Frauen und Arbeit
Mithilfe der Heinzelfrauen
Wie vereinbaren Frauen Beruf und Familie? Oft dank anderer Frauen im Hintergrund. Doch Kinder haben die Altenpflegerinnen, Putzhilfen und Kita-Betreuerinnen auch…
Lesen Sie hier direkt die Erfahrungsberichte einer Putzfrau, einer alleinerziehenden Kinderbetreuerin und einer angehenden Pflegefachfrau.
Die Putzfrau als Rettungsboot
Meist haben wir uns in der Tür getroffen. Ich kam von der Arbeit nach Hause gehetzt, sie hetzte von der Arbeit in meinem Zuhause in ihr Zuhause. Oder zur nächsten Arbeitsstelle. Und von da aus oft zu noch einer weiteren. Bojana* war jahrelang meine Putzhilfe – und mein Rettungsboot. Sie hat dafür gesorgt, dass ich als Alleinerziehende zwischen Job, Kind, Hort und Haushalt nicht untergegangen bin. Sie hat bei uns sauber und meiner Tochter nach dem Kindergarten die Tür aufgemacht.
Etwas Stress weniger. Für mich. Denn während ich damals, als die Kleine noch klein war, Teilzeit gearbeitet habe – «so ein Kind, das braucht einen ja» – hat Bojana 100 Prozent gearbeitet oder 150 oder 200. Genau weiss ich das gar nicht. Und ein bisschen schäme ich mich dafür. Schliesslich war sie – genau wie ich – Mutter. Zwei Söhne und einen Mann, der auf dem Bau gejobbt hat. Aber nicht immer. Deshalb arbeitete Bojana für vier.
Ab und an hielt sie sich den schmerzenden Rücken. Und manchmal musste sie ganz schnell weg, weil sie noch ein Lehrergespräch hatte. Dazu hat sie ihr bestes Kleid angezogen. Nur: Wer hat eigentlich nach ihren Söhnen geschaut, wenn sie gearbeitet hat? Wer hat deren Hausaufgaben kontrolliert, die Handys konfisziert und das Einmaleins abgefragt? Wer hat gekocht? Geputzt? Und zu ihren Kindern das gesagt, was sie oft zu meiner Tochter gesagt hat: «Du müssen guttt lernen, damit Frau Professore werden. Nicht wie ich putze.» Meine Tochter hat dann gelacht. Doch lustig ist der Satz allein für die, die in der richtigen Schublade geboren werden: als Kind Flöte und Ballett lernen, Eltern mit beruhigendem Kontostand haben und später dann eine Hilfe wie Bojana.
Durchkommen kommt vor Aufsteigen
Ulkig statt bitter klingt das nur in den Ohren von Frauen, die das Privileg haben, zu klagen, wie schwierig es ist, Kind und Karriere unter einen Hut zu bringen, als Mutter beruflich nach oben zu kommen. Bojanas denken nicht über Karrieren nach, weil Durchkommen-Müssen vor Aufsteigen steht und in ihrer Welt gläserne Decken keine Metaphern sind, sondern ein Fall für den Glasreiniger. Nur – eine Familie haben auch diese Frauen.
Aber wissen wir eigentlich, wie sich diejenigen organisieren, die für uns all das tun, wofür wir anderen keine Zeit oder Lust haben? Die Frauen, die Wohnungen und Büros sauber halten. In Kitas unsere Kinder wickeln, trösten und ihnen Äpfel in Schnitze schneiden, während wir arbeiten. Die im Seniorenheim unseren alten Eltern das Essen bringen und sie waschen.
Gekaufte Entlastung
Was eigentlich machen die alle mit ihren eigenen Kindern, Eltern und Wohnungen? Kaufen die sich auch Entlastung? Hatte Bojana Entlastung? Nie gefragt. Wie überhaupt selten jemand nach den Frauen fragt, die den anderen den Rücken frei halten, auch wenn der eigene dabei kaputt geht. Nach den Supporterinnen, die im Schatten – fast unbemerkt – unser aller Leben erst am Laufen halten. Gut, während der Corona-Krise treten sie ein bisschen aus dem Schatten ins Licht. Systemrelevant heisst ihr Job plötzlich, weil ohne sie alles zusammenbräche. Dafür gibt es Applaus, aber nicht mehr Geld.
Verdienstvoll ist nicht gleichbedeutend mit angemessenem Verdienst. Im Gegenteil. Gerade die Frauen in der unverzichtbaren Care-Arbeit gehören zum Niedriglohnsektor. 25 Franken pro Stunde verdient die durchschnittliche Haushaltshilfe. Vielleicht.
