Geburt – Kaiserschnitt
Risikoschnitt
Das liess aufhorchen: Niemand geringeres als die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe rief ihre Mitglieder am 59. Kongress im vergangenen Herbst dazu auf, den Kaiserschnitt kritischer zu betrachten. «Die Folgen für das Neugeborene wurden lange Zeit vernachlässigt. Nicht selten entstand sogar der Eindruck, das Kind profitiere von einem Kaiserschnitt», sagte Prof. Frank Louwen, Leiter der Geburtshilfe und Pränatalmedizin am Klinikum der J.W. Goethe-Universität in Frankfurt an der Tagung. Doch auch für die Frau sei der Eingriff mit Risiken verbunden. «Besteht keine medizinische Indikation, ist von einem Kaiserschnitt dringend abzuraten, vor allem wenn weitere Kinder geplant sind», so Louwen.
Im Januar dann die Meldung, in Bremen sei das «Bündnis für eine natürliche Geburt» gegründet worden. Gynäkologen, Hebammen, Kinderärztinnen, Krankenkassen sowie eine Landesfrauenbeauftragte und ein Gesundheitssenator taten sich zusammen und beschlossen, Schwangere durch bessere Beratung zu einer natürlichen Geburt zu motivieren. Ende Februar schliesslich veröffentlichte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) den Analysebericht «Kaiserschnittgeburten in der Schweiz» und empfahl darin unter anderem, medizinisch nicht notwendige Kaiserschnitte zu vermeiden.
Warum die Wende? Ist die Hochblüte des kaiserlichen Schnitts schon vorbei? Rund zwei Jahrzehnte lang lieferten sich Befürworter und Gegnerinnen der chirurgischen Geburt ein Kopf-an-Kopf-Rennen: Selbstbestimmung gegen Leiden, Kontrolle gegen Hingabe, Fortschritt gegen Steinzeit, Planbarkeit gegen Willkür der Natur, so lauteten die Parolen. Parallel dazu nahm die Kaiserschnittrate zu: 1998 betrug sie noch 22,7 Prozent, mittlerweile liegt sie bei rund 33 Prozent. Doch die Geburt ohne Wehen hat ihren Preis – das zeigen Erfahrungen aus der Praxis, darauf weist eine wachsende Zahl von Studien hin. Zu den ersten, die Alarm schlugen, gehörten die Neonatologen. Immer häufiger hatten die Neugeborenen-Abteilungen Babys mit dem Atemnotsyndrom zu behandeln, einer quälend beschleunigten Atmung, die in seltenen Fällen zum Tod führt. Besonders oft zeigte sich die Lungenfunktionsstörung bei Kindern, die zwei bis drei Wochen vor dem Geburtstermin, also in der 37. oder 38. Schwangerschaftswoche, mit einem geplanten Kaiserschnitt entbunden wurden. Die Komplikationsrate war umso höher, je früher vor der 40. Woche die Schwangerschaft beendet wurde; bei Geburt in der 37. Woche litt jedes 10. Kind an der gefährlichen Störung. Die Gynäkologen mussten umdenken – und taten es auch. Seit wenigen Jahren lautet die Empfehlung, eine Sectio möglichst nahe am errechneten Geburtstermin zu machen, jedoch nicht länger als sieben Tage vorher.
Kaiserschnittrate zu hoch
In den Fokus der Forscher rücken nun immer häufiger die Spätfolgen der «Bauchgeburt». Studien aus den vergangenen fünf Jahren weisen darauf hin, dass die Geburtsart Einfluss auf immunitätsbedingte Erkrankungen hat. Kaiserschnittkinder scheinen signifikant häufiger an Asthma, Allergien, Diabetes mellitus und Zölliakie zu erkranken. Vermutete Gründe: Verlässt das Baby die Gebärmutter durch den Geburtskanal, wird das Fruchtwasser sehr effektiv aus der fein verästelten Lunge gepresst, die Lunge wird robuster. Zudem stellte man fest, dass Säuglinge nach einer vaginalen Geburt eine andere Keimbesiedlung im Darm haben als nach einem Kaiserschnitt, und dies auch noch Monate nach der Geburt.
