Interview
Seraina Kobler: «Darum schreibe ich Krimis»
Von Katja Fischer De Santi
Seraina Kobler ist erfolgreiche Autorin und vierfache Mutter. Im Interview erzählt sie vom bewussten Rollenwechseln, dem Recht auf Alleinsein und müden Montagmorgen.
Seraina Kobler, kennst du die Anekdote, nach der der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki einst zu Judith Hermann gesagt haben soll, sie solle bloss keine Kinder bekommen, weil eine Autorin mit Kindern nichts mehr zustande brächte?
Es kann sein, dass das irgendwann mal jemand mal in einem Gespräch erwähnte. Es hat mich nicht weiter interessiert.
Du bist Mutter und Autorin, hast schon vier Bücher veröffentlicht, arbeitest gerade an deinem fünften. Stört es dich, dass du auf diese scheinbare Unvereinbarkeit immer wieder angesprochen wirst?
Werde ich eigentlich kaum, zum Glück hat sich seit Reich-Ranickis Zeiten so einiges getan. Aber natürlich werde ich manchmal gefragt, wie ich das alles auf die Reihe bekomme. Kürzlich sagte eine Mutter, sie sei schon mit einem Kind hart an der Grenze. Auf keinen Fall möchte ich vermitteln, dass alles immer nur leicht geht.
Was braucht es, damit du mit vier Kindern Bücher schreiben kannst?
Ich wurde jung Mutter, die Kinder haben mich meine gesamte berufliche Karriere lang, seit dem Studium, begleitet. Wie es ist, ohne Kinder zu schreiben, das kenne ich eigentlich kaum. Daher braucht es im Prinzip eines: die permanente Anpassung an die jeweilige Situation. Im Leben und im Schreiben. Und natürlich muss ich auch noch Geld verdienen. Was darauf hinausläuft, dass ich in den Abschlusszeiten eines Manuskripts sehr wenig schlafe.
Aber Kinder betreuen und gleichzeitig schreiben, kommt man da wirklich vorwärts?
Immerhin vier Bücher in vier Jahren. Aber mittlerweile sind die Kinder alle schon in der Schule, das vereinfacht vieles. Und dann sind da viele helfende Hände, ohne die Freundinnen und Mütter in unserer Siedlung würde so oft gar nichts gehen. Und natürlich tragen auch alle anderen Familienmitglieder mit. Da musste ich auch lernen, loszulassen.
Du meinst, die Rolle der ständig präsenten Mutter loslassen?
Ja, genau. Irgendwie ist dieser Glaubenssatz, dass eine gute Mutter eine ist, die möglichst immer mit ihren Kindern zusammen ist, tief drin. Nicht unbedingt bei mir, man kann da auch intellektuell ausgleichen, aber ganz sicher noch gesellschaftlich. Und doch ist es wie in dieser Flugzeug-Metapher: Im Notfall musst du zuerst die eigene Sauerstoffmaske aufsetzen, bevor du anderen helfen kannst. Auf die Literatur bezogen heisst das, sich auch Räume zu schaffen.
Und wie ist es dir gelungen?
Das Schreiben hat da bestimmt geholfen. Es verlangt eine ständige Auseinandersetzung mit der Welt, aber auch mit dir selbst. Und ich denke, noch viel wesentlicher ist wohl die Zeit, das Alter. Mein ältester Sohn wird im Sommer 17 Jahre alt, da wird dir klar, wie schnell alles geht.
Hat das Schreiben dich gerettet?
Man rettet sich immer selbst, aber das Schreiben kann einen dabei unterstützen. Es hilft, sich zu verorten, schafft aber auch Freude und eine andere Wahrnehmung der Welt. Und manchmal ist das Schreiben, wie auch das Lesen, ein Mittel, um in Geschichten zu verschwinden. Zumindest für einen Moment – für ein gutes, abenteuerliches Abtauchen.
Wie meinst du das?
Für «Tiefes, dunkles Blau» habe ich mich nach meinem ersten dystopischen Roman ganz bewusst für eine etwas märchenhafte Welt entschieden. Rosa Zambrano ist der positive Geist, den ich manchmal rufen muss. Und tatsächlich haben mich die Bücher dann weit getragen, auch wortwörtlich, bis in die nördlichste Stadt Finnlands oder nach Los Angeles. Ich, die zuvor kaum je herumgekommen ist.
Ich habe einen Instagram-Post von dir gelesen, in dem du schilderst, wie schwer es dir fällt, dich für mehrere Tage von deinen Kindern zu verabschieden und auf Lesereise zu gehen. Ich fand das sehr ehrlich und berührend und dachte doch auch, kein Mann würde das je so schreiben ...
Aber fühlen vielleicht schon ? Mir hat es manchmal fast das Herz zerrissen.
Und trotzdem gehst du?
Ja, weil es für mich wichtig ist. Es ist ein Rollenwechsel, den ich ganz bewusst vollziehe. Es beginnt mit der Velofahrt an den Bahnhof. Ich düse den Berg hinunter und währenddessen werde ich leichter und fühle mein anderes Ich.
Brauchst du dieses andere Ich, um schreiben zu können?
Nicht nur, um schreiben zu können, sondern überhaupt. Nur in einer Rolle zu sein, an einem Ort, das fühlt sich nicht vollständig an. Ich habe in den letzten zwei Jahren gelernt, dass ich ab und zu auch mal ganz allein sein muss, um aufzutanken. Ich bin damals zum ersten Mal seit 16 Jahren ein paar Tage weggefahren. Mit dem Velo und einem Mini-Zelt ins Tessin.
Das Alleinsein-Dürfen ist ein grosses Thema nicht nur für Schriftstellerinnen, sondern für alle Mütter.