Denn in offiziellen Statistiken tauchen nur die wenigstens von ihnen auf. Jede zweite – zurückhaltend geschätzt – arbeitet schwarz, zu Dumping-Lohn und unversichert. Bricht sie sich ein Bein, ist krank oder in den Ferien, gibts kein Geld. Viel Stress, wenig Geld Oder die Kita-Frauen. Jung sind sie alle, manche noch Mädchen. Das fällt auf, wenn man sein Kind dort abholt. Gibts denn da niemand zwischen 50 und 60? Haben die alle gekündigt? Vielleicht. Immerhin steigt, laut aktueller Studie des Schweizerischen Observatoriums für die Berufsbildung, jede vierte aus dem Job aus, jede zweite Kleinkindbetreuerin kann sich gut vorstellen, schon in fünf Jahren eine andere Arbeit zu erledigen und 11 Prozent von ihnen wärs am liebsten, dieser andere Job wäre bitte keiner im sozialen Bereich.
Die seelische Erschöpfung ist enorm
Warum? Weil 43 Prozent von ihrer Arbeit körperlich und seelisch erschöpft sind. Vom Heben, vom Tragen, vom Geschrei, von den stetig wachsenden Ansprüchen der Eltern und Bildungspolitiker. Und – von der täglichen Sorge ums Geld. Zwischen 4000 und 5000 Franken verdienen sie monatlich. Die Durchschnittsmiete, etwa für eine Dreizimmerwohnung in Zürich, schluckt fast die Hälfte davon.
Ja, aber, heisst es dann meist (auch von den Frauen selber) das sei ein Herzensberuf, eine erfüllende Arbeit. Mag sein, aber eine zehrende auch. Zahlreiche Studien belegen: auf der Rangliste der undankbarsten Berufe – körperlich anstrengend, schlecht angesehen, noch schlechter bezahlt – rangieren Pflegekraft und Erzieherin unter den Top 3. Ebenso wie, laut Erhebung der deutschen Techniker Krankenkasse, bei den Krankschreibungen wegen Depressionen.
Platz 1: Callcenter-Mitarbeiterin, 2. Altenpflegerin, 3. Kinderbetreuerin. Putzfrauen werden gar nicht erst gefragt. Kann sein, dass die Situation in der Schweiz eine andere ist. Doch wahrscheinlich ist das nicht.
Homeoffice und Teilzeitarbeit, Emanzipation und Gleichberechtigung – seit Jahren sind die Begriffe fester Bestandteil der Diskussionen von Müttern. Von privilegierten Müttern. Was wohl die weniger privilegierten dazu zu sagen hätten? Homeoffice können sie selbst zu Corona-Zeiten nicht machen.
Teilzeitarbeit ist nur dann eine Option, wenn auch ein Teil vom Lohn zum Leben reicht. Und Gleichberechtigung – nun ja, was bedeutet das eigentlich? Dass Männer nicht leichter und auf Kosten von Frauen Karriere machen. Check. Doch was ist, wenn manche Frauen leichter und auf Kosten anderer Frauen Karriere machen?
Die Care-Kette
Care-Kette nennen Migrations- und Genderwissenschaftlerinnen das Phänomen des Weiterreichens der drei grossen Cs: Caring, Cleaning und Cooking. «Frauen, die Frauen ersetzen, die Frauen ersetzen» betitelt Gabriela Herpell in der «Süddeutschen Zeitung» entsprechend ihren Artikel über Migrantinnen aus ärmeren Ländern, die Familien in reicheren Ländern helfen, Kinder und Job zu vereinbaren und die Lücke zu füllen, die entstand, als den besser ausgebildeten Frauen der Platz in Küche und Kinderzimmer zu eng wurde.
Einen Beitrag leisten dabei die Väter, der Löwenanteil der lästigen Arbeiten wird jedoch übertragen – auf andere Frauen. Wie beim Domino. Nur nicht wie beim Domino- Spiel von gleich zu gleich, sondern von oben nach unten. Denn das «Dienstleistungsproletariat» stellen wieder – oft ausländische – Frauen: 88 Prozent der Putzkräfte. 93 Prozent der Fachleute Betreuung in Kitas. 80 Prozent der in der Altenpflege Tätigen … Alles Frauensache. Deshalb haben wir stille Heinzelfrauen gefragt, die so oft zu fragen vergessen werden: Wie organisiert ihr euren Job, euren Alltag, eurer Leben als Mutter – für andere Mütter.
Nicole Gut* (32)
3 Kinder, 9, 6 und 2 aus Wettswil am Albis
Ich arbeite als Putzfrau, aber ich möchte nicht, dass das jemand weiss. Hier, wo wir wohnen, leben viele sehr gut situierte Familien, hohe Tiere bei der Bank und so. Ich denke, die würden auf mich herunterschauen, wenn sie wüssten, dass ich putze. Das möchte ich wegen meiner Kinder nicht. Und auch meinem Mann wäre es peinlich. Obwohl es ja eigentlich absolut keinen Grund gibt, auf jemanden herunterzuschauen, der putzt. Wir arbeiten schliesslich sehr hart für einen geringen Verdienst. Aber so ist es nun mal.
