Aus dem Vaterlnad
«Passanten schlagen, Autos stehlen»
Reto Hunziker hat grösstes Verständnis für pazifistische Kindererziehung. Nur – macht Jungs Gamen eigentlich noch Spass, wenn auf dem Bildschirm nur politisch Korrektes passiert?
Mir tut mein Stiefsohn ein bisschen leid: Er wird nie so viel Spass am Gamen haben wie ich. Das wurde mir letztens schlagartig klar. Ben forderte die 20 Minuten ein, die ihm pro Tag am Computer, Handy oder am Fernseher zustehen. Ich hörte nur mit einem Ohr mit, verstand aber: Bus Simulator 3 D. Also schaute ich ihm über die Schulter, als er auf dem Handy meiner Freundin herumtippte. Er hatte bei Youtube Bus Simulator 3 D eingegeben und schaute sich nun ein Video an, in dem jemand ebendas spielt – sofern man das so nennen kann. Ben beobachtete also, wie ein anderer eine Simulation spielt, in dem man einen Bus steuert. Passiv-Gaming quasi. Ein kurzer, spöttischer Lacher entwich mir. Und ich fragte ihn: Ist das spannend? Er: Ja. Ich: Was kann der Spieler da denn tun? Er antwortete: Fahren, die Türen aufmachen, Leute einsteigen lassen, blinken, Scheibenwischer anschalten. Ich: Aha. Er: Man kann auch Leute überfahren. Immerhin, sagte ich zu mir und fühlte mich sogleich ertappt, etwas Böses gedacht zu haben. Aber so ist es doch: Buben wollen Knebel brechen, Peitschen knallen lassen, Sandburgen einstampfen und Bauklotztürme zum Einstürzen bringen. Kurz: Sie wollen zerstören. Und gute Games lassen sie genau das machen. Als Mario auf Schildkröten springen, als Ratchet Roboter vermöbeln und später – vielleicht nicht mehr pädagogisch wertvoll, aber mein Gott, sie pubertieren sowieso – in Grand Theft Auto Passanten niederschlagen, Autos stehlen und vor der Polizei fliehen. Hier können sie tun, was verboten ist – ohne jemandem zu schaden. Ist doch prima. Sollen sie doch morden, plündern und vermöbeln, so oft sie wollen. Aber zurück zur Sache: Beim Bus-Simulator wurde mir klar: Ben hat keine Ahnung, wie es war, auf einem Nintendo Game and Watch Wände zu verschieben, damit Bomben nicht explodieren. Oder auf einem Gameboy Körper zu drehen und zu stapeln, so lange, bis es einem verleidet ist. Wie es war, einen Highscore zu knacken oder an einem Level zu verzweifeln. Oder zu erleben, wie sich die Figuren von einem LCD-Stäbchen zu einem farbigen Pixel-Haufen und später zu eckigen Körpern entwickelten.
Nein, Ben kann – und muss – zwischen Millionen von Levels in Tausenden von Spielen auf Dutzenden von Medien und Geräten auswählen. Zum Beispiel: das Harry Potter-Game für die Playstation 3, das es zum Lego gibt, welches es zum Film gibt, den es zum Buch gibt. Kein Wunder, ist er verwirrt. Und kommt auf die Idee, zuzuschauen, wie jemand Bus Simulator 3 D zockt.
Er kennt nur perfekt konzipierte und designte Games wie Angry Birds (das wir vor über 20 Jahren unter dem Namen Ballerburg am Schwarz-Weiss- Rechner spielten), die ihn nach kurzer Zeit langweilen. Weil ja nur wieder ein neues Level kommt. Ben ist sich von den modernen Spiele-Apps gewöhnt, schnell wieder neue Impulse zu kriegen: Mini-Level, neue Rüstungen und andere Belohnungen. Wir hingegen hatten keine Impulse. Wir hatten anfangs bloss unser «Compüterli» und wussten: Da kommt nichts mehr. Kein Update, kein neues Level. Es hilft nur: weiterspielen. Wer verliert, muss von vorne anfangen. Nur wer nicht aufhört, zu drücken, kommt weiter respektive spielt weiter. Und am Ende gewinnt der Highscore. Linear halt.
So waren wir aber für jeden Fortschritt dankbar: Hui, da gibts ja sogar mehrere Level. Boah, jetzt hat der Held auf einmal eine blaue Hose. Wow, Musik, die nicht mehr ganz so nervtötend ist. Oha, das «Manöggeli» sieht ja doch annähernd wie ein Mensch aus. Wir haben die Entwicklung von simpel zu komplex erlebt. Heute müssen die Games aufwendig auf simpel getrimmt werden, damit sie überhaupt einer länger als 20 Minuten spielt. Die Game-Welt muss Rückschritte machen, um vorwärts zu kommen. Die überproduzierten Apps schicken dem Konsumenten sogar Reminder: «Long time no see, spiel doch mal wieder mit mir!» Wie armselig. Mario hatte das nie nötig.