Schule
Schule: Das Kind zu besseren Leistungen antreiben?
Kommt Leistungsdruck von der Schule, machen Eltern häufig mit, um ihr Kind auf Spur zu bringen. Warum unsere Autorin ihr Handeln bereut, schildert sie in ihrem Plädoyer für mehr Gelassenheit im Umgang mit Leistungsdruck.
Er war mein erstes Kind. Ich war 20, als er zur Welt kam. Wir lebten ein recht freies, unkonventionelles Leben mit vielen anderen Leuten, der Junge als einziges Kind mit uns, unter und neben uns. Er war ein kleiner, fröhlicher und mutiger Kerl, jeder mochte ihn, mit seiner Neugier auf Menschen und alles, was ihn interessierte. Er war voller Fantasie, ständig mit Werkzeug unterwegs am Hämmern und Bauen. Immer ganz oben auf den Bäumen. Er wollte hoch hinaus, hatte Lust, zu fliegen, gross zu träumen.
Als er eingeschult wurde, war das nicht anders. Er ging hin mit Neugier auf das Neue, das ihn erwartete. Doch irgendwann war seine Lehrerin der Meinung, dass einer wie er, der die Buchstaben nicht so schön schrieb wie die anderen, nicht so schnell rechnen konnte wie die anderen, der oft Mühe hatte, sich zu konzentrieren, weil die Lehrerin auf seine Defizite konzentriert war und er darum lieber wieder oben auf dem Baum gesessen wäre, dass so einem dringend Therapien verordnet werden müssten. «Sonst schafft der das nie!»
So fing ich an, ihn anzutreiben. Die Lehrerin verordnete, ich vollzog. Bachblütentherapie, Homöopathie, Logopädie, Yogatherapie, autogenes Training. Hätte es die Diagnose AD(H)S schon gegeben, wäre der Weg mit Sicherheit mit «Konzentrationsförderungspräparaten» abgekürzt worden.
Als das Therapieren ganz offensichtlich nicht die Wirkung hatte, von der die Lehrerin überzeugt war, hörten wir auf damit. Doch der Druck durch die Schule blieb. Die Aufforderung war: Auf Linie bringen! Und das tat ich. Oder besser: Ich versuchte es. Ich kreierte für ihn Wochenpläne, als die noch in keiner pädagogischen Institution angewendet wurden, taktete seinen Alltag durch mit Lern- und Übungseinheiten.
Und ich, seine Mutter, sagte ihm auf diese Weise, dass es nicht reichte, was er leistete. Dass er nicht reichte, so wie er war. Nicht gut genug für diese Welt der Produktiven und Erfolgreichen. Ich, die junge Mutter, gehorchte, vollzog, was die Pädagog* innen mir auftischten. Gehorsam. Nicht hinterfragend. Ich tat es. Weil ich annahm, dass Profis wissen müssen, wie es geht und was Erfolg bringt. Ich tat es. Weil ich dachte, das sei meine Pflicht. Und um ihm zu helfen. Ich tat es aus Angst, dass er sein Leben nicht in den Griff bekommen, er scheitern würde, nicht vorwärtskommen. Nur: Wohin?
Ich machte dieses «Spiel» mit, das viel Schweres mit sich brachte. Denn es hat ihn geprägt, meinen Sohn. Die Freude, die Lust am Lernen, am Leichten, am Neuen, die Unbeschwertheit brach Stück um Stück weg. Und ich habe unser Familienleben geprägt. Streit, Tränen, Angst. Druck. Mach! Mach! Mach! Du schaffst das! Wenn du nur fleissig genug übst! Du musst nur wollen! Alle schaffen das! Streng! Dich! An!
Er wollte nichts von allem. Er entzog sich meinem Diktat, wann immer er konnte. Er schlüpfte durch Zeitfenster, Ritzen, Schlupflöcher. Er pflegte wann möglich den Müssiggang und die Selbstbestimmung. Alles, was wir bis zu seiner Einschulung gelebt und was ihn geprägt hatte. Doch jetzt machte es mich wahnsinnig.
Nach drei Jahren waren wir masslos erschöpft. Bei einem heftigen Streit sagte er zu mir: «Wenn ich dir nicht gut genug bin, dann zieh ich halt zu Papa.» Das war die Wende. Nicht, dass er zu seinem Vater ziehen wollte, war das Problem, er verbrachte sowieso viel Zeit bei ihm. Nein. Weil er dachte, er sei mir nicht gut genug. Dabei hatte ich mich doch genau deswegen engagiert! Weil er mir so wichtig war!
