Schulabsentismus
Schule - ohne mich
Die Zahl der Schüler*innen, die den Unterricht verweigern, ist seit Corona massiv angestiegen. Und immer häufiger sind es auch jüngere Kinder, die der Schule den Rücken zukehren. Warum? Eine Spurensuche.
Basecap, Kopfhörer auf den Ohren, wuchtige Air Jordans an den Füssen und der Flaum auf der Oberlippe ist fast schon Bart. Fragen beantwortet der 16-jährige Fabio* gern mit Zucken der breiten Schultern, mit «weiss nicht» oder «joah». Reden? Nur wenns sein muss. Doch wortkarg hin oder her – zu Hause ist meist er es, der sagt, wos langgeht. Der Vater ist ausgezogen, seine Mutter arbeitet viel. Und dann ist da Lennart*, ein schmales Kerlchen, 11 Jahre, lange helle Fransen, die ihm ständig in die Augen fallen, stolzer Besitzer von Stärnli und Flöckli, seinen Kaninchen, Ringelpulli, Klavierfan, eine Stimme, die eher Flüstern ist. Daheim warten Eltern, die ihn behüten, beschützen und ihm die neue Mundharmonika geschenkt haben.
Auf den ersten Blick haben sie nicht viel gemein, die beiden Jungs. Auf den zweiten viel. Denn beide sitzen an diesem Morgen hier in den hellen Räumen der Time-Out-Klasse Schaffhausen und für beide ist das eine echte Leistung. Gehören sie doch nicht nur zu den 49 Prozent der Schüler, die – laut einer Studie der Uni Fribourg – irgendwann schon mal die Schule geschwänzt haben. Auch nicht zu den 33 Prozent, wo das in loser Folge hin und wieder vorkommt, sondern zu jenen 6 Prozent, bei denen es diese eine entscheidende Umdrehung mehr ist: den «Schulabsenten». Denen, die nur noch sporadisch in den Unterricht gehen. Mal um elf statt um acht für ein Stündchen, wie Fabio, weil «der Wecker nicht geklingelt hat». Mal gar nicht mehr. Wie Lennart. Über Wochen. Totalverweigerung. Die Fabios dieser Welt meint man zu kennen, fast erwachsen, too cool for school, nächtelanges Gamen und «falsche Kollegen», wie er murmelt. Lennart dagegen scheint nicht ins klischeehae Bild zu passen, der sane Junge mit gebildeten, engagierten Eltern. Und doch ist es gerade diese Gruppe unter den Schulabsenten, die stetig wächst, auch wenn exakte Zahlen dazu bislang fehlen. In der «TOK» bauen sie jedenfalls ihretwegen den Stundenplan und die Freizeitprogramme um. «Die Kleinen machen ja noch keine Berufsvorbereitung, wie sie am Freitag im Stundenplan stand», sagt Stefan Werner (50), Schulleiter, Primarlehrer, Heilpädagoge und Herrchen von Basco, dem Schulund ‑erapiehund. «Auf unsere gewandelte Klientel müssen wir reagieren.» Deshalb steht nun freitags nicht mehr, wie früher, für alle «Arbeitseinsatz/Berufspraktikum» im Stundenplan, sondern für die jüngeren «klettern».
Vor 12 Jahren, als hier die Time-Out-Klasse gegründet wurde, sassen ausschliesslich Oberstufenschüler in den beiden Klassenräumen, fast immer Buben. Heute ist der jüngste der sieben Schüler gerade acht Jahre alt. Auch ein Mädchen ist dabei, «Hurensohn» und «Fresse halten» hat sie neulich in eigenwilliger Orthograe gross und grün an die Wand gekritzelt. Noch war keine Zeit zum Übermalen.
Denn so komfortabel es auch scheinen mag, wenn sich zwei Sozialpädagog*innen und zwei Lehrpersonen um sieben Schüler*innen kümmern können – zu tun gibt es reichlich. Die Time-Out-Klasse ist ständig bis auf den letzten Platz ausgebucht. Locker könnte man hier in Schaffausen auch zwei Klassen allein mit Schüler*innen füllen, die Schulzimmer meiden wie der Teufel das Weihwasser. Seit Corona, so eine Umfrage der deutschen Robert-Bosch-Stiung, ist die Zahl der Schwänzer und Verweigerer rasant gestiegen. Auch wenn für die Schweiz keine Nach-Pandemie-Daten vorliegen: «Gefühlt ist das hier ebenfalls so, dass sich Schüler seit Covid häu‑ger aus dem Schulgeschehen zurückziehen», sagt Erlebnispädagoge Samuel Geissdörfer (38) vom «Trivas»-Jugendhilfeprojekt in Mettmenstetten stellvertretend für viele. «Sie schaen es jetzt noch schlechter, regelmässig den Weg in die Schule zu finden.»
