Erziehung / Werte
Was uns wertvoll ist...
«Werte» werden derzeit oft und gern beschworen. Nur – was ist damit gemeint? Brauchen wir sie im Alltag? Und welche geben wir unseren Kindern mit? Eine Suche nach dem inneren Kompass.
Vor ein paar Monaten habe ich eine Maturaarbeit gegengelesen. Es ging um Frauendarstellung in den Medien. Fleissig hatte die Maturandin geforscht, gesammelt und dann ihre Arbeit abgeschlossen. Ohne Rechtschreibfehler und – ohne Wertung des Herausgefundenen. Ob da nicht ein Teil fehle? «Nö, unser Lehrer hat gesagt, unsere persönliche Meinung interessiere keinen.»
Ah, ja. Wie kann das sein? Wie kann Reife attestiert werden, ohne dass jemand zeigt, dass er Massstäbe entwickelt hat, ein Wertsystem, das ermöglicht, auch komplexe Sachverhalte zu beurteilen? Ist ein innerer Kompass nicht unerlässlich in unübersichtlicher Zeit? Offenbar nicht.
Dabei werden derzeit laut «christliche Werte» beschworen. Scheppert das Wort «Leitkultur» durch Reden und Artikel, schweben «Recht» und «Menschenwürde» als schillernde Seifenblasen durch Diskussionen. Und erweisen
sich oftmals als ähnlich belastbar.
Erziehungsratgeber überbieten sich mit prallen Begriffen wie Achtsamkeit, Respekt, Vertrauen, Mitgefühl. Doch besteht wirklich der unterstellte Konsens darüber, welche ethischen Orientierungen die Gesellschaft der Zukunft braucht? Welche Benimmstandards sich als nützlich erweisen und welche als blosser Zierrat? Was bringen wir unseren Kindern bei? Wie halten wirs etwa mit jenem verweigerten Handschlag eines männlichen Schülers anderen Glaubens für eine Lehrerin? Rüttelt der an unseren Werten? An der Schweizer Identität? Oder rüttelt der bloss an Konventionen? Braucht es in einem solchen Fall klare Kante oder Gelassenheit?
Viele Eltern leiden in der Erziehung inzwischen unter dem «Ich kann mich gar nicht entscheiden. Alles so schön bunt hier»-Nina-Hagen- Syndrom. Denn um erziehen zu können, braucht es die Überzeugung, zu wissen, was richtig ist.
Aber ist das nicht vermessen? Schliesslich klingen viele Werte gut: Toleranz. Aber auch konfliktfreudiges Selbstbewusstsein. Freiheit. Aber doch auch Freiheit des Andersdenkenden. Ökologisches Bewusstsein und dazu natürlich Leistungsbewusstsein. Fleiss, Ordnung und Disziplin – ja. Allerdings sind Kritikfähigkeit, Kreativität und ein eigener Kopf doch mindestens ebenso wichtig. Vielleicht am besten alles zusammen Geschüttelt und gerührt?
Eine allgemeingültige Antwort gibt es nicht. Aber da die Adventszeit eine Zeit der Besinnlichkeit sein soll, kann es in diesen Wochen nicht schaden, statt ausschliesslich über Wunschzettel, das angemessene Tenue für die Firmen-Weihnachtsfeier und ein Rezept für vegane Zimtsterne nachzusinnen, zu überlegen, was für Werte bedeutsam im Leben sind. Im eigenen, in dem der Kinder. Und welchen dieser moralischen Grundüberzeugungen wir eigentlich Taten folgen lassen.
Vor 2018 Jahren hat schon einmal jemand eine Wertediskussion entfacht: über Nächstenliebe und Vergebung, Mut, Glauben und Überzeugungen, die tragen. Man muss diesem Geburtstagskind Jesus nicht folgen, man muss kein Christ sein, aber vielleicht bieten die freien Tage rund ums Weihnachtsfest ein paar ruhige Stunden, um den eigenen aus allen Nähten platzenden Schrank mit Werten auszumisten wie Kleider: weg mit den staubigen, den nie benutzten und denen, die sowieso nie gepasst haben oder seit Neustem unangenehm kneifen. Dann bleiben am Ende nur die wirklich brauchbaren Stücke. Die, die es verdient haben, häufiger ausgeführt zu werden: mit aufrechtem Gang. Mit Haltung.
Als Inspiration und weil verschiedene Wertvorstellungen, solange sie auf dem Boden der Gesetze bleiben, problemlos nebeneinander Platz haben, wie Pullis, Blusen und Röcke, haben wir die unterschiedlichsten Menschen nach ihren Werten, nach ihren subjektiven Orientierungen gefragt. Denn der Lehrer der Maturandin hat Unrecht: In einer immer verzwickter werdenden Welt ist die durchdachte persönliche Be-wert-ung eben doch interessant. Und wichtig.
Was haben Sie für Wertvorstellungen?
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