Problematisch am Kaiserschnitt ist zudem, dass Komplikationen wie Gebärmutterriss oder Plazentastörungen bei Folgeschwangerschaften steigen. Eine falsche Lage der Plazenta (Plazenta prävia) oder Verwachsungen treten deutlich häufiger auf, erhöhen das Risiko für eine Frühgeburt und es können für Mutter und Kind lebensbedrohliche Blutungen auftreten; unter Umständen wird bei der Geburt eine Gebärmutterentfernung nötig. Nicht nur die deutschen Gynäkologen raten aus diesen Gründen von einem Kaiserschnitt ohne medizinische Notwendigkeit ab. Seit Längerem empfiehlt die WHO, eine Sectio nur bei so genannt absoluten Indikationen durchzuführen. Dazu gehören die Querlage des Kindes, ein Nabelschnurvorfall, ein drohender Gebärmutterriss oder die Fehllage der Plazenta. Solche Indikationen liegen gemäss einer Schätzung in Deutschland bei ca. 10 Prozent der Gebärenden vor. Dementsprechend empfiehlt die WHO eine Kaiserschnittrate von 10 bis 15 Prozent.
Hebammen statt Sectio?
Alle übrigen Kaiserschnitte haben so genannt relative Indikationen. Zu diesen gehören unter anderen verzögerter Geburtsverlauf, ein verdächtiges Herztonmuster des Kindes oder eine Mehrlingsschwangerschaft. Im BAG-Bericht steht dazu: «Internationale Forschungsergebnisse zeigen eine deutliche Zunahme geburtsmedizinischer Interventionen bei unproblematisch verlaufenden Schwangerschaften von insbesondere älteren Gebärenden, ohne dass gleichzeitig eine Verbesserung der Gesundheit von Mutter und Kind messbar war.» Ist hier eine Sectio also nicht zwingend nötig? Prof. Daniel Surbek, Chefarzt der Universitätsfrauenklinik des Inselspitals Bern, sagt: «Bezüglich der relativen Indikationen denke ich, dass es einen Spielraum gibt, der allerdings nicht so gross ist, wie sich die WHO das wünschte.» Im Inselspital habe man eine Sectio-Rate von 25 Prozent, wenn man die Hochrisikogeburten des Perinatalzentrums abziehe. «Es sind unter anderem gewisse Privatkliniken, die die Kaiserschnittrate nach oben schrauben, obwohl sie keine Hochrisiko-Schwangeren betreuen», so Surbek.
Die Schweiz hatte 2010 mit 32,4 Prozent eine der höchsten Kaiserschnittraten in Europa. Nur gerade Italien (42 %), Portugal (33 %) und Ungarn (32,5 %) liegen weiter vorne. Am Schluss der europäischen Skala liegen Schweden, Norwegen, Finnland und Holland mit Raten zwischen 17,1 und 14,3 Prozent. Diese Länder haben alle etwas gemein: Anders als in der Schweiz werden die Schwangerschaftskontrollen ganz oder mehrheitlich von Hebammen durchgeführt, bei der Geburt wird die Ärztin nur bei Komplikationen gerufen. In Holland kommen sogar rund 30 Prozent der Kinder zu Hause auf die Welt – ohne Arzt, ohne medizinische Kontrollgeräte, ohne PDA.
Aus diesen Gründen hat der Schweizerische Hebammenverband am 16. Mai 2013 eine Petition lanciert, welche die Einführung von hebammengeleiteten Geburtshilfemodellen in Schweizer Spitälern verlangt. Die Hebammen fordern Abteilungen in den Spitälern, in welchen «die fachliche Betreuung der Frauen und die organisatorische Leitung in der Verantwortung der Hebammen liegen», heisst es im Petitionstext. Geburtshilfe statt Geburtsmedizin – im Inselspital Bern macht man seit 12 Jahren gute Erfahrungen mit der hebammengeleiteten Geburt, auch im Zürcher Spital Triemli gibt es seit Kurzem diese Geburtsmöglichkeit. Prompt bezeichnete die gynäkologische Vereinigung des Kantons Zürich die Petition des Hebammenverbands als realitätsfremd und schrieb in einem Mediencommuniqué: «Schwangere Frauen wünschen sich eine sanfte Geburt, aber auch maximale Sicherheit für Mutter und Kind.»
