Alleinerziehend
Schlupfloch aus der Sozialfalle
Die Fingernägel schillern perlmuttern und sind perfekt lackiert. Gepflegtes Auftreten ist für Nadia Lo Coco (18) mehr als eine Frage der Ästhetik. Es ist eine Frage der Haltung. Das Leben fordert anderweitig genug von ihr ab, nagt und kaut am Selbstverständnis, wie andere Jugendliche erwachsen werden zu dürfen. Deshalb will Nadia Lo Coco jeder Schlampigkeit Paroli bieten. Fast etwas forsch sehen sie aus, diese Nägel. Mit denen sie nun behutsam über die dunklen Locken ihrer Tochter Emely (15 Monate) streichelt.
Wie im Zeitraffer eilen die Menschen durch den Basler Bahnhof, stürzen sich im Café Spettacolo auf einen Kaffee an die Bar, setzen sich kurz an ein Tischchen nebenan, verschwinden wieder in der Menge. Und mittendrin Nadia und Kind – wie ein grosser und ein kleiner Engel, dazwischen eine halbwegs entblösste Brust, ein Lächeln: «Wenn ich stille», sagt Nadia, «bin ich einfach glücklich.»
Kaum zog sie die Tür nach dem Praktikum als Altenpflegerin hinter sich zu, musste sie beim Sozialamt anklopfen. Sie war schwanger. Mit 16. An eine Lehre war nicht mehr zu denken.
Denn unser Schul- und Ausbildungssystem ist in keiner Weise auf junge Mütter ausgerichtet. Zu dicht ist der Stundenplan, zu hoch die Anforderungen. Im Land der höchstqualifizierten Arbeitskräfte aber steht – wer kein Abschlusszeugnis und Diplom vorweisen kann – auf der sozioökonomischen Abschussliste.
Hilfsjob, Arbeitsamt, Sozialhilfe
Besonders hart trifft es junge, allein erziehende Mütter ohne Lehrabschluss. Rund 550 Frauen gebären in der Schweiz ein Kind mit 20 oder jünger, viele davon stecken mitten in der Lehre – und brechen diese meist ab. Um fortan zermürbende Runden auf dem Karussell von Hilfsjob, Arbeitsamt und Sozialhilfe zu drehen.
Aus diesem Teufelskreis will AMIE, der Berufseinstiegskurs für junge Mütter, Frauen wie Nadia heraushelfen. Franziska Reinhard ist Mitbegründerin und Projektleiterin und definiert das Ziel von AMIE so: «Wir wollen junge Frauen bei der Berufsfindung und Lehrstellensuche begleiten – ihnen aber auch als Mutter und Erziehende den Rücken stärken.» Nach einer zweijährigen Pilotphase ist AMIE seit 2008 fest etabliert. In einem einjährigen Lehrgang durchläuft Nadia mit 20 anderen jungen Frauen verschiedene Kurse. Dazu gehören Standortbestimmung, Berufsberatung, Bewerbungstraining. Im Anschluss begleitet AMIE die Teilnehmerinnen mit Einzelcoachings und Gruppentreffen durch die Lehrzeit. «Wir unterstützen sie dabei, irgendwann von der Sozialhilfe unabhängig leben zu können», sagt Franziska Reinhard.
Zwar gehören auch allgemeinbildende Fächer wie Mathe und Deutsch zum Kurs. Am liebsten aber mag Nadia Module aus «Work Life Balance» und «Erziehung». Denn da wird aus dem Alltag geschöpft. In der Ernährungslehre beispielsweise habe man ihnen ein Rezept für Bolognese mit Erdbeeren andrehen wollen. «Aber hallo, wer isst denn sowas!», empört sich Nadia. Als gebürtige Italienerin muss ihr keiner mit solch verqueren Kreationen kommen. «Mega» findet sie hingegen Tipps aus der Gesundheit: Wie funktioniert genau die Virusübertragung bei HIV? Was muss man tun, wenn ein Kondom reisst? Da steckt Lebenshilfe drin.
Papa ist weg ...
Emely gähnt, die Wackeltour durchs Café hat ihre Beinchen ermüdet. Nadia hebt die Kleine in den rosa Dreirad-Buggy, ein Spaziergang durch die Stadt soll sie in den Schlaf ruckeln. Kaum um die Ecke, ist Emely eingedöst.
Natürlich haben Kinder allein erziehender Mütter immer auch einen Vater. Oder zumindest einen Erzeuger. Der häufig genug nach der Geburt ihrer Kinder verschwindet wie ein Traum morgens beim Aufwachen. Emelys Papa stammt aus Kolumbien – er ist noch da. Auch in der Realität. Manchmal, erzählt Nadia, mache er ihr eine Liebeserklärung. Alle paar Monate überlässt sie ihm den Schlüssel für ihre Wohnung. Wenn sie zurückkommt, flackern im Schlafzimmer kleine Kerzchen, auf dem Stubentisch liegt ein frisch gebackener Zopf. «Ich muss dann weinen vor Freude.»
