Trauer
Ophelia starb bei Vogelgezwitscher
Von Redaktion
Nathalie und Lukas mussten ihre krebskranke Tochter in den Tod begleiten. Ein Gespräch.
Langenthal, ein Nachmittag im September 2023. Nathalie Hofer und Lukas Bissegger leben in einem Haus in einem ruhigen Wohnquartier am Stadtrand. Das Wohnzimmer ist hell und geschmackvoll eingerichtet. Die Fotos an den Wänden zeigen ein strahlendes Mädchen mit hübscher Mütze. Ophelia. Die an der Nase angeklebte Magensonde erinnert an ihr kurzes Leben. Im Kinderzimmer im oberen Stock steht eine kleine Urne mit Ophelias Asche. In einem Körbchen und umgeben von Stofftieren. Ophelia – sie ist noch da. Und doch fehlt sie. Überall.
Im Alter von fast 22 Monaten ist Nathalies und Lukas Tochter Ophelia Arya an einem hochaggressiven Hirntumor verstorben. Als sie zehn Monate alt war, erhielten ihre Eltern die Diagnose AT/RT. Die Abkürzung steht für Atypischer Rhabdoider Tumor.
Nathalie und Lukas: Wo ist Ophelia heute für euch?
Nathalie: «Ophelia ist immer und überall bei mir. Körperlich mag sie gegangen sein, aber ihre Seele ist im und ums Haus für mich stark spürbar. Ich bin sicher, dass sie bei mir ist.»
Lukas: «Ophelias Geplapper ist verstummt, aber in meinem Herzen ist sie immer präsent. Manchmal nimmt der Schmerz alles ein. Ich bin aber zutiefst dankbar für alles, was sie mich gelehrt hat.»
Wie lebt sie in eurer Erinnerung?
Nathalie: «Ophelia hat immer allen Menschen gewunken und sie angelacht. Auch nach Fremden hat sie die Arme ausgestreckt. Sie hatte nie vor jemandem Angst, auch nicht vor den Ärzten, Ärztinnen und den Pflegefachpersonen, selbst wenn sie ihr manchmal wehtun mussten. Sie hatte das Urvertrauen, dass alle Menschen gut sind.»
Lukas: «Grundsätzlich bin ich nicht besonders gut darin, Menschen ohne Vorurteile zu begegnen. Ophelia hingegen nahm jeden Menschen, wie er ist. Ich glaube auch, sie hat gespürt, dass sie auf dieser Welt nicht so viel Zeit hat. Sie wollte alles in sich einsaugen. Und sie wusste: Wenn es mir dann doch nicht passt, kann ich schnell zurück in die Arme von Mami und Papi.»
Wann habt ihr von Ophelias Krankheit erfahren?
Lukas: «Bei der Vorsorgeuntersuchung mit neun Monaten stellte die Kinderärztin fest, dass Ophelias Kopf in den letzten drei Monaten überdurchschnittlich gewachsen war. Sie riet uns sicherheitshalber, diese Unregelmässigkeit im Berner Inselspital abzuklären. Am 7. März 2022, einem Montagmorgen, hatten wir einen Termin im Kinderspital Bern. Wir gingen früh aus dem Haus und hörten die Klänge der Langenthaler Fasnacht – das werde ich nie vergessen. Ich dachte, es wäre eine Routineuntersuchung. Für den Nachmittag hatten Nathalie und ich schon wieder Meetings angesetzt. Weil der Ultraschall eine Auffälligkeit zeigte, wollte der pädiatrische Neurologe unbedingt noch am selben Tag ein MRI machen. Um 16.30 Uhr bat er uns zur Besprechung in einen Raum, wo zehn bis zwölf Ärzte und Ärztinnen anwesend waren. Da war klar, es waren keine guten News.»
Nathalie: «Ich schrie und schrie. Ich konnte nicht mehr aufhören. Aber es war gut, dass ich es damals rausgelassen habe. Bei der Folgediagnose, also bei der Bestätigung, dass der Tumor bösartig ist, geschah das wieder mit mir. Seither habe ich nie wieder einen solchen Zusammenbruch gehabt, bis heute nicht.»
Wann habt ihr erfahren, dass Ophelia nicht mehr gesund wird?
Nathalie: «Das war am 11. Oktober. Ein MRI stand an. Ich hatte den Onkologen gebeten, er solle mir sofort Bescheid geben, wenn er eine Tendenz sieht. Noch am gleichen Tag sah ich ihn vor unserem Zimmer herumtigern. Am späteren Nachmittag trat er ein und hatte feuchte Augen. Der Tumor hatte gestreut. Der Arzt blieb lange bei mir im Zimmer, wir weinten zusammen. Danach entliessen wir uns selbst. Ich packte unsere Tasche und wir fuhren heim.»
