Toskana
Mutter und Tochter auf Reisen
Weil der Kindsvater und ich nicht mehr zusammen in die Ferien fahren wollten, verreise ich zum ersten Mal allein mit nur einem Kind. Unsere Fahrt führt uns durch die Toskana und mich näher zu meiner Tochter.
Sie sitzt dösend im Sand, angelehnt an die Beine der Flüchtlingsfrau. Die Afrikanerin in bunten Kleidern flicht kleinste Zöpfchen in die Haare meines zehnjährigen Kindes. Als sie fertig ist, zeigt mir die Frau noch, wie man einen Sonnenschirm fachgerecht in den Sand einbuddelt, damit der nicht bei jedem Windstoss wegfliegt.
Seit elf Tagen sind wir zusammen unterwegs, meine Tochter Malin und ich, sechs Tage hier in Italien, am Strand von Calambrone, auf dem Campingplatz Mare e Sole. In dieser Zeit sind wir uns auf eine Weise näher gerückt, die ich weder vermutet noch vermisst hatte.
Getrennt in die Ferien
Zwei Wochen vorher: «Was? Du hast noch immer nichts gebucht? In vier Tagen fahren wir! Also ich übernachte imfall nicht im Auto!» Mein Kind schnaubt vor Wut. Nächstes Jahr, sagt sie, fahre sie mit dem Papi in die Ferien. Denn der wisse schon seit Monaten ganz genau wie und wohin. «Und du hast wieder mal keine Ahnung.» Das stimmt so nicht.
Ich weiss, dass wir mit dem Auto ein paar Tage nach Florenz fahren. Und danach irgendwohin ans Meer. Ich weiss nur noch nicht, wo wir übernachten und wo genau es uns hintreiben wird. Ich mag Ferien nicht am Computer planen. Ohne die Atmosphäre zu spüren, den Duft zu riechen, den Strand zu sehen und das Meer. Mir schwebt eine Pension vor, verwunschene Terrasse, Oleanderblüten und Zitronenduft, breite Steintreppe zum Strand. Was nach romantischem Abenteuer riecht, scheint für eine Zehnjährige unweigerlich im Desaster zu enden.
Es ist eine Premiere. Zum ersten Mal überhaupt fahre ich mit nur einem meiner vier Kinder in die Ferien. Nach der Trennung von Bett, Tisch und Haus vor fünf Jahren wollen der Kindsvater und ich nun auch die Ferienreisen getrennt verleben. Jeder von uns soll mit einem der beiden Jüngeren, die noch zu Hause leben, verreisen. Die beiden Kinder fanden die Idee gut. Doch nun, kurz vor Ferienstart, sind beide am rumnölen. Als Familie wärs doch schöner, nörgeln sie.
Glücklicherweise hat der Vater geplant und gebucht. Darum fliegt die 16-jährige Mikka mit ihm nach Wien. Die Kleinere sitzt da und schmollt. «Okay, ich buche für Florenz vier Nächte. Den Rest lassen wir offen. Ein fairer Kompromiss», sag ich, um Harmonie bemüht. Sie gibt sich weiterhin verschnupft.
Urban Safari in Florenz
Camping Firenze in Town, finde ich auf Google, ein Stadtcamping in Florenz. Dort buche ich das Bungalow Tenda Urban Safari, für zwei Personen. Vier Nächte, 242 Euro. Mit Pool, für Abkühlung nach den Stadttrips im Hochsommer. Klingt gut, finde ich. Ich drück den Reservierungs-Button und verkünde dem unmotivierten Kind die frohe Botschaft. «Pack nur leichte Kleider ein, Shirts, Shorts, Bikini. Es ist wahnsinnig heiss im Süden», sag ich. «Regenjacke? Schirm? Gummistiefel?», fragt das Kind. «Meine Güte, nein, wir fahren ja nicht nach Wien, nicht wahr?», sag ich süffisant.
Es regnet in Strömen, als wir beim Camping Firenze in Town vorfahren. «Hast du das Wetter denn nicht gegoogelt?», fragt mich das Kind fassungslos. Nein, hatte ich natürlich nicht. Jetzt sind wir hier, es ist nass. Und kühl. Und unsere Koffer vollbepackt mit leichter Bekleidung. Tenda Urban Safari klingt auch nicht nach wohlig warmem Hüttenfeeling. Zum Grübeln bleibt keine Zeit. Jetzt geht es mal darum, das Safari-Dings zu beziehen.
Es sieht aus wie ein Gartenhäuschen mit Balkon, das Interieur ist hübsch und urgemütlich. Per Klimaanlage hat man schon mal vorgeheizt. Müde von der langen Fahrt liegen wir im breiten Doppelbett, das den grössten Teil des Häuschens ausfüllt. Das Kind ist besänftigt, kuschelt sich an mich. Der Regen trommelt aufs Dach.
