Magisches Denken
Zauberstaub für die Kindheit
Wichtel, fliegende Weihnachtsmänner und Engelshaar am Christbaum - glaubt der Nachwuchs da wirklich dran und warum erzählen wir das eigentlich?
Kinder – sei hier behauptet – mögen es, wenn man so tut, als würde man ihre im Sandkasten gefertigten Kuchen begeistert verzehren. Sie würden es weniger mögen, sagte man stattdessen: «Das Ding da ist ja aus Sand! Du glaubst doch wohl nicht, dass ich das Zeug esse.» Wahr wäre das vermutlich. Aber eben – sie würden es weniger mögen.
Warum ich das erzähle? Wegen des Samichlaus, des Christkindes, wegen fliegender Schlitten, Wichtel und der uralten Frage, wie viel Wahrheit oder – wie viel verklärende Magie – ein Weihnachtsfest braucht. Genauer: wie viel Magie ein Kind zur Weihnachtszeit braucht. Aber auch sonst.
Wer hat denn all die Arbeit?
Unversöhnlich – Fest der Liebe hin oder her – stehen sich in dieser Frage zwei Lager gegenüber: die Wahrheitspuristen und die Romantiker. Diejenigen, die finden, Kinder dürfe man nicht belügen. Niemals. Denn es seien nun mal nicht Englein mit Locken, die all die Arbeit erledigten, sondern Papa und Mama. Und von deren Locken sei nur eine Ruine übrig, wenn sie erst mal gebacken, Geschenke eingekauft, mehr Geschenke eingekauft, Geschenke eingepackt, Menüs geplant, Menüs umgeplant wegen erhöhten Vegetarieraufkommens in der Verwandtschaft, Baum eingestielt und alle fünf Adventsfeiern abgahakt haben, weshalb in die Vorweihnachtszeit nun zusätzlich ein Coiffeurtermin gequetscht werden müsse. Kurz: Die ganze Christkind-Chose sei fauler Zauber und schmälere übermenschliche Menschenleistung sowie das kindliche Vertrauen in elterliche Ehrlichkeit.
Zart klingende Glöcklein
Dem stehen all jene entgegen, die beim Wort «Zauber» begeistert aufhorchen. Haaach ja, leis rieselnde Flocken, wispernde Wichtel, der Windhauch wehender Flügel, ein zart klingend Glöckchen in der Ferne, und da, war da nicht ein goldenes Licht? Der Zipfel eines roten Mantels, ein Rentierhaar? Wir müssen das hier abkürzen, denn besagte Fraktion – zu der sich die Autorin zählt, wie schon die Einleitung nahelegt – kriegt sich so schnell nicht wieder ein.
Vorschulkinder brauchen Magie
Daher stattdessen: knallharte Recherche. Anruf bei Michael Luterbacher, Dozent für Entwicklungspsychologie an der Pädagogischen Hochschule Luzern. Der muss es wissen. Ist es nun Frevel, Kindern zur Weihnachtszeit faustdicke Lügen aufzutischen? Fake News? Schlimmstenfalls gar den Boden zu bereiten für Aluhut und Esoterik?
«Ach was», findet der 52-Jährige. Kin«Genau», findet auch Susanna Fischer, Erziehungsberaterin in Zürich und täglich mitder im Vorschulalter – und dies sei wohl das gängige Weihnachts-Mär-Alter – befänden sich entwicklungsmässig in der «präoperationalen Phase». Und zu der, erklärt Luterbacher, gehöre das «magische Denken». Die Tatsache also, dass die meisten Drei- bis Vierjährigen an übernatürliche Mächte von Feen, Zwergen und anderen Zauberwesen glauben und Kinder zwischen zwei und sieben Jahren Fantasie und Wirklichkeit munter mischen: Tiere können sprechen; der Stuhl, an dem man sich den Zeh gestossen hat, ist böse. Wünsche sind Wahrheit, Geträumtes ist real. Die Welt als Wille und Vorstellung. Das ist Biologie.
