100 Jahre «wir eltern»
«Rauchen ihre Kinder?»
Von Anita Zulauf und Martina Schnelli
Kindliches Fluchen wurde als Fortschritt gewertet und um das Stillen tobte ein Autoritätskampf: Ein Blick zurück auf Meinungen und Erziehungsstile.
Erziehungstipp 1923
Ungebildete Eltern
Kinder sind keine Zierpuppen, die man aufputzen darf und dann von ihnen verlangen, dass sie sich sauber halten wie steife, leblose Gebilde. Kinder wollen spielen, vergnügt sein. Kinderkleider müssen Schmutz, Flecken, dann und wann auch Risse und Löcher zeigen. Für kostbare, prächtige Kleider ist das schade, deshalb zurück zur Einfachheit! Ich sehe die Kleiderpracht bei Kindern stets als untrügliches Zeichen für den Mangel an Bildung bei den Eltern an.
Erziehungstipps 1929
Launenhafte Tyrannen
Einer der häufigsten Kinderfehler, der sich schon im frühen Alter recht unangenehm bemerkbar macht, ist der Eigensinn. Dabei handelt es sich um einen gekränkten eigenen Sinn, der als ein Fehler zu betrachten ist. In der Regel ist Eigensinn die Folge unzeitgemässer Nachgiebigkeit und Verwöhnung durch die Eltern. Mit Fragen wie etwa: «Möchtest du in die Konditorei oder auf den Spielplatz gehen?», worauf das Kind gelangweilt «in die Konditorei» antwortet, und die Mutter «wie du willst, mein Liebling», säuselt. Oder ein Dreijähriger, der entscheiden soll, ob er lieber Kaffee oder Milch wolle. Man soll das Kind nicht vor eine Wahl stellen. Sonst werden sie leicht zu launenhaften Tyrannen. Kinder in jungem Alter sind darauf angewiesen, dass man ihnen gibt, was für sie gut und zweckmässig ist. Sie lehnen sich gerne an den starken Vater oder eine starke Mutter an.
Textauszug 1934
Für Selbstbestimmung
Die Mutter gewährte der achtjährigen Trudi lange Haare und Zöpfe, auch wenn sie selbst einen «Bubikopf» für praktischer hielt. Kurze Zeit später wollte Trudi trotzdem die langen Haare schneiden. Die Tante wirft der Mutter vor: «Du verziehst das Kind und lässt dich von ihm regieren. Kinder brauchen Befehle! Nur so werden sie wohlerzogen werden.» Darauf die Mutter: «Vielleicht. Aber eines Tages bäumen sie sich gegen die Eltern auf. Dann gehen sie ihren eigenen Weg, und der führt oft ins Verderben, wenn sie nur gelernt haben, geführt zu werden und nicht sich selbst zu führen und für sich entscheiden. Vielleicht habe ich jetzt etwas mehr Mühe mit ihnen als du. Aber dafür verliere ich sie auch nicht, wenn sie Gross sind. Denn dann werden sie mir vertrauen und meine Freunde sein.»
Kolumne 1942
Nur Vati darf helfen
Elisabeth liess sich ausschliesslich von ihrem Vati auf das Häfi setzen. Als ich sie bevor ich ins Bett ging, wie immer aufnahm und auf den Hafen setzte und mein Mann nicht zu Hause war, konnte ich sie zwei Stunden lang nicht mehr hochheben. Sie verwehrte sich und war wie am Hafen festgewachsen, obwohl sie im Halbschlaf war. Dann kam endlich mein Mann nach Hause, und schwupps, liess sie sich von ihm hochheben und ins Bett bringen.
Textauszug 1957
Die beste aller Methoden
Ein Vater war auf seine Erziehungskünste bei seiner dreijährigen Tochter Anna stolz. Er sagte einfach immer das Gegenteil von dem, was er wollte. Zum Beispiel sagte er: «Lass die Tür schön offen», worauf das Kind sofort die Tür schloss. Zu seinem Freund, der zu Besuch war, sagte der Vater lächelnd: «Das ist die beste Erziehungsmethode. Zuerst hatten wir andauernd Scherereien mit Anna. Liebevoller Zuspruch fruchtete nicht. Und verdreschen darf man die Kleine ja auch nicht immer.»
