsweise das Kind ermuntern, es nochmals zu versuchen.
Wie soll man selbst reagieren, wenn man verliert?
Thomas Vock: Auch beim Spielen haben Erwachsene eine Vorbildfunktion. Wird man nach einer Niederlage selbst wütend oder zeigt nach einem Sieg Schadenfreude, ist das nicht hilfreich.
Natascha Helbling: Eltern sollten gute Verlierer sein, dem Kind gratulieren und zeigen, dass Niederlagen in Ordnung sind.
Was halten Sie von kooperativen Spielen, bei denen man gemeinsam gewinnt oder verliert?
Thomas Vock: Von Spielen, bei denen niemand gewinnt, halte ich nichts. Aber bei kooperativen Spielen lernen Kinder, sich gegenseitig zu helfen und gemeinsam ein Ziel zu erreichen. Ich finde einen Mix wichtig: mal gemeinsam, mal gegeneinander.
Natascha Helbling: Gerade für kleine Kinder sind kooperative Spiele ideal. Ältere Kinder wollen sich oft messen. Doch auch hier gilt: Jede Familie soll das wählen, was ihr am meisten Spass macht.
Sibille Moor hat Anglistik studiert und mehrere Jahre als Redaktorin für Zürcher Tageszeitungen gearbeitet. Heute unterrichtet sie Englisch und Deutsch und textet als Social Media Managerin. Seit sie Mutter ist treiben sie die Herausforderungen im Familienalltag um. Und genau darüber schreibt sie für «wir eltern».