Lukas: «Ophelia sollte noch ein gutes Leben haben. Niemand konnte sagen, wie viel Zeit blieb. Wir wollten noch mal gemeinsame Ferien erleben und zusammen in Langenthal Weihnachten feiern. Lebensverlängernde Massnahmen lehnten wir ab. Ich kontaktierte den Verein Herzensbilder. So entstanden die Fotos, die im Wohnzimmer hängen.»
Wie habt ihr die Zeit erlebt, in der ihr Ophelia palliativ zu Hause gepflegt habt?
Nathalie: «Wir entschieden uns für eine Therapie, die Ophelia möglichst viel Lebensqualität gab. Wir hatten eine riesige Apotheke und verabreichten die Medikamente selbst per Magensonde. Es durfte nie etwas fehlen, bis zum spezifischen Pflaster oder Tupfer nicht. Die Koordination und die Verantwortung brachten mich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs.»
Lukas: «Trotzdem bekam die Zeit eine andere Qualität. Die Beziehung zwischen uns Dreien hatte eine unbeschreibliche Intensität und Tiefe. Wir lebten komplett im Jetzt. Wussten nicht, wie viel Zeit uns mit Ophelia bleibt. Der nahende Tod machte uns Angst, trotzdem konnten wir die Zeit geniessen.»
Ihr habt Ophelia in den Tod begleitet. Möchtet ihr davon erzählen?
Nathalie: «Mitte Februar 2023 zeigten sich erste Anzeichen der Verschlechterung. Ich beobachtete, dass Ophelia ihren Bobbycar nur noch mit dem rechten Arm lenkte und dass ihr linkes Auge schielte. Der Tumor drückte. Im März erlitt sie über Nacht einen Schlaganfall. Sie wachte anders auf als sonst, schreiend, verängstigt. Ich setzte sie auf und sie kippte seitlich um. Ophelias Sinneswahrnehmung war ab diesem Zeitpunkt anders. Bei jedem Positionswechsel schrie sie panisch auf. Sie klebte an uns, wollte gar nicht aus unseren Armen. Eines Abends, wir sassen zum Essen auf dem Sofa, erbrach sich Ophelia auf mir. Dann schrie sie und hörte nicht mehr auf.»
Lukas: «Ich rannte nach oben, holte Morphin, das zum Glück innerhalb von ein paar Minuten wirkte. Wir wussten, jetzt ist die Zeit gekommen. Das Sterben fing an, seinen Lauf zu nehmen.»
Nathalie: «Als wir am nächsten Abend schlafen gingen, atmete Ophelia schwer und ich spürte, sie wird diese Nacht nicht überleben. Um 1 Uhr morgens weckte uns ihr Schrei, er ging bis ins Mark. Sie hatte Todesangst. Wir gaben ihr nochmals Morphin. Es wurde zunehmend belastender für uns: Einerseits wollten wir Ophelia ihre Schmerzen nehmen und ihr die ausreichende Dosis verabreichen, was in ihrem erregten Zustand schwierig war. Andererseits wollten wir liebevolle Eltern sein und ihr Halt und Sicherheit geben. In Absprache mit der Ärztin am Telefon setzten wir schliesslich den Opiat-Lollipop ein. Es ging eine gefühlte Ewigkeit, bis die Medikamente wirkten. Dann liessen wir die Spitex kommen.»
Nathalie Hofer
Wart ihr euch in dieser Extremsituation einig? Oder kam es zum Streit?
Nathalie: «In der Hektik gab es manchmal schon einen hässigen Ton.»
Lukas: «Aber das haben wir einander nie übel genommen. Ausserdem reden wir immer über alles.»
Nathalie: «Von der Todesnacht gab es für uns als Paar nichts aufzuarbeiten. Dafür bin ich zutiefst dankbar.»
Wie war es, das eigene Kind gehen lassen zu müssen?
Lukas: «Meine erste Priorität war, dass Ophelia keine Schmerzen hat. Das eigene Kind leiden sehen, das kann niemand. Bis zum letzten Atemzug würde ich bei ihr sein, das hatte ich ihr versprochen. Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie fast neun Stunden auf meinem Bauch liegen würde. Ich bekam hautnah mit, wie ihr Körper seine Funktionen herunterfuhr. Wenn ich Eltern in der gleichen Situation etwas raten darf: Informiert euch vorher, was im Sterbeprozess mit dem Körper passiert. Wenn man das nicht nachvollziehen kann, erschrickt man und ist überfordert. Morgens um 7.30 Uhr dachte ich, ich kann nicht mehr. Auch nach langen Atempausen kam sie immer wieder zurück, konnte nicht gehen. Wir waren müde, wussten nicht, wann das Ende wirklich kommt. Wir mussten durchhalten, wie wir es ihr versprochen hatten.»
