Leben im Dorf
Schweizer Bullerbü
Zwischen «Jöö» und «Oh, Gott» ist luftleerer Raum. Wer ankündigt, ein 226-Seelen-Dorf in den Bündner Bergen zu besuchen, erntet exakt zwei Reaktionen: «Jöööööö, wie herzig» oder «Oh, Gott, was willst du bei den Hinterwäldnern? » Dazwischen ist nix.
Vakuum. Das Vakuum gilt es zu füllen. Denn zwischen plüschiger Landverklärung auf der einen Seite, die den Heuballen-Heftchen von «Landlust» bis «Mein schönes Land» Rekordauflagen beschert – und auf der anderen Seite, dem Klischee, Dorfbewohner seien, naja, ein wenig wie das Personal aus «Bauer sucht Frau», muss sich doch etwas finden lassen.
Conters beispielsweise. 1110 Meter hoch, 185 Erwachsene, 254 Kühe, 91 Schafe, 53 Ziegen, 14 Rösser, 12 Bienenvölker, 1 Friedhof, 1 Restaurant, 1 Schule, 41 Kinder, 7 davon nagelneu. Denn ganz gegen den Trend schrumpft die Prättigauer Gemeinde kein bisschen. Landflucht, die viele andere Dörfer ausbluten lässt, ist hier kein Thema. Warum? Weil hier oben Kindheit in XS im Angebot ist. Alles dran, nur kleiner.
Marissa beispielsweise ist ganz allein die erste Klasse.
Drei Klassen, ein Zimmer
Brav sitzt die 7-Jährige hinter ihrem Sprachbuch und entziffert, Fingerchen unter der Zeile, erste Wörter. Abgucken? Abschreiben? Fehlanzeige. Schliesslich ist sie die einzige, die sich im Klassenzimmer von Gianni Pfiffner mit den Lese-Basics abmüht. Die anderen sieben Kinder im Raum sind ja schon viel weiter: in der 2., 3. oder gar 4. Klasse, beschäftigt mit Verben oder dem Perfekt. Trotzdem ist noch jede Menge Platz, gerade mal zwei Stuhlreihen sind besetzt. An Zürichs Goldküste zahlen ambitionierte Eltern dafür gerne schon mal horrende Summen an Privatschulen, die individuelles Lernen in altersdurchmischten Kleingruppen anpreisen. Wie dies das einzelne Kind fördere! Wie wunderbar natürlich, der Familie nachempfunden, das sei! Wie spezifisch zugeschnitten! Und überhaupt pädagogisch der letzte Schrei. Hier oben kräht kein Hahn danach. Zwergschule, na und?
Das war schon zu Gretli Hansemanns Zeiten so, als die mit 96 älteste Conterserin die Schulbank drückte; das ist heute so. Die Übertrittsrate an weiterführende Schulen ist wie in Schweizer Grossstädten. Ein Drittel wechselt aufs Gymi, ein Drittel je auf Sek und Realschule.
Marissa macht sich noch keine Gedanken darüber. Sie findet es «ganz toll», dass sie dienstags mit Herrn Pfiffner eine Stunde vollkommen allein ist, und sie findet es «gar nicht toll», dass sie in der Schule in allem die Schlechteste ist. Aber das liegt halt in der Natur der Dinge.
Die Lektion «Natur der Dinge» lernen die Kinder hier schnell. Und auch, dass Natur nicht immer «schön» bedeutet. Manchmal kann sie sogar ziemlich grausam sein. Vermutlich im November beispielsweise zu «Gürkli». Zehn Monate ist das braunweisse Kälbchen dann alt. Zeit, um Bio- Beef zu werden. Noch schnuppert der kleine Stier an Lydias Händen, nuckelt an ihrer Skihose, stuppst Peter, das andere Stierkälbchen, mit den winzigen Hörnern und hüpft im Stall von Bauer Fluri herum. Der Schlachter ist fern, Lydia nah.
Regelmässig geht die 12-Jährige mit einer Handvoll anderer Dorfkinder zum Fluri, um «ihre» Kuh und «ihr» Kälbchen zu betreuen. Misten, heuen, füttern, sich besabbern lassen. Jedem Kind seine Kuh. «Hallo, Gürkli, hierhin gucken» – Klack! Foto mit dem Smartphone. Lydias Freundin Monika (11) ist auch drauf. Die Haare voll Heu, Stierkalb im Arm, Dreck auf der Nase. «Tierpflegerin» will Monika werden oder «Tierärztin» oder «im Raumschiff fliegen», sowas in der Richtung möchte sie später mal beruflich machen. Wieso die Stadtkinder, die manchmal im Sommer hier hoch kommen und ein bisschen mit spitzen Fingern an den Kühen herumzupfen, so gerne am Computer spielen, ist ihr ein Rätsel. «Drinnen still zu hocken und in einen Kasten zu gucken, ist doch viel langweiliger als das hier.» Mit grosser Geste zeigt sie auf die auch im Frühling noch verschneiten Berge, die Madrisa und die Parsenn, auf deren Pisten alle Conterser kostenlos Ski fahren dürfen, den beachtlichen Kuhfladen, der gerade aus «Grischa» herausplatscht, auf Fluri, der zu den 11 Prozent Schweizer Biobauern gehört und auf Lydia, ihre allerbeste Freundin. Landei? Was soll das denn sein? Lydia spricht daheim englisch; ihr Vater Mick ist aus Houston, Texas, ihre Mutter Nicole ist Schweizerin, Buchautorin und Algenmedizin- Spezialistin. Im Dorf wohnt ein Zürcher Architekt, die Schauspielerin Tonia Maria Zindel aus «Lüthi und Blanc», diverse Patchworkfamilien, der Sohn des Regisseurs von «Rebell without a Cause» mit James Dean, Gretli, Jimmy, der Wirt mit dem gefährlichen Honigschnaps, und dann kommt da oft im Sommer dieser buddhistische Lama aus Maui … Provinziell sieht anders aus.