Kinder brauchen Magie um die Welt zu verstehen
Da könnten Mutter und Vater noch solche Hardcore-Realisten sein, Kinder dächten im Vorschulalter halt so und bildeten munter ihre eigenen Theorien, um sich die unverständliche Welt zu erklären, sagt Luterbacher. «Da dürfen Eltern ihren Einfluss nicht überschätzen.» Wer je versucht hat, seinem weinenden Kindergartenkind die Überzeugung auszureden, im Kinderzimmer wohne eine Hexe, weiss, dass der Entwicklungspsychologe recht hat und hier mit Dozieren über Märchen, Mittelalter, Misogynie und Schatten von Strassenlaternen nix zu machen ist. Besser: ein Schild malen «Kinderzimmer für Hexen verboten». Und gut ist.
«Genau», findet auch Susanna Fischer, Erziehungsberaterin in Zürich und täglich mit Skrupeln, Ängsten und Befürchtungen von Eltern konfrontiert.
Es ist gut, sich auf die Gedankenwelt des Kindes einzulassen. Dadurch wird es gestärkt.
Der Junge oder das Mädchen lerne dadurch, dass die Eltern seine Gedanken nicht rüde vom Tisch wischten, sondern seine eigene Wahrnehmung zählt, seine Gefühle ernst genommen werden. Zudem sei die Weihnachtszeit ideal, um miteinander ein wenig zu philosophieren: darüber, was es so alles in der Welt gibt, obwohl man es nicht sehen kann und ob möglich ist, was unmöglich erscheint. Getreu Albert Einstein: «Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.» Ausserdem, ist Susanna Fischer überzeugt, könne es nicht schaden, unserer Welt voller kalter Tatsachen ein paar wärmende Geschichten entgegenzusetzen. Ein bisschen Feenstaub über die Wirklichkeit zu pusten.
Die Zweifel kommen automatisch
Leuchtet ein. Was aber, wenn das Kind nun partout nicht von Weihnachtsmann und backenden Engeln lassen will, wenn es noch als Fünftklässler eifrig seinen Wunschzettel auf der Fensterbank platziert und lauernd den Kamin beäugt, ob da gerade wohl ein dicklicher älterer Herr mit weissem Bart drin herumrumort. «Ach, wissen Sie», sagt Susanna Fischer tiefenentspannt, «solange das Kind ganz normal und fröhlich ist und kein psychisches Problem vorliegt, gibt sich der Glaube an Magisches von allein, wenn das Kind mit anderen Kindern redet. Zweifel kommen irgendwann automatisch.» Ja, und dann? Dann steht man als Eltern doch als Lügenbande da...
Es ist mir in meiner langjährigen Berufstätigkeit noch nie passiert, dass ein Kind seinen Eltern den Weichzeichner über der Realität übel genommen hätte.
Ausser vielleicht, diesbezüglich herrscht Konsens in der Wissenschaft, wenn Samichlaus und Schmutzli, Weihnachtsmann und Christkind als Sanktionsmittel dienen. Mit Drohungen hantiert wird wie «Schmutzli steckt dich in den Sack, wenn du frech bist», «Das Christkind bringt keine Geschenke, wenn du deine Schwester beisst». All das kann traumatisieren und Ängste schüren. Deshalb: Ab damit in die Mottenkiste.
Alle Menschen brauchen Geschichten
Drittes Fachgespräch, um auch ja einen Eintrag ins goldene Buch der sauberen Recherche zu bekommen. Ina Blanc ist Entwicklungspsychologin an der Universität Basel und, wie sie vergnügt sagt, «bekennende Träumerin». Zur Erläuterung führt sie aus: «Geschichten sind für uns Menschen – egal welchen Alters – enorm wichtig. Alles, was wir erfahren, binden wir in Geschichten ein.» Schüler etwa, das sei durch Studien bewiesen, merkten sich Fakten besser, wenn sie in Geschichten verpackt sind.
Und aus der Hirnforschung wisse man, dass vorgestellte Bilder die gleichen Hirnareale aktivieren wie objektiv gesehene Bilder. Ja, es sei sogar wissenschaftlich belegt, dass der Mensch einfache Handlungssequenzen genauso gut durch blosses Imaginieren wie durch wirklich übendes Tun erlernen könne. «Sogar Muskeln kann man so trainieren.» Da ist man als Laie doch platt. Statt Beinpresse im Fitnessstudio auf der Couch chillen und sich die Beinpresserei einfach vorstellen? «So nun nicht», lacht Ina Blanc. Aber das führe jetzt auch ein bisschen weit weg vom Weihnachtsmann.