Nathalie: «Zuerst lag ich so, dass ich Ophelia direkt ins Gesicht sah. Als ich sagte, dass die Bilder mir zu schaffen machten, ermutigte mich die Spitex, gut zu mir selbst zu schauen. Ich erlaubte mir schliesslich, meine Position zu verändern. Rückblickend war es entscheidend, dass ich in diesem Moment auch meine Verfassung bedacht habe. Die Begleitung durch erfahrene Menschen im Sterbeprozess ist für die Angehörigen zentral.»
Lukas: «Ophelia ging nicht durch die Hintertür, nicht bei Nacht und Nebel. Sie starb morgens um zehn bei Sonnenschein und Vogelgezwitscher. Wir machten das Fenster auf, wir schlossen ihre Augenlider nicht. Ihr Blick war wunderschön.»
Wie trauert ihr?
Lukas: «Unmittelbar nach Ophelias Tod trauerten wir sehr unterschiedlich. Ich stürzte mich in die Organisation für ihre Lebensfeier. Für diesen Ausdruck haben wir uns entschieden, wir wollten es nicht Trauerfeier nennen. Das war mir ein grosses Anliegen. Nathalie konnte nicht so stark in die Vorbereitungen involviert sein, sie hatte dazu nicht so viel Energie.»
Nathalie: «Das Reden war für mich anstrengend, ich wurde still. Kurz nach Ophelias Tod gab es zwischen uns schon schwierige Momente. Ich schaue bis heute oft Fotos und Videos von Ophelia an. Lukas geht dann lieber weg. Zu Beginn verletzte mich das, aber mir fehlte der Mut, es zu sagen. Meine Psychologin half mir, zu erkennen, wie jeder anders mit Verlust umgeht. Mit ihrer Hilfe definierte ich klarer, wie und wo wir gemeinsam trauern können. Als ich das bei Lukas thematisieren konnte, fiel die Last von mir.»
Wie hat euer Umfeld reagiert?
Lukas. «Den Grosseltern macht Ophelias Tod am meisten zu schaffen. Sie hadern auch heute noch stark mit dem Verlust. Das restliche Umfeld hat mit einer enormen Anteilnahme reagiert, vielleicht auch, weil wir immer ganz offen kommuniziert haben. Wir haben nichts schöngeredet, und dadurch nahmen wir Freunde und Freundinnen und Angehörige mit auf die Reise.»
Nathalie: «Vom ersten Moment an wurden wir mit Hilfsangeboten überschüttet. Zuerst war ich gerührt und überwältigt, mit der Zeit stellte sich aber für mich heraus: Die Leute wollen helfen, um uns Gutes zu tun, aber auch, weil sie sich hilflos fühlen. Aber so viel Unterstützung brauchten wir gar nicht.»
Ihr habt den Verein Ophelia’s Legacy gegründet. Was hat es damit auf sich?
Nathalie: «Ich nenne es lieber Projekt. Unsere Vision ist es, Kindsverlust und Trauerarbeit in allen Formen zu enttabuisieren und betroffene Familien zu informieren. Im besten Fall kann unsere persönliche Geschichte auch als Inspiration dienen, beispielsweise wenn Eltern unsicher sind, ob palliative Pflege und Sterben zu Hause möglich sind.»
Wie blickt ihr in die Zukunft?
Nathalie: «Ich weiss, dass ich Ophelia für den Rest meines Lebens jeden Tag vermissen werde. Gleichzeitig schaue ich auch mit Neugierde und Vorfreude in die Zukunft. Ich bin gespannt, was wir als Paar und auch als Eltern unseres zweiten Kindes noch alles erleben werden.»
Lukas: «Ich schaue erwartungsvoll und freudig in die Zukunft, im Wissen, dass unsere Familie wieder wachsen darf. Vor meinem geistigen Auge sehe ich drei Menschen, die oft in den Himmel hochschauen, winken und strahlen. Ophelia ist die vierte Person in dieser Familie und sie fehlt mir enorm. Doch wir sagen oft zueinander und zu uns selbst: Es ist okay, wieder glücklich zu sein.»
Lukas hat für Ophelia zwei Songs geschrieben. Zu finden sind sie auf Spotify und Instagram unter: opheliaslegacy.ch.
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Von den sehr aggressiv wachsenden Atypischen Rhabdoiden Hirntumoren treten jährlich ein bis zwei Fälle in der Schweiz auf. Am häufigsten davon betroffen sind Säuglinge und Kleinkinder in den ersten zwei Lebensjahren. Die Überlebensrate ist tief.