Aber warum ist das so? Warum hat die Pandemie die Schuldistanz befeuert? Und warum werden die Kinder, die der Schule den Rücken kehren, stetig jünger? In Deutschland, besagt eine Erhebung der Stadt Mannheim, sind inzwischen 17 bis 27 Prozent der Hardcore-Schwänzer jünger als elf Jahre.
Schüler fühlen sich abgekoppelt von der Schule
Viele Fragen, viele Antworten. Eine Antwort davon lautet: «Bindung». Oder genauer: fehlende Bindung. «Seit Covid fühlen sich mehr Schüler und Schülerinnen von der Schule abgekoppelt. Der Kontakt zu Freunden, die Beziehung zu Lehrern… all das hat sich in den beiden Jahren gelockert», weiss Samuel Geissdörfer. «Und ohne eine emotionale Beziehung», ist er sich sicher, «ist lernen für Kinder sehr schwierig.»
Stefan Werner, der Schulleiter der Timeout-Klasse, webt täglich an den Fäden, die «seine» Mädchen und Jungen wieder gefühlsmässig ans Schulleben binden sollen. Deshalb drückt er Fabio aufmunternd die Schulter, wenn der maulend sein Arbeitsblatt zur schrilichen Multiplikation bearbeitet, deshalb wuschelt er den Kleinen ab und an liebevoll durch die Haare, sägt in der Werkstatt gemeinsam mit den Kids, kocht mit ihnen, wandert mit ihnen, lacht mit ihnen. «Seit Corona, gibt es enormen Stress und Fluktuation in den Schulen», sagt er. «Kommt diese Unruhe noch auf bestehende Probleme der Kinder obendrauf, ist das für manche der Einstieg in den Ausstieg.» Schwänzen, schlechte Noten, fehlender Schulabschluss: die Dreifaltigkeit eines schwierigen Start ins Erwachsenenleben.
Was ist mit den Kleinsten?
Für 50 Prozent der Verweigerer wird das die schwierige Realität. Aber was ist mit den Jüngsten, warum jetzt auch sie? «Wir sind keine Psychologen», sagt Stefan Werner vorsichtig. Mutmassungen sind nicht seine Sache. Er nimmt die Schüler*innen, wie sie kommen und tut für sie, was er kann. Ursachenforschung überlässt er den Fachleuten. Fachleuten wie Elsbeth Freitag beispielsweise.
Da werde ich hellhörig:
Das Kind:
◆ ist plötzlich auffällig still, desinteressiert, aggressiv oder weinerlich.
◆ klagt über Kopfweh, Bauchweh oder rätselhafte Beschwerden ohne körperliche Ursache.
◆ sagt Sätze wie: «Schule bringt doch nix», «es schiesst mich ab», «die Lehrerin (oder der Lehrer) ist doof», «Schule ist so langweilig».
◆ daddelt immer mehr an Computer oder Handy, der Tag wird zur Nacht.
◆ hat keine Freunde in der Schule.
◆ erfindet angeblich ausfallende Schulstunden.
◆ erzählt von neuen Freund*innen, die «keinen Bock auf Schule» haben.
Das kann ich tun:
◆ Interesse zeigen: Und das nicht nur für die Noten.
◆ Im Gespräch mit dem Kind bleiben. Signalisieren: Ich bin da für dich! Ich versuche, dich zu verstehen.
◆ Nachhaken, kontrollieren. Nein, «ausweichen» ist keine Option.
◆ Ich traue dir was zu!
◆ Du kannst das allein. Wenn doch nicht: Ich bin da.
◆ Eigene Ängste in den Griff kriegen.
◆ Was bin ich für ein Vorbild? Mache ich selbst manchmal im Job blau? Was erzähle ich über die eigene Schulzeit?
◆ Schnell einschreiten! Kontakt zu den Lehrpersonen suchen.
◆ Körperliches Unwohlsein des Kindes beim Arzt abklären lassen.
◆ Es gibt Schulpsychologen und -sozialarbeiter: Holt euch Hilfe.
◆ ,lare Ansage: Schule ist 1flicht, kein Wunschkonzert.
◆ Durchhalten!
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Elsbeth Freitag (61) ist seit 27 Jahren Schulpsychologin und Leiterin der interdisziplinären Schulabsentismus Arbeitsgruppe im Kanton St.Gallen. Sie wundert es nicht, dass die Zahlen der jungen Absenten steigen. «2019 hatten wir in der «Kriseninterventionsgruppe des Schulpsychologischen Dienstes, Kanton St.Gallen» 7 Fälle von komplexem Schulabsentismus, 2022 schon 34.» Genau nach Alter aufgedröselt werden die Zahlen zwar bislang nicht, «aber auch die jüngeren, die vor der Pubertät, sind spürbar häuger dabei», sagt sie. Fragt man sie und andere Schulpsycholog*innen nach den Gründen dafür, dass sich jetzt auch die «Kleinen» ausklinken, kommt eine bunte Liste. So bunt wie auch die Kinder verschieden sind. Und doch tauchen, egal, welche Fachperson man fragt, manche Gründe immer wieder auf. Dass:
◆ die Kinder heute bei Schuleintritt jünger als noch vor einigen Jahren sind und daher einige, wenns schlecht läuft, von Schulstunde 1 an gestresst hinterherstolpern
◆ ein Overkill neuer Medien die Aufmerksamkeitsspanne zusammenschnurren lässt. Reize aus Computer und Tablet mehr knallen als kreuznormaler Unterricht, Schule da im Vergleich fad erscheint.
