Mütter in Not
«Ich hätte mein Kind fast abgetrieben»
Djamila will ihr Kind zur Adoption freigeben – bis sie vom Casa Cantero erfährt. Das Mutter-Kind-Haus hilft Frauen dabei, schwierige Lebensphasen zu überbrücken.
Als Djamila* begriff, dass sie schwanger sein könnte, ist sie bereits im vierten Monat. Angst und Scham überrollen sie, denn sie weiss weder, wer der Vater ist, noch, wie sie ein Leben mit Baby hinkriegen soll. Bis anhin kurvte Djamila hochtourig durch den Alltag, wochentags als Mitarbeiterin bei einem Automobilhersteller, an den Wochenenden stiegen die Partys. Die Schwangerschaft zieht Djamila den Boden unter den Füssen weg. Eine Abtreibung aber verwirft sie: Die Schweiz, sagt sie sich, ist ein Land, in dem Kinder gut aufwachsen. Sie entscheidet sich, das Kind auszutragen und es zur Adoption freizugeben.
Es zieht sie immer wieder zum Baby hin
Die weiteren Monate der Schwangerschaft verbringt Djamila in lähmender Traurigkeit zu Hause, bevor Lila* im Kantonsspital Aarau drei Monate zu früh zur Welt kommt. Ein zartes Bündel, 1,7 Kilogramm schwer, schwarze Haare auf dem Kopf, ihr erster Unterschlupf: ein Brutkasten. Djamila zieht es jeden Tag in die Neonatologie, um wenigstens in Gedanken festzuhalten, was sie weggeben will.
Das beobachtet auch das Spitalpersonal und ein Mitarbeiter der Kinderschutzbehörde. Einem Kind ohne bekannten Vater wird in der Schweiz automatisch vorübergehend ein Beistand zugewiesen. Djamilas Behördenvertreter nimmt sich Zeit, um sie behutsam über Alternativen zu einer Adoption aufzuklären. «Ich bin dem Mann von der KESB für ewig dankbar für die einfühlsame Beratung.» Djamila fährt mit der kleinen Lila direkt aus dem Krankenhaus in das Casa Cantero im Aargauer Gebenstorf. Hier ist zufällig ein Platz frei,und hier, sagt sie, habe man sie sozusagen aus dem freien Fall aufgefangen.
Schutz und etwas Ruhe für Mütter und ihre Babys
Das Casa Cantero nimmt Mütter mit Kindern wie Djamila in Notsituationen auf. Die meisten Frauen leiden unter psychischen Problemen, Gewalterfahrungen, Sucht oder kognitiver Beeinträchtigung. Jede einzelne von ihnen trägt schweres Gepäck mit sich. Bei einigen mochte die Kinderschutzbehörde nicht länger zusehen und stellte sie vor die Wahl: Fremdplatzierung der Kinder oder betreutes Wohnen – so wie im Casa Cantero. Hier finden die Mütter für ein paar Monate oder auch wenige Jahre einen Schutzraum vor den Anforderungen und Widerwärtigkeiten des Alltags. Ein Frauenhaus ist das Casa Cantero aber nicht, diese geben ihren Standort nicht bekannt. Zur Institution gehören zwei Häuser in Gebenstorf und ein weiteres Haus samt Kinderhort in Untersiggenthal.
Djamila
Gesellschaftlich spielen Mutter-Kind-Häuser eine wichtige Rolle: Wo früher bei Kindeswohlgefährdung die Kinder schnell fremdplatziert wurden, versucht man heute, das Familiensystem zu stützen. Durch Begleitung, Bildung und Unterstützung einen Nährboden zu schaffen, auf dem die Kinder gedeihen können.
Meist sind es alleinerziehende Mütter, die in Mutter-Kind-Häusern Unterschlupf finden. Den Vätern steht, sofern sie bekannt sind, je nach Gerichtsentscheid ein Besuchsrecht zu, oft unter Aufsicht. Teilen die Eltern noch als Paar den Alltag und besteht keine Gefährdungssituation, können die Väter unter gewissen Auflagen bis zu zweimal pro Woche im Casa Cantero übernachten.
Zeit um Traumata aufzuarbeiten
Während der Schwangerschaft überfluteten Djamila nicht nur Ängste vor der Zukunft – es holten sie auch die Geister der Vergangenheit ein: Als Kind erlitt sie in einem katholischen Institut in ihrem afrikanischen Herkunftsland jahrelang sexuellen Missbrauch. Hier im Casa kann sie diese tief verdrängten Traumata mit einer Psychologin in einer Therapie aufarbeiten. Überhaupt wird hier viel Gewicht gelegt auf Selbstfürsorge. Während die Kinder ab sechs Monaten den Morgen in der Krippe, im Kindergarten oder in der Schule verbringen, kümmern sich die Mütter um sich selbst. Immer unter Anleitung der Betreuerinnen.
