Reformierter Pfarrer Andrea Marco Bianca (56), Küsnacht (ZH)
Werte – das ist für mich als Pfarrer ein zentraler Begriff. Werte bilden für mich die Brücke zwischen einem kirchlichem und einem alltäglichen Leben. Sie sind, salopp gesagt, wie ein Container, in dem alles drin ist, was man im Leben für wesentlich und nötig hält. Sie ziehen einen an und führen zu einem Verhalten. Etwa frage ich vor der Taufe die Eltern, welche Werte sie ihrem Kind mitgeben möchten. Bei der Hochzeitsvorbereitung frage ich das Paar nach den drei zentralen Werten, auf die sie ihre Ehe gründen wollen. Das führt häufig zu einem aufschlussreichen Gedankenaustausch. Und bei einer Abdankung möchte ich von den Angehörigen wissen, was ihnen vom Verstorbenen Wertvolles in Erinnerung ist. Oft erwartet man von mir als Pfarrer, dass ich sage «Glauben» sei der höchste Wert. Aber mir ist es wichtig, nahe bei den Menschen zu sein. Deshalb spreche ich lieber von «Ver-trauen». Auch finde ich, dass man Werte nicht zu hoch ansetzen darf, denn Menschen müssen sie erreichen können. Nehmen wir die Erziehung: Hoffentlich werden Eltern ihren Kindern beibringen, dass Ehrlichkeit ein hoher Wert ist. Schon deshalb, weil eine ausgesprochene Wahrheit die Möglichkeit in sich birgt, sich durch offenen Austausch weiterzuentwickeln. Aber nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit –das schafft kein Kind. Die kleine Schummelei, die Notlüge müssen ebenfalls Platz finden. Nachsicht und Güte zählen nicht weniger als ganz hohe Ziele. Wir brauchen Werte in der Mitte zwischen Normen, dem «du musst» und Wünschen, dem «ich will». Das kann man einem Kind leicht erklären. Vielleicht habe ich den Wunsch, bequem einkaufen zu gehen, aber auch die Überzeugung, dass Umweltschutz richtig ist. Dann lasse ich das Auto stehen und stelle so kurzfristige Befriedigung zugunsten von langfristig Wertvollem zurück. Kinder verstehen das. Das Klären von Werten finde ich essenziell. Deshalb werde ich hellhörig, wenn Begriffe wie «christliche Werte» und «Leitkultur» inflationär verwendet werden. Oft wird nämlich ein «Wert» nur beschworen, um etwas Egoistisches durchzusetzen. Wir sollten weniger darüber reden, was «Schweizer Werte» sind, als darüber, welche Werte für das Zusammenleben der verschiedenen Menschen in der Schweiz entscheidend sind. Da bin als Pfarrer natürlich überzeugt, dass das Christentum sehr Bedeutsames in die Diskussion bringt. Miteinander über Werte zu sprechen ist unerlässlich. Und nicht nur über abstrakte Tugenden, sondern über konkrete Entscheidungen des Alltags. Beispielsweise: gilt beim Kleiderkauf «je billiger, desto besser»? Was ist dann mit den Produktionsbedingungen? Über solche kleinen Fragen kann man mit Kindern und Jugendlichen bei jeder sich bietenden Gelegenheit reden. Altersangemessen und mit einer Prise Humor. Ich bin überzeugt: so entsteht auf die Dauer eine Sehnsucht nach dem Besseren, das in einem schlummert.