Bitte keine kalten Betten
«Das Leben im Dorf bedeutet Freiheit», findet Gemeindepräsident Andrea Nold (49). Klar sehe jeder, was der andere so mache, aber dadurch sei auch alles unter Kontrolle. Jedes Kind kann hier allein umherlaufen; jeder schrullige Bauer darf seine Marotten haben. Gretli kann daheim wohnen bleiben und wird versorgt; der Pfarrer darf aus dem Ruhrgebiet stammen. Die Kinder hämmern ihr Spielplatzhäuschen zusammen, ohne von ängstlichen Erwachsen betüddelt zu werden; die Rutsche ist nicht sicherheitsüberprüft, sondern aus Schnee und die Jungen und Mädchen rutschen rückwärts, bäuchlings, im Sandwich … Aufregen tut sich hier niemand darüber.
«Ich finde, Kinder wachsen in Conters so auf, wie es eigentlich sein sollte», sagt Nicole Mackenzie und wirft Holz in die Ofenheizung ihres 400 Jahre alten Holzhäuschens. Sie muss das wissen: Von ihren fünf Kindern sind ein paar in Hawaii, ein paar in Texas und Lydia in den Schweizer Bergen gross geworden. «In Amerika musste ich sie dauernd zu allen möglichen Kursen fahren; der Druck, der richtigen Kirche anzugehören und die richtigen Klamotten zu tragen, war riesengross.» In Conters ist alles klein.
Zu klein darf es allerdings auch nicht werden. «Die Schule ist der Dreh- und Angelpunkt der Gemeinde», sagt Andrea Nold. «Sie muss unbedingt erhalten werden, sonst ziehen junge Familien weg oder gar nicht erst zu.» Darum wurde auch kurz vor den Sommerferien ein neues Mittagstischzimmer beschlossen und gebaut – für nach den Sommerferien. Schliesslich kommen wegen der Tagesschule auch einige Schüler aus Nachbargemeinden mit dem Postauto nach Conters. Das ist auch besser für die jährliche Theateraufführung. «Volk», «Bösewicht » und «Held» sollten mindestens zu besetzen sein. Andrea Nold, im Zweitberuf auch Biobauer, ist es wichtig, Leben im Dorf zu behalten. Diese Berg-Geisterdörfer, in denen reiche Städter ihre Appartements haben, nur um ab und an mit ihren Ski einzufallen, sind ihm ein Gräuel. Deshalb hat die Gemeinde schon vor 20 Jahren beschlossen: Wer ein neues Haus erbaut oder ein altes Haus deutlich umbaut, muss es zum Erstwohnsitz machen. Das löst das Problem der «kalten Betten». Vielleicht hilft auch, dass sich das widerspenstige Dorf, fast als hätte es ein gallisches Vorbild, seit Jahren wehrt, der Gemeinde Klosters zugeschlagen zu werden. Was wären dann noch die Stimmen derer wert, auf dessen Gebiet zwar genug zum Leben, aber nicht das grosse Geld verdient wird; wo ein Quadratmeter Bauland 200 Franken, statt wie im schicken Klosters bis zu 3000 Franken kostet?
Nö, hier hat keiner ein Interesse dran, sich im Abglanz des Nobelskiorts zu sonnen oder gleichzuziehen. Vielleicht ist es deshalb ein Glück, dass «sonnen» in Conters zumindest im Winter selten angesagt ist. Zwischen November und Januar versteckt sich die Sonne oft hinter der Krete. Eine Zeit mit viel Schatten. Die Touristen störts. Die Einwohner nicht. Sie rücken offenbar einfach ein bisschen zusammen. Ein Einzelkind kennt in Conters niemand. Doch. Ariane (4), das Töchterchen von Kindergärtnerin Lina Monnerat-Thöny (32), ist Einzelkind. Dem Bauch ihrer Mutter nach zu urteilen allerdings nicht mehr lange. Lina Monnerat, die früher im Limmattal unterrichtet hat, fühlt sich hier oben «wie im Paradies».
Doch selbst im Paradies gab es die Schlange. Unglück macht auch vor den Serpentinen von Küblis hoch zum Dorf nicht halt. Ehen zerbrechen, Teenager langweilen sich in diesem Berg-Bullerbü, Schulabgänger müssen oft schon mit Beginn der Lehre von daheim weg. Und vor 18 Jahren gab es diesen schrecklichen Selbstmord, bei der eine Mutter sich und ihre beiden Kinder mit Gas umbringen wollte. Eines hat überlebt.
Die kitschige Bilderbuchidylle existiert auch hier oben nicht. Nur fast. Dafür gibts jede Menge «Hinterwäldler». Gürkli gehört zu einem Drittel zu dieser Rinderrasse.