Leserbrief 1960
Tafelmusik fürs Baby
Die sieben Monate alte Erika presste den Mund hermetisch zusammen, wenn sie Brei essen musste. Wenn ich meinte, ich hätte sie mit Ablenkungsmanöver überlistet, liess sie lächelnd alles wieder über die Lippen quellen. In der Not griffen wir zu aussergewöhnlichen Massnahmen. Die Tante musste sich fortan jedes Mal an den Flügel setzen und «Tafelmusik» machen. Das gefiel Erika und Löffel um Löffel Brei rutschte jetzt problemlos runter.
Textauszug 1964
Wie soll unser Kind heissen?
Die Qual der Namensgebung bei Neugeborenen ist gross. Soll man die Wünsche der Grosseltern berücksichtigen, die möchten, dass ihr Name weitergegeben wird? Oder jene der Göttis und Gottis? Es soll Eltern geben, welche Namen aus der Filmzeitung oder dem Schlagerkatalog wählen. Sie vergessen, dass sie einen Namen für ihr Kind und nicht zu ihrer eigenen Freude wählen sollten.
Kolumne 1967
Nie mehr Bastelterror!
Nach dem alljährlichen wüsten Durcheinander von Kleister, Unterlagszeitungen, Farben, Scheren, Schweiss und Tränen kommt der Augenblick, in dem man sich als Mutter schwört: Das ist das letzte Mal gewesen! Kein Wort gegen geglückte Bastelarbeiten. Aber alles gegen Gräuelgeschenke wie schief geratene Vasen, verschmierte Zeichnungen, gestickte Schauerdeckelein, kindlich angemalte Sirupgläser, die zwar den guten Willen, aber nicht den guten Geschmack spiegeln. Kinder freuen sich selbst nicht über solche Geschenke, diese Beschämung sollten wir ihnen ersparen.
Umfrage 1968
Rauchen Ihre Kinder?
Als meine Tochter in die Primarschule ging, habe ich ihr am Schulsilvester jeweils ein kleines Päckchen Zigaretten mitgegeben, mit der ausdrücklichen Erlaubnis, an diesem Tag zu rauchen. Sonst war es verboten. Im ersten Jahr der Mittelschule hat sie, sicher aus Geltungstrieb und um studentisch zu wirken, mit Rauchen angefangen. Sie tut es heute eher selten, vor allem aber, wenn sie seelisch down ist.
Leserbriefe 1977
Kampf ums Stillen
«Obwohl die Situation in dem Landspital etwas besser war als in einer ‹Gebärfabrik›, durfte ich meinen zweiten Sohn erst nach 48 Stunden ansetzen.»
«Ich musste bei allen vier Kindern erbittert darum kämpfen, dass man den Säugling regelmässig ansetzt und ich beide Brüste reichen durfte.»
«In diesem Spital bekamen die Neugeborenen eine 24-stündige Durstphase auferlegt, wir bekamen das Baby nicht zu sehen. Ich war dagegen. Der Chefarzt klassierte meine Haltung als erzieherisch antiautoritär und daher als falsch.»
«Vor allem wegen der Beharrlichkeit meines Mannes konnten wir durchsetzen, dass ich das Baby gleich auf dem Entbindungstisch ansetzen konnte, obwohl die Hebamme grundsätzlich dagegen war, aus Zeitgründen.»
«Der Kinderarzt war der Meinung, jedes Baby müsse eine Stunde am Tag brüllen, sonst sei etwas nicht in Ordnung.»
«Warum wird ein Baby, das nicht trinken will, unter fliessendes Wasser gehalten? Oder ins Genick gekniffen?»
Erziehungstipps 1984
Peng-Peng du bist tot!
Ein Verbot des Räuber und Polizisten- oder Indianerlisspiels mit Pistolen kann sich höchstens negativ auswirken. Dieses Spiel gilt nicht nur als Aggressionsabfuhr, sondern stellt auch eine Gelegenheit dar, sich in eine Kindergemeinschaft und Regeln einzufügen. Wenn der Knirps jedoch nicht mehr nur «Peng-Peng du bist tot» schreit, sondern seinen Gegnern wüste Schimpfwörter an den Kopf wirf, so hat er Fortschritte gemacht. Kultur, so ungefähr formulierte es der Psychoanalytiker Sigmund Freud, nahm dort ihren Ursprung, wo der Mensch begann, seinem Gegner nicht nur einen Stein, sondern einen Fluch nachzuwerfen. Wenn Kinder also ins Schimpfwörteralter kommen und anfangen, verbal zu streiten, so ist das ein Fortschritt und sollte nicht mit Verboten unterbunden werden.