Wenn er sie schlägt, zeigt sie ihn an. Sie nennt ihn den «Ich-weiss-nicht-so-rechtob-noch-Freund». Er durfte, als sie schwanger war, ungehemmt auf Facebook flirten. Sie durfte ohne Aufsicht nicht einmal mit seinem Zwillingsbruder reden. Die Beziehung, sagt Nadia, ist «mega kompliziert».
Als damals Nadias Mens ausblieb, weinte ihre Mutter. Die Oberärztin im Spital erläuterte Nadia in mehreren Sitzungen den Ablauf einer Abtreibung. Sie alle drängten und zwängten. Doch als Nadia im Ultraschall das «Böleli» sah, war für sie klar, dass niemand ihr weismachen sollte, dass in diesem Zellhäufchen keine Zukunft läge: «Es hätte mir so leid getan, das wegzumachen.»
Vielleicht war es auch die SMS an ihren Vater, der getrennt von der Familie lebt. Nadia schrieb ihm: «Angenommen, ich wäre schwanger – würdest du mich unterstützen?»
... Opa ist da
Quietschend stürzt sich Emely in die Arme ihres Opas. Der Mann, der damals bei der konjunktivistischen SMS gleich wusste, was Sache ist. Und seiner Tochter umgehend telefonisch mitteilte: «Klar unterstütze ich dich.»
Jede Woche pendelt Salvatore Lo Coco nun einmal aus dem Nachbarskanton in die einfache 2-Zimmer-Wohnung seiner Tochter im Klybeck-Quartier. Und packt mit an. Kocht italienische Pasta, wirbelt seine Enkelin durch die Luft, wechselt die vollen Windeln. Er vergöttert die Kleine. «Ein bisschen», sagt er, «gibt mir das Hüten auch eine Struktur.» Denn seit er vor einem Jahr die Arbeit verloren hat, ziehen sich die Tage zäh dahin. Deshalb liebt er die Stunden, die er als Nonno verbringt, über alles. Wobei man sich unter einem «Opa» nicht unbedingt einen Mann knapp über 40, mit Turnschuhen, Kapuzenpulli, hippen Koteletten und ohne ein einziges graues Haar auf dem Kopf vorstellt!
Ich schaffe das!
Seit dem Sommer bringt Nadia Emely morgens in die Krippe im Quartier und fährt mit dem Trämli weiter zu AMIE. «Sollen sie alle meinen, ich schaffe das nicht», sagt sie unvermittelt und fast trotzig, «wenn ich eine Lehrstelle habe, sind sie dann schon ruhig.» Sie hat ein Ziel vor Augen und verteidigt es mit Vehemenz gegen echte oder eingebildete Skeptiker. Nie würde sie sich in der Schule in einen Zickenkrieg verwickeln lassen. Wie jene zwei Kolleginnen, die wegen einer Lappalie die Krallen ausfuhren. Sie erhielten vorübergehend Schulverbot. «Nadia!», ermahnt sie sich selber, wenn jemand sie provoziert, «tief durchatmen!»
Was möchte sie denn werden? Nadia lächelt: «Vielleicht Sozialarbeiterin – ich kann gut Tipps geben.» Vielleicht auch Rezeptionistin. Irgendetwas mit Menschen. Oder im Büro.
Die Hälfte aller jungen Mütter, die den einjährigen Einstiegskurs bei AMIE absolviert haben, fanden eine Lehrstelle: als Büroassistentin, Coiffeuse, Pflegeassistentin oder Bekleidungsgestalterin. Damit werden sie dereinst genug verdienen, um dem demütigenden Bettelzug durch die Ämter zu entgehen.
Glutrot geht die Karibiksonne unter – auf dem Poster in Nadias Stube. Sie würde sich wünschen, Sandstrand und Palmen einmal life zu erleben. Irgendwann in einer erträumten Zukunft. Genügen würde ihr gegenwärtig ein Ausgang am Samstagabend in Zürich. Was hindert sie daran? «Zu teuer», sagt sie und hebt die Augenbraue: «Und ich habe gehört, dort gäbe es Schlampen und Entführungen.»
Nadias Welt bleibt vorerst klein. Hier jedoch hat sie alles, was ihr lieb ist: Emely, Freundinnen, ihren Vater. Und das Nagelstudio gleich in der Nähe. Heute Nachmittag hat sie Termin. «Da entspanne ich mich, und es stimmt danach alles wieder», sagt sie. Nicht nur im Sinne der Schönheit – sondern als Lebenshaltung.
AMIE Basel
Bei AMIE Basel werden junge, allein erziehende Mütter bei der Berufswahl und auf dem Weg, eine Lehrstelle zu finden, unterstützt. Die Frauen müssen Willen und Motivation zeigen, zwischen 16 und 26 Jahre alt sein, über mindestens 9 Schuljahre verfügen, noch keine Erstausbildung absolviert haben und genügend Deutsch sprechen.
Infos unter 061 227 50 97 oder www.amie-basel.ch