◆ Jungs und Mädchen durchgetaktete Tage wie Manager haben und «Kinderburnout» mit einhergehender Totalverweigerung, von der Horrorvision zur Realität geworden ist.
◆ Leistungsanforderungen wachsen und wachsen. Anders als Kinderköpfe: die bleiben gleich klein.
◆ eine immer diversere Schülerschaft für Lehrpersonen eine Challenge ist. Haben sie doch 24 Schüler*innen aber nur zwei Hände, Ohren und Augen.
Und dann ist da diese verwickelte Geschichte von Picht und Option, Angst, Augenhöhe, Eltern, die es besonders gut machen wollen, Verantwortung und Mut.
Elsbeth Freitag versucht, sie zu erklären. Durch Corona, schildert sie, sei die SchulPicht in den Köpfen mancher Kinder zur Option mutiert. Man KANN da hingehen, MUSS aber nicht. Schliesslich hiess es zwei Jahre lang: Du hast Husten? Bleib daheim. Du fühlst dich schlecht? Bleib daheim. «Kinder lernen schnell. Auch wie man Unangenehmem am besten ausweicht.» Schreitet man da nicht umgehend ein, fängt eine fatale Abwärtsspirale an, sich zu drehen. Angst, Vermeidung, mehr Angst… «Deshalb», so Elsbeth Freitag, «müssen zügig die Lehrpersonen und die Eltern ins Spiel kommen mit einem deutlichen: Schulbesuch ist nicht verhandelbar. Wir helfen dir, wo immer wir können, aber du gehst. Punkt.»
Die Angst der Eltern vor Ablehnung
Doch mit den klaren Ansagen tun sich viele Eltern schwer, weiss Marina Zulauf Logoz (60), Psychologin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. «Heutige Eltern wollen es besonders gut machen, ihrem Kind möglichst Schwierigkeiten ersparen, nicht bestimmend sein, sondern auf Augenhöhe. Und sie wollen unbedingt durchgängig liebgehabt werden.» Im Koniktfall könnte es dann schwierig werden, sagt Marina Zulauf Logoz. «Angst, dem Kind zu viel zuzumuten oder die unbegründete Angst davor, nicht gemocht zu werden, ist wenig hilfreich. Eltern müssen sich zutrauen und den Mut finden, sicher voranzugehen und Verantwortung zu übernehmen.»
Denn wo weder Lehrpersonen noch Mütter und Väter Felsen in der Brandung sind, sondern drohen, von Unsicherheit, Ansprüchen und Stress weggespült zu werden, meiden die Schwächsten den Strand. Gehen Kinder nicht mehr zur Schule.
In der TOK in Schaffhausen hat die letzte Unterrichtsstunde begonnen. Fabio surft auf der Seite der Berufsberatung «Spengler, das wäre mein Traumjob» schwärmt er und erzählt, gar nicht mehr wortkarg, von den coolen Spengler-Kollegen beim Schnuppertag, den Dachrinnen, dem Meister und wie gut ihm das alles gefallen hat. Er ho so sehr auf eine Chance. «Aber meine Fehlstunden…» Auch Lennart ho. Darauf, dass er «für immer hier in der TOK bleiben kann». Er weiss, dass das nicht geht. Aber noch hat er Angst davor, wieder mit 20 anderen lauten wuseligen Kindern ein Schulzimmer teilen zu müssen. Kindern, die schubsen, rennen, schreien, seine leise Stimme überhören und ihn, Lennart, nicht sehen. Was wird? Wer weiss.
Doch jetzt lernt er erstmal Vokabeln für sein Lieblingsfach Französisch. «Le crayon»: der Bleistift, « le cahier»: das Heft, «la gomme»: der Radiergummi. Alle Vokabeln sitzen tadellos. Nur bei der letzten muss Lennart kichern, die scheint ihm doch ein bisschen übertrieben: «Chouette, c’est la rentrée»: «Toll, es ist Schulanfang.»
* Name von der Redaktion geändert
Caren Battaglia hat Germanistik, Pädagogik und Publizistik studiert. Und genau das interessiert sie bis heute: Literatur, Geschichten, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – und wie man am besten davon erzählt. Für «wir eltern» schreibt sie über Partnerschaft und Patchwork, Bildung, Bindung, Erziehung, Erziehungsversuche und alles andere, was mit Familie zu tun hat. Mit ihrer eigenen lebt sie in der Nähe von Zürich.