Gesellschaft
Späte Väter
Von Daniela Schwegler
Die Zahl der Männer im Alter von 50plus, die eine Familie gründen, hat sich in den letzten Jahrzehnten verdreifacht. Das späte Familienglück hat auch Schattenseiten.
Mit über 50 Jahren nochmals Vater zu werden, ist absolut rücksichtslos!», enervierte sich jüngst ein Leserbriefschreiber in der «SonntagsZeitung». Es ging um die Kinderrente für die Witwe, wenn ihr alter Mann stirbt, und für die Kosten dieses «Egotrips», für die wir alle via Sozialversicherungen aufkommen müssen. Sind späte Väter tatsächlich egoistisch und verantwortungslos? Denken die nicht an ihre Kinder, die sie bald zu Halbwaisen machen werden?
Tatsache ist: Alte Väter gibt es immer mehr. Während die Spätzünderväter sich mit 50plus erstmals überhaupt auf ein Kind einlassen, gründen die Last-Minute-Väter mit der zweiten oder dritten Partnerin bis ins Greisenalter nochmals eine Familie. Die Grenzen gegen oben sind dank Viagra offen. Stolze 93 Jahre war der älteste Papa im Jahr 2008, als sein Kind zur Welt kam, wie die Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen. Seine mittelalterlichen Geschlechtsgenossen stehen ihm nicht weit nach: 2010 zählt die Statistik 1174 Männer über 50, die nochmals durchgestartet und Väter geworden sind. Drei Jahrzehnte vorher, 1979, waren es erst 350. Damit hat sich die Zahl in gut 30 Jahren verdreifacht. Sodass heute jedes zwanzigste Neugeborene in der Schweiz einen Vater über fünfzig hat. In den USA ist es gar schon jedes zehnte.
Dank der medizinischen Wunderpraktiken sind zwar auch die späten Mütter auf dem Vormarsch. Aber im Gegensatz zur Frau gesteht man dem Mann seine späte Vaterschaft eher zu. Wird eine Gianna Nannini mit 54 Mutter, sorgt sie weltweit für Schlagzeilen. Und Kopfschütteln erntete auch die Bündner Pfarrerin, die dank In-vitro-Fertilisation mit 66 Jahren Zwillingen das Leben schenkte. Wieso dürfen eigentlich Männer spät Kinder bekommen und Frauen nicht?
«Die Mutter gilt immer noch als Hauptverantwortliche», sagt Soziologe François Höpflinger. Sprich: Den Vater sieht man eigentlich immer noch nicht in der Erziehung, sondern in erster Linie als Ernährer. Und da die Männer für ihre späte Vaterschaft eine junge Frau zur Hand haben, ist fürs Kind so weit gesorgt. Eine Frau hingegen, die ihre späten Mutterfreuden oft ganz ohne Mann an ihrer Seite umsetzt, geht zur Samenbank, lässt das Ei künstlich befruchten und einpflanzen. Und schon kann das kleine Glück in ihr heranreifen. Alles ganz ohne Mann an ihrer Seite. Was wohl so manchem wohlgeordneten Kopf die Zornesröte ins Gesicht treibt. Darf die das, in ihrem Alter, ganz ohne Mann?
Schichtspezifisches Privileg?
Kommt dazu, dass Frauen schneller als alt gelten, sagt François Höpflinger: «Männer haben ganz andere Toleranznormen. Vor allem, wenn sie einen gehobenen Status und ein gutes Einkommen haben.» Denn späte Vaterschaft sei in der Regel «ein schichtspezifisches Privileg des akademisch gebildeten, erfolgreichen und gut verdienenden Mannes – der durch seinen Status Macht und Anziehung auf jüngere Frauen ausstrahlt.» Für solche Männer sei es ein leichtes, sich eine Jahrzehnte jüngere Partnerin zu angeln. «Die älteren Männer verfolgen mit ihrer jungen Geliebten eine Art Anti-Aging-Strategie», beobachtet François Höpflinger. «Sie dient ihnen als Jungbrunnen.»
Und wenn die junge Partnerin Kinder will, willigen die meisten Männer ein, um sie nicht zu enttäuschen. Dabei ist die späte Vaterschaft nicht ganz ohne. Denn nicht nur bei Frauen steigt mit dem Alter das Risiko, sondern bei den Männern genauso. Je älter der Vater bei der Zeugung ist, desto eher kommt sein Kind ungesund zur Welt oder erkrankt im Laufe seines Lebens. «So ist etwa die Gefahr, ein Kind mit einer Geschlechtschromosomenstörung oder einer Erbkrankheit zu zeugen, deutlich erhöht», sagt der Zürcher Genetiker Roland Spiegel, «nur wissen das viele nicht.»
Während bei der Frau von Geburt an alle Eizellen da sind, werden beim Mann die Spermien zeitlebens neu gebildet durch Teilen und Kopieren der DNA-Stränge. Mit jeder Teilung steigt das Risiko, dass sich kleine Fehler einschleichen und «fehlerhafte Gene» produziert werden. Isländische Forscher lieferten jüngst Zahlen. Demnach gibt ein 20-jähriger Vater 25 neue Erbgut-Mutationen weiter, ein 36-jähriger bereits 50 – und ein 53-jähriger 100. Eine Mutter dagegen gibt unabhängig von ihrem Alter rund 14 Mutationen weiter.
Mutation ist zwar noch nicht gleich Defekt. Trotzdem steigt das Risiko. So zeugen ältere Väter nicht nur mehr Kinder mit Klinefelter-Syndrom, sondern auch mit Achondroplasie, einer Fehlbildung des Skeletts mit Zwergwuchs, sowie mit dem Apert-Syndrom, das mit Verformungen des Schädelknochens einhergeht.
