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Augenkrankheiten
Sieht mein Kind gut genug?
Von Veronica Bonilla Gurzeler
Drei bis fünf Prozent der Kinder entwickeln in den ersten Lebensjahren eine Sehschwäche. Früh entdeckt, kann sie therapiert werden.
Fast so gross wie Sara selbst ist das Poster mit der Prinzessin, das die Dreijährige stolz in die Kamera hält. Die Knautschspuren zeugen davon, dass das Stück Papier oft im Einsatz ist: Es begleitet Sara regelmässig zum Augenarzt, in die Kita und kommt sogar mit in die Ferien. Denn jedes Mal, wenn Sara ihr Augenpflaster nach vier Stunden Tragezeit abnehmen darf, klebt sie es aufs Kleid der Prinzessin. Und dieses wird mit jedem Pflaster schöner, schillernder und farbiger.
Sara leidet unter einer Amblyopie, also einer Sehschwäche eines oder selten beider Augen. Bei Sara ist es das linke Auge, dessen Sehentwicklung im Rückstand ist. Seit November 2022 muss sie deshalb ihr rechtes Auge jeden Tag vier Stunden lang mit einem Pflaster abdecken. In dieser Zeit ist das linke Auge auf sich allein gestellt – und erhält dadurch die Gelegenheit, seine Sehkraft zu trainieren und zu verbessern. Das funktioniert, weil die Gehirnteile, welche die Sehreize verarbeiten, in den ersten Lebensjahren noch sehr plastisch und lernfähig sind. Die Chancen stehen gut, dass Saras Amblyopie durch die Abdecktherapie korrigiert werden kann.

Wann zum Augenarzt?
Im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen kontrollieren Kinderärztinnen regelmässig, ob die Augen des Kindes gesund sind. Treten in einer Familie Sehstörungen gehäuft auf, kann es sinnvoll sein, die Kinder direkt augenärztlich abklären zu lassen. Die Augenärzte der Eltern sind in einer solchen Situation die richtigen Ansprechpartner.
Eine Amblyopietherapie beginnt idealerweise so früh wie möglich und vor dem 4. Lebensjahr. «Wird erst später angefangen, ist ein Erfolg nicht ausgeschlossen, das Pflaster muss aber deutlich länger getragen werden», sagt Orthoptistin Eveline Gentile. Bei einem späten Beginn wird die Therapie manchmal bis zum 10. Lebensjahr fortgesetzt.
Das starke Auge übernimmt
Alle Menschenbabys kommen mit einem unreifen visuellen System auf die Welt. Unmittelbar nach der Geburt können sie bloss Umrisse in ihrem nächsten Umfeld erkennen. Die Wahrnehmung von Farbe oder räumlicher Tiefe und die korrekte Interpretation von Sehinformation entwickeln sich erst mit der Zeit. Mit etwa acht Monaten sind Kinderaugen bezüglich Sehschärfe in der Regel gleich gut wie Erwachsenenaugen. Bei etwa drei bis fünf Prozent der Kinder tritt allerdings wie bei Sara eine (einseitige) Sehschwäche, eine Amblyopie auf.
Diese entsteht, wenn ein Kind schielt oder wenn eines der beiden Augen aus einem anderen Grund falsche oder schlechte Sehinformationen wahrnimmt. Beim Schielen erhält das Gehirn nicht deckungsgleiche Informationen, und weil es damit nicht umgehen kann, unterdrückt es die störenden oder unscharfen Bilder des schwächeren Auges automatisch. In der Folge werden nur noch die Informationen aus dem normal- oder bessersichtigen Auge verarbeitet, das sehschwache Auge wird praktisch stillgelegt. Weil nun Letzteres nicht mehr ausreichend trainiert wird, verpasst es wichtige Entwicklungsschritte – mit bleibenden Folgen wie verminderte Sehschärfe, Einbussen bei der Kontrastund Bewegungswahrnehmung, fehlendes Stereosehen sowie später eine eingeschränkte Lesefähigkeit. Letztere fällt allerdings erst ins Gewicht, wenn das sehstarke Auge verloren geht.
Damit eine Amblyopie erfolgreich therapiert werden kann, muss sie also möglichst früh erkannt und behandelt werden. «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr, trifft beim Sehen zu 100 Prozent zu», sagt Mathias Abegg, Augenarzt in der Kinderaugenarztpraxis Onovis in Bern. Und fügt hinzu: «Die Eltern sollen keinesfalls Schuldgefühle haben, wenn sie nicht gemerkt haben, dass ihr Kind schlecht sieht.» Eine Sehschwäche bei Kindern ist für Laien nämlich fast nur dann erkennbar, wenn das Kind schielt. Sowohl Kurz- oder Weitsichtigkeit wie auch das sogenannte Mikroschielen, eine minime Fehlstellung der Augen, erkennen Eltern von Kleinkindern kaum.
Auch die Kinder selbst können nicht wissen, dass sie schlechter sehen als ihre Mitmenschen. Im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen werden deshalb die Augen der Kinder ab Geburt regelmässig ärztlich kontrolliert. «Seit viele Kinderärzte ein elektronisches Screening-Gerät haben, werden Auffälligkeiten noch früher entdeckt, sodass die Kinder heute oft schon mit Ein- bis Zweijährig zu uns kommen», sagt Orthoptistin Eveline Gentile, Expertin für Sehstörungen bei Onovis.
Abklärung beim Augenarzt
Bei einem auffälligen Screening-Befund, aber auch, wenn bereits weitere Familienmitglieder «schlechte» Augen haben, ist eine umfassende Abklärung nötig. Diese soll in einer Augenarztpraxis stattfinden, die auf Kinder spezialisiert ist. Wird eine Amblyopie diagnostiziert wie bei der dreijährigen Sara, stellt die Orthoptistin zusammen mit dem Augenarzt einen Behandlungsplan auf.
«Die Abdecktherapie ist bei einer Schiel.Amblyopie bis heute die wirkungsvollste Massnahme», sagt Augenarzt Abegg, «auch wenn sie für das Kind und entsprechend für die Eltern eine rechte Zumutung ist.» Täglich mehrere Stunden während vieler Monate ein Pflaster zu tragen, kann Kindern ähnlich lästig werden wie das Zähneputzen; dessen Sinn verstehen sie ebenfalls erst, wenn sie grösser sind. Doch die Therapie ist nur erfolgreich, wenn sie konsequent gemacht wird, deshalb ist es wichtig, dass die ganze Familie mitzieht. «An manchen Tagen braucht es viel Geduld, bis Sara sich das Pflaster aufkleben lässt», bestätigt ihre Mutter Vanda Drücker.
Zwar gibt es mittlerweile auch digitale Tools wie Virtual-Reality-Brillen, welche die Sehkraft fördern sollen. Ob sie einen therapeutischen Vorteil gegenüber der Pflastertherapie haben, ist laut Abegg jedoch noch nicht erwiesen.
Bei der Pflastertherapie ist der Erfolg messbar. Alle paar Wochen wird Saras Sehfähigkeit in der Augenarztpraxis kontrolliert. Zwischen November und Ende Januar hat sie sich bereits von 10 Prozent auf 30 Prozent erhöht. Weiter so, Sara!