Schwangerschaft – Pränatale Prägungen
Neun Monate, die ewig wirken
Lange Zeit glaubten wir – und wir glaubten es gerne –, dass das Ungeborene im Mutterbauch in einer Art Schlaraffenland oder paradiesischem Zustand lebt. Umhüllt von warmem, süsslichem Fruchtwasser. Über die Nabelschnur rund um die Uhr versorgt mit der optimalen Nahrung. Weich gebettet und geschützt vor der oft lauten und bösen Welt. Das stimmt – aber leider nicht ganz. Bereits 1941 kratzte die Forschung kleine Risse in unser Bild dieses Mutterbauch-Idylls: Dem australischen Kinderarzt Norman Gregg war aufgefallen, dass nach einer Rötelepidemie erstaunlich viele Kinder mit Gehör, Augen und Hirnschäden auf die Welt kamen. Er brachte die vorgeburtlichen Schädigungen mit der Rötelerkrankung der Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung – und stellte damit die unangenehme These in den Raum, dass auch das ungeborene Kind vor gefährlichen Erregern nicht geschützt sein könnte.
In den folgenden Jahrzehnten verdichtete sich diese Vermutung. Schadstoffe und Medikamente machten von sich reden, welche die Plazenta-Schranke überschreiten; allen voran das Medikament Contergan, das Schwangeren in den 1960er-Jahren gegen Übelkeit verschrieben wurde und dazu führte, dass Tausende von Kindern mit fehlenden Gliedmassen oder Organen auf die Welt kamen. Das Idyll war zerstört, das Leben im Babybauch wurde ans Licht gezerrt, das Interesse der Wissenschaft an der pränatalen Phase erwachte: Seit der britische Epidemiologe David Barker vor mehr als 20 Jahren entdeckte, dass Menschen mit tiefem Geburtsgewicht ein grösseres Risiko für Herzkrankheiten, erhöhten Blutdruck und Diabetes haben, richten Forscher verschiedener Disziplinen ihren Fokus aufs ungeborene Kind: Immunologen, Stoffwechselexperten, Psychologen, Allergieforscher, Epigenetiker – alle stellen fest: Die pränatalen Einflüsse hinterlassen lebenslange Spuren. «Die ersten neun Monate entscheiden über das Schicksal unserer Kinder», sagt Andreas Plagemann von der Klinik für Geburtsmedizin der Berliner Charité kürzlich dem Magazin «Der Spiegel». So wissen wir heute, dass nicht nur Toxine auf den Fötus einwirken, sondern auch die mütterliche Ernährung, ihr psychisches Befinden, ihr Alltagsverhalten, ja sogar die Musik, die sie hört.
Fatale Programmierung
Um den Zusammenhang zwischen dem individuellen Gewicht bei der Geburt und dem Risiko einer späteren Übergewichtigkeit zu untersuchen, haben Plagemann und sein Team 66 Studien ausgewertet, die hierzu weltweit durchgeführt wurden. Insgesamt wurden die Daten von mehr als 640 000 Probandinnen und Probanden im Alter von bis zu 75 Jahren aus 26 Ländern und fünf Kontinenten in die Meta-Analyse einbezogen. Resultat: Kinder mit einem Geburtsgewicht von mehr als vier Kilo werden in ihrem späteren Leben doppelt so häufig übergewichtig wie normalgewichtige Neugeborene. Der Grund: Kinder, die zu schwer auf die Welt kommen, weil ihre Mutter in der Schwangerschaft übergewichtig ist, sich zu wenig bewegt oder Diabetes entwickelt, werden in der Schwangerschaft an einen Zuckerüberschuss gewöhnt – und das in der entscheidenden Prägungsphase, nämlich dann, wenn alle wichtigen Steuersysteme im Gehirn heranreifen und eingestellt werden. Als Folge davon hält der kindliche Stoffwechsel den Zuckerüberschuss für den Normalfall und schlägt später Alarm, wenn er weniger bekommt. Er ist, vereinfacht gesagt, auf Supersize-Portionen programmiert.