Klar strukturierte Tage
An jedem Wochentag ist morgens Programm angesagt: dienstags Sport und Bewegung mit Yoga, Hallenbad, Badminton oder einem Spaziergang, am Mittwoch ist Ratgebermorgen mit Workshops rund um Erziehung, Ernährung, Kinderkrankheiten oder Wellness; donnerstags sind die Mütter kreativ, basteln und werkeln an Halsketten, Weihnachtsschmuck oder bauen für die Kinder eine Spielküche zusammen, und freitags diskutieren sie an der Frauensitzung Probleme und Anliegen. Ein Hotelbetrieb ist das Casa Cantero nicht, die Frauen putzen und kochen selbst, sie kaufen ein, kümmern sich um ihre Kids und erledigen Ämtlis.
Tanja Meyer, Sozialpädagogin
Eine selbstständige Zukunft mit Kind
Djamila hat ihr Ämtli heute Morgen bereits gewuppt, sie musste den überdachten Aussenplatz schrubben. Auch ihr Zimmer ist mittlerweile aufgeräumt und für den Besuch offen. Djamila führt ins Untergeschoss des Hauses, hinein in ihren in Weiss gehaltenen Schlafraum. An den Wänden hängen Sinnsprüche, Spiegel und Fotos, auf einem Bücherstapel liegt zuoberst «Das Kind in dir muss Heimat finden» von Stefanie Stahl. Djamila tippt mit dem Finger drauf: «Lesen und Schreiben haben mir schon oft das Leben gerettet», erzählt sie. Seit sie mit 14 als Familiennachzüglerin in die Schweiz kam, spricht sie neben Englisch, Suaheli, Luo, Französisch und Italienisch auch fast fehlerfrei Deutsch.
Feiner Zwiebelduft zieht durchs Haus. Eine der Frauen rührt in der offenen Küche in der Pfanne, die anderen stehen um die Kochinsel herum, schwatzen, witzeln, lachen. Da ist er, der familiäre Spirit, von dem Tanja Meyer gesprochen hat. Die eine oder andere Zankerei mag es zwar geben unter den Frauen – aber der gegenseitige Respekt und die Anteilnahme am Schicksal der anderen überwiegen. Herkunft und Religionen sind so verschieden wie die von den Frauen gekochten Menüs, die auf den Tisch kommen – Toleranz prangt als Wert weit oben auf der Liste der Hausregeln.
Djamila lehnt am Herd, Lila sitzt müde auf ihrer Hüfte. Die Depression, sagt Djamila, habe sie hinter sich gelassen – ohne Medikamente, denn eigentlich sei sie ein optimistischer Mensch. Dass sie sich aus dem Sumpf gezogen hat, hat viel mit ihrem eisernen Willen zur Reflexion zu tun. Aber auch mit dem Casa Cantero als rettendem Zufluchtsort.
In den vergangenen Monaten hat sich für Djamila eine Zukunft herauskristallisiert, bald will sie eine neue Wohnung suchen. Und weil sie mit der Geburt ihrer Tochter erkannt hat, wie gut sie mit Kids kann, möchte sie weg vom Autoverkauf und hin zu einem Beruf mit Kindern. Aus dem Casa Cantero nimmt sie eine geballte Ladung Zuversicht mit.
* Um Djamlia und ihr Kind zu schützen, haben wir ihren Namen geändert.
Aargau
• Casa Cantero, casacantero.ch
• MuKiWo, mukiwo.ch
Basel
• Heime auf Berg, aufberg.ch
Solothurn
• Lilith Zentrum, liliththerapie.ch
St.Gallen
• KiEl Bethanien, kiel-bethanien.ch
Zürich
• KiEl Bethanien, kiel-bethanien.ch
• Stiftung Monikaheim, monikaheim.ch
• Stiftung Ulmenhof, ulmenhof.ch
• Inselhof, inselhof.ch
• Familientraining Heizenholz, heizenholz.ch
• VESO, veso.ch
Nidwalden
• Haus für Mutter und Kind, Hergiswil, mutterundkindhaus.ch
Luzern
• Haus Hagar, annastiftung.ch/haus-hagar
• Seevogtey, Mütterhaus, Sempach seevogtey.ch
Bern
• Elim Mutter-Kind-Wohnen, elim-eltern-kind.ch
• Bienenhaus, bienenhaus-bern.ch
• Aeschbacherhuus, aeschbacherhuus.ch
• Sonnhalde (Bern), sonnhalde.org
• Sozialpädagogische Wohnbegleitung, sowoank.ch
• SORA, sora-bern.ch
• Meliso, meliso.ch
• Prima Familia, prima-familia.ch
• Friedau, stiftung-friedau.ch
• KiMama, inslot.ch/kimama
• WG Alpenegg, schlossmatt-bern.ch