Da fällt mir eine Szene ein, als ich auf dieser Velotour alleine in einem Laden stand und fast zu weinen begonnen hätte. Ich wusste nicht, was ich einkaufen soll – nur für mich alleine. Meine Bedürfnisse waren hinter jenen meiner Kinder verschwunden.
Warum gestehen sich viele Eltern so wenig Zeit für sich ein?
Dass Alleinsein auch glücklich machen kann, das trauen wir uns kaum auszusprechen, weil es wie ein Verrat an unseren Liebsten klingt. Aber das ist es nicht, fast alle Menschen brauchen beides. Manchmal falle ich am Montagmorgen nach einem intensiven Kinderwochenende, wenn die Kinder aus dem Haus sind, todmüde wieder ins Bett und schlafe einfach nochmals. Das erlaube ich mir neuerdings, statt mich halb depressiv und erschöpft durch den Tag zu kämpfen.
Wie grenzt du dich beim Schreiben von den Bedürfnissen deiner Familie ab?
Wir haben in der Küche ein Stimmungsbarometer, wo jede und jeder seine momentane Stimmung in Form von kleinen Gesichtern markieren kann. Für mich gibt es einen eigenen Magneten, der bedeutet, dass Mama in den Buchstaben ist.
Und das funktioniert?
Ich muss das schon einfordern. Auch gerade von meinen Älteren, wobei die ganz froh sind, wenn ich nicht zu genau auf ihre Handyzeiten schaue. Den Kleineren versuche ich zu erklären, was ich gerade tue. Ich habe für meine Tochter auch schon eine Zeichnung gemacht davon, was im Buch gerade passiert. Sie dürfen pro Buch einer Figur einen Namen geben. So werden sie Teil meiner Arbeit und müssen weniger mit ihr konkurrieren.
Bist du manchmal eifersüchtig auf männliche Autoren wie Thomas Mann? Dieser hatte sechs Kinder, schrieb aber den ganzen Tag, unterbrochen nur von Mahlzeiten, die ihm seine Frau servierte.
Der Prototyp des männlichen Schriftstellers, aus einer anderen Zeit. Ich habe mal eine Bildmontage gemacht mit seinem Arbeitsalltag und meinem. Er schreibt seine paar Stunden, ich schreibe und erledige nebenbei noch zig andere Dinge.
Stört dich diese Zerstückelung deines Schreibprozesses?
Wenn ich zu viel anderes tue, besteht die Gefahr, aus dem Stoff zu fallen. Mich vier Tage am Stück in einer Berghütte einschliessen, das liegt selten drin. Wobei ich in völliger Einsamkeit gar nicht so gut schreiben kann. Die besten Ideen habe ich, wenn um mich herum das Leben pulsiert.
Hast du je Schreibblockaden?
Nicht mehr, auf Holz klopfen. Ich schreibe an drei verschiedenen Stoffen gleichzeitig, und irgendwo finde ich immer den Einstieg oder es nähert sich eine Deadline.
Deine Rosa-Reihe ist sehr erfolgreich, kannst du vom Bücherschreiben leben?
Das wäre schön, ist aber nicht realistisch. Um den Lebensunterhalt zu verdienen, nehme ich andere Schreibaufträge an, ich doziere, halte Lesungen.
Nur vom Bücherschreiben kann man in der Schweiz gar nicht leben?
Das kommt immer darauf an. Manche ja, die allermeisten: nein. Ausserdem ist es mit schulpflichtigen Kindern schwierig, sich auf ein Atelierstipendium in London oder Rom zu bewerben. Das Förderwesen ist nicht unbedingt auf die Bedürfnisse von schreibenden Eltern ausgerichtet.
Dein eigenes, an Stoff reiches Familienleben kommt in deinen Büchern kaum vor, warum?
Für mich war da bis jetzt der Wunsch nach einer gewissen Trennung. So wie ich auch keine Bilder meiner Kinder auf Instagram stelle. Ich stecke selbst noch zu sehr in diesen Themen drin. Wenn ich je darüber schreibe, brauche ich dafür Klarheit und Retroperspektive. Aber natürlich dokumentiere ich für den Hausgebrauch.
Bist du eine Feministin?
Was ist eine Feministin heute? Schwierige Frage. Manchmal erkenne ich mich als vierfache Mutter in gewissen Debatten nicht, sie haben wenig mit meinem Alltag zu tun, mit der Rentenlücke und drohender Altersarmut, mit bis zur Erschöpfung geleisteter Care-Arbeit.
Das sind konkrete politische Forderungen, warum äusserst du diese nicht in deinen Texten?
Ich finde nicht, dass Literatur in literarischen Texten konkrete politische Forderungen stellen muss. Mich überzeugen solche Texte in der Regel meist weniger. Dafür gibt es andere Mittel, denn Schreibende können sich ja durchaus in Debatten äussern. Dennoch haben alle meine Bücher auch eine politische Ebene, aber eben nicht nur.
Was warst du für ein Kind?
Ich war als Einzelkind viel alleine und habe teilweise mehr in den Büchern gelebt als im echten Leben. Und schon als Kind hatte ich eine sehr laute Stimme im Kopf, hab mir selbst Geschichten erzählt. Wegen dieser Stimme schreibe ich.
Zur Person
Seraina Kobler, 41, arbeitete als Journalistin unter anderem bei der «NZZ», bevor sie sich als Autorin selbstständig machte. 2020 erschien ihr Romandebüt «Regenschatten». Ihr erster Zürich-Krimi «Tiefes, dunkles Blau», stand 2022 monatelang auf der Schweizer Bestsellerliste. Sie hat vier Kinder und lebt und arbeitet in Zürich und Lausanne.