Seit einiger Zeit wird auch erforscht, wie das Ungeborene auf mütterlichen Stress reagiert, ganz besonders auf chronische Belastungen, anhaltende Ängstlichkeit oder Depressionen. Steht die Mutter unter grossem psychischem Stress, verändern sich beim Fötus die Herzfrequenz, das Bewegungs- sowie das Ruhe- und Aktivitätsmuster. «Die Wachstums- und Entwicklungsprozesse, die zu diesem Zeitpunkt im Gang sind, werden etwas weniger vielschichtig oder robust ausgestaltet», sagt der deutsche Hirnforscher Gerald Hüther. Komme dies nur hin und wieder vor, ergäben sich kaum nachteilige Folgen. Im Gegenteil: «Erlebt eine schwangere Frau die ganze Palette menschlicher Gefühle, macht das Kind bereits vor der Geburt Erfahrungen mit den verschiedensten Gefühlszuständen», so Hüther. Dauert der Stress jedoch an, kann er die Empfindlichkeit für eine Vielzahl von späteren Erkrankungen fördern, weil das Immunsystem geschwächt und verändert wird, wie Wissenschaftler eben herausfanden. Studien zeigen, dass Kinder von Müttern mit Depressionen oder pränatalen Angststörungen ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen, Aufmerksamkeitsstörungen wie ADHS und Stressempfindlichkeit haben.
Gene an- oder ausknipsen
Die Wissenschaft bestätigt damit, was die pränatale Psychologie und Psychotherapie schon seit Längerem postuliert: Traumatisierungen können auch auf vorgeburtliche Erlebnisse zurückgehen. Das Interesse am Thema zeigt sich in der wachsenden Zahl von Büchern, die jedes Jahr zu diesem Thema erscheinen. «In der Schwangerschaft werden Grundmuster des emotionalen und körperlichen Verhaltens und Fühlens geprägt», so der deutsche Pränatalpsychologe Ludwig Janus, der sich über viele Jahre dem Seelenleben des Ungeborenen gewidmet hat. Doch das Wechselspiel von Umwelt, Verhalten und Erbgut ist noch viel komplexer als bisher angenommen. Faszinierende Forschungsergebnisse liefert die Epigenetik, eines der aufregendsten Gebiete der Molekularbiologie. «Epi» ist Griechisch und bedeutet «daneben, obenauf» – die epigenetischen Marker befinden sich nicht in den Buchstaben der DNS, sondern darauf, es sind chemische Anhängsel, die entlang der DNS verteilt sind und diese wie Schalter an- oder ausknipsen. In den Genen steht, welche Haar und Augenfarbe ein Kind haben wird, aber auch für welche Krankheiten es anfällig sein wird. Epigenetische Moleküle können diese Informationen aktivieren oder verändern, wie ein Experiment mit Labormäusen eindrücklich belegt.
Agouti-Mäuse verfügen über ein Gen, das ihnen ein gelbes Fell verleiht, sie gefrässig macht und obendrein anfällig für Krebs und Diabetes. Wissenschaftler der amerikanischen Duke-University fütterten den pummeligen Weibchen zwei Wochen vor der Paarung und während der Schwangerschaft Vitamin B12, Cholin und Folsäure. Erstaunlich: Als die Mäuse Nachwuchs bekamen, war die Mehrzahl der Nagerkinder schlank, hatte ein braunes Fell, es fehlte ihnen die Veranlagung für Krebs und Diabetes, ja, sie blieben gar bis ins hohe Alter flink und rank. «Es war ein wenig unheimlich zu sehen, wie eine derart feine Veränderung in der Ernährung der Mutter solch dramatische Auswirkungen auf die Jungen hatte», sagte Forschlungsleiter Randy Jirtle im Geo. Denn: Wenn Wissenschaftler von Mäusen sprechen, meinen sie meist auch den Menschen. Die Experimente im Labor bestätigen die Wichtigkeit der Umwelt bei der Entwicklung eines Lebewesens. Beeinflusst wird das Epigenom von den mütterlichen Hormonen, von der Nahrung, aber auch von chemischen Stoffen, die wir aufnehmen. Heute wissen die Forscher zudem, dass die Vererbung epigenetischer Merkmale nicht bei den unmittelbaren Nachkommen endet, sondern sich fortpflanzen kann bis zu den Enkeln, Urenkeln und Ururenkeln.
Eine ganze Menge Verantwortung lastet also auf der Gesellschaft, vornehmlich den Müttern. Zur Entlastung sei gesagt: Das Epigenom ist nicht nur in der Entwicklungsphase veränderbar, sondern auch noch im höheren Alter. Gene sind nicht starr, sondern ein Leben lang formbar. Was wir tun können? Neu ist es nicht: uns regelmässig bewegen. Viel Obst und Gemüse essen. Zigaretten, Alkohol und Chemie meiden.