Da wurde mir klar: Ich musste loslassen. Aufhören. Ich musste uns beide diesem Diktat entziehen, verweigern. Ich musste lernen zu vertrauen, dass seine Power für ein gutes Leben reichen wird. An jedem Tag hatte er mir gezeigt, dass er sich nicht beugen lassen wird. Vordergründig vielleicht schon. Doch schaute ich weg, war er schon nicht mehr da.
Wollte ich verhindern, dass er sich nicht nur dem System, sondern auch mir endgültig entzog, musste ich den Schritt gehen. Und das tat ich. Und ich sagte es ihm. «Geh deinen Weg, ich bin sicher, du machst das gut. Wenn du mich unterwegs brauchst, ich bin für dich da.»
Das hatte Konsequenzen: Nie war ich unter diesen Eltern, die mit stolzgeschwellter Brust die schulischen Leistungen ihrer Kinder beklatschten, sich gegenseitig auf die Schultern klopften an den Schulabschlussfesten, wenn ihre Kinder die nächste Stufe mit Bravour schafften. Nie dabei, wenn sie Szenarien schufen, Zukunftskonstrukte bauten, Bilder, in ihren Köpfen gemalt, feierten.
Ich musste ertragen, dass sie nicht nachfragten, mich nicht in diese Gespräche einschlossen, von der Seite anschauten. Du hast es nicht geschafft, sagten die Blicke. Du hast versagt, sagten sie. Bist du eine uninteressierte Mutter? Ja, hast du dich denn so gar nicht gekümmert? Wir haben alles gegeben, sagten sie, haben keinen Aufwand gescheut, weder zeitlichen noch finanziellen. Dass ich durch diese stummen und lauten Vorwürfe keine guten Gefühle hatte, das war jedoch allein mein Problem.
Denn die Konsequenzen hatten auch helle Seiten: Mein Kind schenkte mir sein Vertrauen zurück. Wenn ich sagte, «du bist ein toller Junge, und ich liebe dich, genauso wie du bist», und dann kein Aber folgte, glaubte er mir wieder. Er vertraute mir.
Und das stärkte sein Selbstvertrauen, das arg gelitten hatte. Heller waren auch die Tage als Familie wieder geworden, entspannter und schöner. Klar, meine Ängste waren nicht einfach so vom Tisch gefegt. Wie anderen Eltern ist mir die Zukunft meines Kindes eine Sache, die im Herzen angelegt ist. Doch ich behielt es für mich.
Wer hat von diesen Erfahrungen profitiert? Wir. Die Beziehung zwischen mir und meinem Sohn. Ich, um zu merken, was wichtig ist in meinem Leben und im Leben mit meinen Kindern. Darauf zu vertrauen, dass meine Kinder selber ein gutes Leben anstreben, egal, welchen Weg sie gehen, dass Vertrauen und liebevolle Wurzeln wichtiger sind als Leistung, um hochzufliegen.
Profitiert hat er, weil er erfahren hat, dass es richtig ist, eigene Wege zu gehen, für sich einzustehen, auf seine Stärken zu vertrauen, die Schwächen zu akzeptieren. Und dabei trotzdem geliebt zu werden. Und dass man einen Weg hat, auch wenn man in der Leistungsgesellschaft nicht ganz vorne marschiert.
Profitiert haben auch seine drei Schwestern. Ihnen blieben Eltern mit überhöhten Ansprüchen und pädagogische Massnahmenpakete erspart. Sicher hätte man aus allen Mädchen «mehr rausholen» können, hätten wir gepusht. Doch auch sie alle wussten, genau wie ihr Bruder, wie viel sie leisten wollten und konnten und wo ihre Grenzen sind. Alle Mädchen sind auf individuellen und guten Wegen unterwegs.
Und mein Sohn? Er ist ein zuverlässiger und motivierter Handwerker. Er lebt unkonventionell. Er ist zufrieden. Und er ist Papa. Mit viel Liebe zu seinem Kind.
Als Quereinsteigerin in den Journalismus schreibt Anita Zulauf erst für die «Berner Zeitung», die Migrationszeitung «Mix», nun bei «wir eltern» und als freie Journalistin bei dem Kulturmagazin «Ernst». Sie mag Porträts und Reportagen über Menschen-Leben und Themen zu Gesellschaft und Politik. Als Mutter von vier Kindern hat sie lernen müssen, dass nichts perfekt, aber vieles möglich ist.