Ina Blanc
Was Entwicklungspsychologie mit Weihnachten zu tun hat:
Laut dem Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget lässt sich kindliches Denken in Stufen einteilen:
• 0–2 Jahre: sensumotorische Phase. Die Welt wird motorisch erkundet. Durch Betasten und In-den- Mund-Nehmen. Weihnachten ist dem Kind schnurz. Geschenkpapier zu zerreissen allerdings, macht Spass.
• 2–7 Jahre: präoperationale Phase. Abstraktes Denken? Fehlanzeige. Bis etwa zum Schuleintritt glauben Kinder an Zauberwesen aller Art. Daran, dass Träume Realität sind, Steine Gefühle haben und Bäume sprechen können. Magisches Denken erklärt die unverständliche Welt. Hohe Zeit für Christkind und Co.
• 7–12 Jahre: Phase der konkreten Operationen. Zunehmend werden logische Zusammenhänge entdeckt. Wie soll ein einziges Christkind die ganze Welt zeitgleich mit Geschenken eindecken? Geht logisch nicht. Der Glaube ans Christkind stirbt, die Liebe zu ihm bleibt.
• Ab 12 Jahren: Phase der formalen Operationen. Das Kind kann nun abstrakt denken – und nach und nach ganz wie ein Erwachsener. Ende der Weihnachtsgeschichten? Nein. Denn jetzt spenden Rituale Geborgenheit. Deshalb halten besonders Kinder eisern daran fest.
Richtig, der Weihnachtsmann. Oder doch das Christkind?
Wie sieht es denn da nun aus mit den Lügengeschichten rund um Baum und Geschenke? «Lügen?», jetzt klingt die Kinderpsychologin fast ein wenig entrüstet: «Geschichten begründen unsere Kultur, repräsentieren unser Brauchtum, schulen Wortschatz und Vorstellungskraft. Geschichten machen unsere Werte bildhaft. Das sind keine Lügen», präzisiert Ina Blanc. «Geschichten sind ein Angebot. Eine Lüge wird daraus erst, wenn etwa das Kind am Christkind zweifelt, die Eltern aber Druck ausüben, weiter daran zu glauben.» Überhaupt, stellt sie richtig, sei der Weihnachtsmann – beziehungsweise genauer: der Samichlaus – ja nicht blanke Erfindung, sondern eine seit alters her weitergetragene Legende.
Kein Hirngespinst, sondern ein Heiliger
Die Legende vom (später heiligen) Bischof von Myra, der im 4. Jahrhundert lebte, sich der Not der Kinder annahm und sie freigiebig beschenkte. Auch das Christkind – stellt man nach ein bisschen Aufarbeitung der Geschichte der Reformation fest – ist nicht Hirngespinst oder Produkt von Kinderbuchillustrator:innen, sondern Martin Luther zu verdanken. Denn Luther war seit 1517 nun mal die Heiligenverehrung ein Dorn im protestantischen Auge, weshalb er es auch nicht mit dem heiligen Nikolaus hatte. Vielmehr solle der gläubige Mensch seine Aufmerksamkeit zu Weihnachten auf die Geburt Christi lenken, auf das Kind in der Krippe, das Christkind. Voilà.
Rituale geben Geborgenheit
Ausserdem ist die Weihnachtszeit die Zeit der Wiederkehr des ewig Gleichen. Der fixen Weihnachtsrituale. «Genau», freut sich Ina Blanc. «Rituale, magisch oder nicht, geben Kindern und auch allen anderen Menschen Halt, Sicherheit und Vertrauen. Sie entlasten von immer neuen Überlegungen und vermitteln Geborgenheit.» Jedes Jahr verlässlich die Diskussion, ob die Tanne gross oder klein sein soll, jedes Jahr das Glöckchen vor der Bescherung. Jedes Jahr das schreckliche Fondue chinoise, bei dem das Fleisch stets zäh und nie richtig gar wird. Und wehe, irgendwer weicht davon ab.
Besonders Kinder – Alter egal – verstehen da keinen Spass. «Und damit haben sie Recht», betont Ina Blanc. «Denn wenn all die weihnachtlichen Rituale und magischen Verklärungen eines tun, dann das Leben ein wenig wärmer, spielerischer, poetischer und damit schöner zu machen.» Statt mitgeschenkten Kassenbons zum Umtauschen: ein sanfter Flügel, ein fliegender Schlitten und ein winziger Wichtel, der wispert: «Frohe Weihnachten!»