Die Flohmärkte sind ein Highlight
Die nächsten Tage werden sommerlich heiss. Wir geniessen Florenz, sitzen in gemütlichen, lauschigen Strassencafés, spielen Joker und schlecken Gelato. Wir tun nur, worauf wir Lust haben. Kein Gedanke, uns in die hundert Meter lange Warteschlange einzureihen, um irgendeinen Palazzo der Medici von innen zu sehen. Schlendern wir auf der Piazza della Signoria zufälligerweise an der David-Kopie von Michelangelo vorbei, ist das auch schön. Gesucht hätten wir sie nicht. Für uns ist das Zufällige Kultur genug. Klar müsste man für unsere Bedürfnisse nicht nach Florenz reisen. Aber man kann.
Raum für die Wünsche der Tochter
Nur für Flohmärkte nehmen wir weite Wege auf uns, wühlen uns stundenlang durch Altes und Gebrauchtes, kaufen hübsche Dinge. Es ist viel entspannter, als wenn wir als Familie unterwegs sind und an jedem Tag die Ansprüche aller zu erfüllen sind. Wir lassen uns treiben und ich bin gerne bereit, den Ideen und Wünschen meines Mädchens zu folgen. Abends sitzen wir in einem Park, Foodtrucks verkaufen Pulled Porc und Pommes, wir unterhalten uns an langen Holztischen mit gutgelaunten Italienern. Und als Malin ihr Eis nicht mag, reicht es eine Mutter einfach ihrem Kind weiter, bedankt sich herzlich und lacht.
Am fünften Tag gehts weiter ans Meer. Meine Tochter wird wieder quengelig. Ihre Unruhe schwappt nun auch auf mich über, die alleinige Verantwortung für mein Kind wird mir deutlich bewusst. Die Nachfrage des Kindsvaters, was wir tun werden, wenn wir keine Unterkunft finden, tat ich zu Hause noch mit einer lässigen Handbewegung ab. Jetzt ist die Lässigkeit nicht mehr so richtig spürbar. Wir fahren Richtung der Tyrrhenisch-Ligurischen Küsten. «Wie lange sind wir unterwegs», fragt mich Malin. Und: «Ich schlafe imfall nicht im Auto.» Ich schwitze. Auch, weil es heiss ist.
In Livorno tut sich vor uns das Meer auf, wir parken, setzen uns an den Strand, und wie immer am Meer ist da ein Gefühl des Ankommens, des Zuhauseseins. Ich leg den Arm um mein Kind und sage: «Hier könnte ich für immer bleiben.» «Ich auch», sagt sie. «Mit Mikka und Papa.»
Notvariante Zelten
Pensionen am Strand entlang der etruskischen Küste sind teuer und – ausgebucht. Bei jeder möglichen Unterkunft sagt Malin, noch bevor wir was gesehen haben: «Hier bleiben wir.» Die Stimmung eskaliert, als wir bei einem Zeltplatz mit freien Bungalows den rund 30 Quadratmeter kleinen, vermüllten Strand anschauen, der eindringlich nach Hundekot riecht. «Hier bleiben wir», sagt sie. Ich steige ins Auto, sie zwangsläufig auch. Ich bin gereizt, sie ist wütend. Wir schwitzen. Ich sehe ein, dass gemütlich die Gegend erkunden keine Variante ist. Als wir in Calambrone ankommen, steuern wir den nächstbesten Campingplatz an. Mare e Sole. «Bungalows? No. Aber wir haben noch Platz für Zelte, 28 Euro die Nacht», sagt die Rezeptionistin. Für den Notfall – der selbstverständlich nie eintreffen würde – habe ich das Wurfzelt eingepackt, das meine ältere Tochter für ein Openair-Festival gekauft hatte. Dazu drei Schlafsäcke.
Nichts ist mehr privat
Der Strand ist fantastisch. «Hier bleiben wir», sag ich. Wir werfen unser Popup-Zelt auf den zugewiesenen Platz, und innert Sekunden ist es bezugsbereit. Nur sechs Heringe müssen in den Boden gerammt werden. Die drei Schlafsäcke als Matratzen, zwei Decken zum Zudecken, ein rotes und ein buntes Tuch vor dem Zelt als Sitzplatz. Mehr haben wir nicht. Hätten wir geahnt, dass wir tatsächlich zelten, hätte ich einen Tisch und zwei Campingstühle eingepackt. Nun aber fühlte es sich an wie zu frühen Hippie-Zeiten. Back to the roots. Malin siehts pragmatisch: «Hauptsache ein Dach über dem Kopf.»
Da wir keinerlei Infrastruktur besitzen, müssen wir auch nichts tun. Kein Abwasch, kein Wischen, nichts. Wir essen Pizza vor der Bar, amüsieren uns an der allabendlichen Karaoke-Vorstellung, an der Männer, Frauen, Kinder, alte wie junge, singen und tanzen. Wir lachen uns schief über die verschrobenen Italiener, die ihre Hunde in Kinderbuggys herumschieben. Und erfahren, dass dies zu den Platzvorschriften gehört, aus Hygienegründen. Die Wägelchen können an der Rezeption gemietet werden.