Zudem steigt die Gefahr von psychiatrischen Erkrankungen. Das Risiko, ein autistisches Kind zu zeugen, ist bei 50-jährigen Vätern doppelt so hoch wie bei 25-jährigen. Das bestätigen Forscher vom Lawrence Livermore National Laboratory in Kalifornien. Und auch für die Mutter kann die Schwangerschaft offenbar gefährlicher sein, wenn der Vater nicht mehr der Jüngste ist. Die Gefahr, dass sie eine Fehlgeburt erleidet, steigt bei zunehmendem Alter des Vaters markant an.
Mehr Zeit, mehr Erfahrung
Doch selbstverständlich ist auch das späte Kinderglück ein Glück. Die Vorteile der Spätzünderväter: Sie nehmen sich oft mehr Zeit. Sei es, dass sie die Karrieresprossen schon hoch geklettert sind und einen Gang runterschalten können. Sei es, dass sie mit der zweiten oder dritten Partnerin und deren Kinder nachholen, was sie im ersten Anlauf verpasst haben während der Rushhour des Lebens mit Familiengründung, Hausbau und Karriereaufbau, als für die Kinder kaum noch Zeit blieb. Ganz anders die Spätberufenen. «Späte Väter stellen das Kind ins Zentrum», hat der Zürcher Journalist und Fotograf Philipp Dreyer beobachtet, der mit 49 Jahren selber erstmals Vater geworden ist. Die Erfahrung hat ihn so berührt, dass er wissen wollte, wie andere Männer ihr spätes Väterglück erleben. In seinem Buch «Späte Väter» hat er 18 Männer porträtiert – vom Chauffeur über den Schauspieler, Gefängnisseelsorger, Briefträger bis hin zum Hausmann. Mit seiner kleinen Feldforschung weitet er das Bild. «Früher fand man späte Väter vorwiegend in den gut situierten Kreisen von Anwälten oder Ärzten. Heute sind es Männer aus allen Schichten», so Philipp Dreyer. Allen späten Vätern gemein sei aber in der Tat, dass sie sich deutlich stärker engagierten als der Durchschnittspapa: «Viele stecken dafür auch gerne beruflich zurück.»
Der alte Papa ist also ein präsenter Papa. Wobei die Ausnahme die Regel bestätigt. Autorin Julia Onken ist selber Tochter eines alten Vaters. Er war 64, als sie zur Welt kam, «und eher ein Grossvater als ein Vater», erzählt sie. «Er war wie ein morscher Ast; wenn man rauf klettert, bricht er.» Drum war für den alten Herrn ein Schonprogramm angesagt. Der Vater hielt sich vornehm im Hintergrund. Während die 30 Jahre jüngere Mutter in der Fabrik arbeitete, die Brötchen für die Familie verdiente und auch zu Hause den Karren zog. Die beiden Frauen schweisste der abwesende Vater umso stärker zusammen. Sie waren ein eingeschworenes Team und einander inniger verbunden, als es für die Mutter mit dem alten Mann je möglich war. Julia Onken erlebte sich als «absolute Mutter-Tochter»: «Ich wurde x-fach entschädigt durch ihre liebevolle Zuwendung.»
Ob in der Erziehung präsent oder nicht. Späte Väter sind auf dem Vormarsch. Wir leben und lieben immer länger. So werden Frauen in der Schweiz heute im Schnitt 85 Jahre alt, Männer etwas über 80. «Die Veränderung der Alterspyramide wird noch einiges in Bewegung setzen», ist Julia Onken deshalb überzeugt, die die alten Väter heute mit versöhnlicheren Augen betrachtet: «Was soll ein Mann auch machen, der mit 65 pensioniert wird und vital und fit ist? Dann zeugt er halt ein Kind und ist wieder beschäftigt.»
Ähnlich pragmatisch sieht es Psychologe Klaus Heer. «Die Liebe ist so urwüchsig und eigenwillig und fällt hin, wo sie will; da spielen Jahrzehnte Altersunterschied kaum eine Rolle», findet er. Warum soll sich ein alter Mann dem Kinderwunsch seiner gebärwilligen Frau widersetzen? Selbst dem Greis mag er das sich Fortpflanzen nicht vergönnen: «Natürlich, wenn man die Vaterschaft des 93-Jährigen nur noch unter der Vater-Mutter-Perspektive betrachtet, ist man eingeengt. Weil der Vater sein Kind nicht mehr lange begleiten wird. Aber das Kind kann doch genauso glücklich werden wie dasjenige eines 20-jährigen Vaters», ist er überzeugt. Die Mutter ist vielleicht in ein Netz von Bezugspersonen eingebettet, die das Kind verlässlich und liebevoll mit ins Leben begleiten. Der Paartherapeut plädiert also dafür, die engen Raster in unseren Köpfen zu sprengen, wonach eine Familie so und so auszusehen habe. Vater mitteljung, Mutter mitteljung, und die haben dann zwei Kinder. «Wer sagt denn, dass das so sein muss und nicht alles ganz anders sein kann? Wir müssen die Barrieren in unseren Köpfen lockern und mehr unserem Herz folgen. Dann spielt das Alter von Vätern und Müttern keine Rolle mehr. Wichtig ist einzig, dass das Kind geliebt wird und seine Eltern glücklich sind – jetzt.»
Dieser Artikel erschien zuerst in «wir eltern» Ausgabe 2/2013.