Aufklärung ist notwendig
Die aktuelle Datenlage zeigt: Ein Kaiserschnitt, der nicht nötig ist, ist unter Umständen nicht die sicherste Lösung. Weder für die Mutter noch für das Kind. Die deutschen Gynäkologen haben vergangenen Herbst beschlossen, mit diesem Fazit an die Öffentlichkeit zu treten. In der Schweiz scheint man noch nicht so weit. Obwohl es Hinweise zu Langzeitfolgen gerade auch für das Kind gibt. «Diese Studien sind statistisch-epidemiologisch nicht gut gesichert», begründet Surbek, Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, die Zurückhaltung. «Sobald es klare Daten gibt, werden wir diese aufnehmen.»
Klar ist: Jede Frau hat das Recht, selber zu entscheiden, welche Geburtsform sie anstrebt. «Wichtig ist, dass sie die Risiken der Sectio kennt», sagt auch Surbek.
Schaut man sich auf den Internetseiten von Gynäkologen um, trifft man jedoch auch auf unvollständige Informationen. Etwa bei den Zürcher Gynäkologen Michael Singer und Pierre Villars, beide Mitglieder der Zürcher Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Villars auch bei der Schweizer Gesellschaft. «Für das Kind ist der geplante Kaiserschnitt am sichersten», steht da – seit mehr als zehn Jahren. Kein Wort über die vermuteten Langzeitfolgen wie Asthma oder Allergien. Auf Nachfrage meint Villars: «Diese sind höchst umstritten.» Die Seite werde jedoch demnächst überarbeitet. Gute Idee.
Fakten Kaiserschnitt
- 6- bis 7-fach höheres Risiko für Atemnotsyndrom nach der Geburt bei Kaiserschnitt drei Wochen vor dem Termin, am Termin ist das Risiko jedoch nicht erhöht.
- Die neonatalen Todesfälle sind mit 0,4 Prozent zwar selten, aber dennoch fast doppelt so häufig wie nach einer vaginalen Geburt, betreffen jedoch nicht den geplanten, sondern den notfallmässig durchgeführten Kaiserschnitt aufgrund von Komplikationen.
- Der Spitalaufenthalt verlängert sich um 2 bis 3 Tage.
- Die Rehospitalisationsrate innerhalb von 30 Tagen nach der Geburt ist nach einem Kaiserschnitt leicht höher.
- Mütter stillen nach Kaiserschnitt signifikant früher ab als nach vaginaler Entbindung.
- Zahlreiche Studien weisen einen Zusammenhang zwischen einer Sectio und der Entwicklung von Asthma im Kindesalter nach. Insgesamt ist das Asthma-Risiko um 20 Prozent erhöht; Frühgeborene und Kinder, deren Eltern an Allergien leiden, haben ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko.
- Hinweise gibt es auch, dass Kaiserschnittkinder häufiger Diabetes und Zölliakie entwickeln oder übergewichtig werden. Hier ist die Datenlage allerdings noch unbefriedigend.
- Das Risiko für Plazentastörungen, Gebärmutterriss und Gebärmutterentfernung bei erneuter Schwangerschaft ist 3,5- bis 12-fach erhöht.
Fakten vaginale Geburt
- 2010 kam bei 11,7 Prozent aller Geburten die Saugglocke oder seltener die Zange zum Einsatz.
- 55,7 Prozent aller übrigen Spitalgeburten waren vaginale Spontangeburten, bei 20,1 Prozent davon wurde ein Dammschnitt durchgeführt.
- Verletzungen im Vaginalbereich möglich.
- Spätschäden des Beckenbodens möglich, vor allem Urin- und Stuhlinkontinenz, nicht jedoch der Sexualfunktion.
Quelle, Box: Monatsschrift Kinderheilkunde 2012, BAG-Bericht «Kaiserschnittgeburten in der Schweiz»