Der Nachteil am Mini-Zelten? Jegliche Privatsphäre geht flöten. Alles, was man sonst im Badezimmer tut, Haare föhnen, Zähne putzen, schminken, tut man vor den Lavabo-Aussenspiegeln der in die Jahre gekommenen Sanitärstation. Jeder, der sich schon mal in einem kleinen Zelt umgezogen hat, kennt es: Man wälzt sich hin und her und robbt über den Boden, um sich die Hose über den Po zu ziehen. Alternativ geht man im Pyjama verknittert und verwuschelt zu den Umkleidekabinen. Auch nicht toll.
Der Campingplatz wird vor allem von italienischen Mehrgenerationen-Familien bevölkert, die auf ihren Stammplätzen mit Wohnwagen und angebauten Verschlägen ganze Sommer verbringen. Die Stimmung ist ganz Italianità, laut, freundlich, überall wird zusammen gesessen, gegessen, geredet, getrunken, und überall läuft ein Fernseher auf Openair-Lautstärke.
Soll sie alleine baden?
Bei unserem abseits in Strandnähe gelegenen Platz funktioniert die WLAN-Verbindung nie. Mein Kind schmollt, wenn schon keine Youtube-Videos, dann baden. Mit Mama. Ich jedoch bin beschäftigt, habe es mir am Strand bequem gemacht, mit den drei Büchern, die ich in diesen Ferien lesen will. Ich finde, dass Zehnjährige gut alleine baden können. Zumal sie sich ja auch anderen Kindern anschliessen oder bei der Strandanimation mitmachen könnte. «Spinnst du, ich verstehe ja kein Wort», sagt sie. Dass diese Ausdrucksweise nicht hilfreich ist, merkt das Kind sofort. Ich vertiefe mich in die Lektüre. Kann mich aber nicht konzentrieren, weil sie unaufhörlich seufzende Geräusche macht. Wir maulen beide aneinander rum. Doch ich weiss schon, dass es nun an mir ist, Kompromisse einzugehen.
So preschen wir bald auf der Luftmatratze über hohe Wellen, was überraschenderweise total viel Spass macht. Und wir lesen. Ich statt der drei Bücher nur eines.
Zeit für die Jüngste
Wir liegen gemütlich am Strand, und Malin erzählt mir von der Schule, den Freundinnen, und noch eine Anekdote über ein erstaunliches Ereignis. Als ich mit einem überraschten «Ach ja?» antworte, schimpft sie los: «Das habe ich dir zu Hause sicher dreimal erzählt! Ich hab genau gewusst, dass du mir nicht zugehört hast! Das sehe ich an deinem Gesicht. Ich bin immer weniger wichtig als die anderen. » Die anderen sind Malins Geschwister. Sie sind erwachsen oder kurz davor. Sie haben Jobprobleme, Beziehungsthemen, Pubertätsschübe. Sie reden lauter, sind seltener da, aber wenn, dann werden sie gehört, wird diskutiert, wir nehmen uns Zeit. Deutlich wird mir bewusst, dass ich Malin eine Rolle zugewiesen habe, die ihr nicht gerecht ist: Die Kleine, Laute, Ungestüme, Wilde, laut drauflos Plappernde, die man besser etwas bremst.
Ich schaue sie an, mein Mädchen, mit den süssen Sommersprossen, dessen Scheitel mir längst über die Augenbrauen gewachsen ist. Wir sind in diesen Ferien näher gerückt, und nun empfinde ich eine tiefe Zuneigung zu meinem Kind, das bald ein junges Mädchen sein wird. Und mir wird bewusst, dass ich aufpassen muss, das alles nicht zu verpassen. Denn hat man bereits drei Kinder ins Erwachsenenleben begleitet, ist vieles erlebt, gesehen, erfahren, fast nichts ist mehr neu und überraschend. Nur für das Kind eben schon.
Ich lege meinen Arm um sie. Und bin froh, dass nur wir beide hier sind. Sie schaut mich an, lächelt schief, versöhnlich. Wie immer. Kinder sind so gross im Verzeihen. Wir liegen noch eine Weile zusammen und plaudern. Dann gehen wir Wellenreiten. Sie wünscht sich die Zöpfchenfrisur von der Afrikanerin. Ein schönes Abeschiedsgeschenk. Denn morgen fahren wir heim.
Als Quereinsteigerin in den Journalismus schreibt Anita Zulauf erst für die «Berner Zeitung», die Migrationszeitung «Mix», nun bei «wir eltern» und als freie Journalistin bei dem Kulturmagazin «Ernst». Sie mag Porträts und Reportagen über Menschen-Leben und Themen zu Gesellschaft und Politik. Als Mutter von vier Kindern hat sie lernen müssen, dass nichts perfekt, aber vieles möglich ist.