Ursprünglich habe ich als Arzt-Sekretärin im Spital gearbeitet. Auch noch zu 60 Prozent als mein Ältestes auf die Welt gekommen ist. Aber beim zweiten Kind haben bei mir die Nestbau-Hormone richtig gesprudelt: Ich wollte so viel wie möglich bei meinen Kindern sein und habe gekündigt. Und mit drei Kindern … Na, da kann man das Arbeiten eigentlich gleich vergessen. Erstens ist dauernd eines der Kinder krank, – meine zumindest – das ist für den Arbeitgeber auch nicht witzig, und dann wäre eine Fremdbetreuung viel zu teuer.
Ich weiss es nicht ganz genau, aber ich glaube, der Hort für den Grossen würde pro Tag 150 Franken kosten und eine Krippe für die Kleinen auch in etwa. Das ist zu viel. Das muss man sich erst mal leisten können.
Mein Mann verdient nicht schlecht, aber auch keine Reichtümer. Und mit den Kindern wollten wir doch ein bisschen im Grünen mit einem Garten wohnen. Deshalb haben wir eine Miete von rund 2300 Franken. Ich will nicht jeden Rappen umdrehen müssen, da putze ich lieber und arbeite ausserdem noch als Tagesmutter. Ich möchte, dass die Kinder nicht nur einen Pullover haben, sondern auch welche zum Wechseln, dass sie Reserveschuhe haben, wenn ein Paar nass ist, dass wir uns gemütlich einrichten können und dass ich nicht über jede gekaufte Creme oder eine Bluse mit meinem Mann diskutieren muss.
Morgens stehe ich um 3.30 auf. Um 4 Uhr beginne ich mit dem Putzen. Ich habe verschiedene Stellen: in einer Bücherei und einer Bar beispielsweise. Ich gehe bis 7 Uhr arbeiten und bin pünktlich zum Frühstück mit meinen Kindern zurück. Einmal habe ich mich verspätet, da lag die Kleinste todtraurig auf der Couch: mit einem T-Shirt von mir im Arm.
Am Wochenende ist mein Mann daheim, so kann ich nochmal 4 Stunden putzen. Abends gehe ich meist gleichzeitig mit meinen Kindern ins Bett. Oft schon um sieben oder halb acht. Ich bin dann einfach kaputt und müde. Da mein Mann so um sechs Uhr abends nach Hause kommt, bleibt für unsere Partnerschaft kaum Zeit.
Unsere Ehe liegt vorläufig auf Eis, könnte man sagen. Ich verdiene 21 Franken in der Stunde, aber ich bin angemeldet und versichert. Das ist wichtig. Im Augenblick haben wir wegen Corona Kurzarbeit und meine Privataufträge für Familienhaushalte und die Tageskinder fallen weg. Naja.
Meinen Nachbarn sage ich, dass ich weiter an meiner früheren Stelle als Springerin arbeite, weil sie ja merken, wenn ich abwesend bin. Das ist vielleicht nicht ehrlich, aber besser für meine Familie. Deshalb möchte ich auch anonym bleiben. Vielleicht suche ich mir irgendwann, wenn die Kinder mich nicht mehr so sehr brauchen, wieder einen anderen Job, aber das wird wohl noch ein Weilchen dauern…
*Name geändert
Daniela Askri (42)
Fachfrau Betreuung Kleinkinder, alleinerziehend, zwei Söhne, 12 und 10, Schlieren
‹Herzig› – der Kommentar zu meinem Beruf stört mich am allermeisten. Den ganzen Tag herumspielen, bisschen schöppele und wickeln. Kurz: bäbele mit richtigen Kindern. So sehen leider viele meinen Beruf. Dabei gibt es bei unserer Arbeit viel Anspruchsvolles und Interessantes: Wir schreiben Beobachtungs-Rapporte für jedes einzelne Kind, legen pädagogische Ziele fest, diskutieren im Team erzieherische Konzepte, fördern die Entwicklung, überprüfen die Ziele, führen Elterngespräche, begleiten die Lernenden, kontrollieren ihre Berichte …
Und wir müssen jede einzelne Minute zu 150 Prozent aufmerksam sein.
Als Kleinkindbetreuerin ist die Verantwortung enorm. Man stelle sich nur vor, einem Kind passierte etwas!
Ich selber bin alleinerziehend und habe zwei Söhne. Zum Glück sind sie nicht mehr ganz klein. Nach der Schule gehen sie in den Hort. Und in die Hausaufgabenhilfe. Manchmal trauen sie sich in der Schule aber nicht zu fragen, wenn sie etwas nicht verstanden haben. Und auch in der Hausaufgabenhilfe bleibt nicht genügend Zeit für individuelle Schwierigkeiten. Deshalb muss ich das dann abends mit ihnen machen. Erst mit dem einen, dann mit dem anderen.
Wenn ich von der Arbeit komme, hole ich, je nach Schicht, meine Söhne vom Fussball ab, dann wird geduscht, ich koche, wir essen, dann kontrolliere ich die Ufzgi oder versuche den Schulstoff zu erklären. Vor 22 Uhr komme ich nie zur Ruhe. Natürlich muss ich auch noch Wäsche waschen, putzen, glätten …all sowas. Meine Söhne sind zum Glück sehr selbstständig und konnten auch recht früh schon mal allein bleiben. Anders gehts auch gar nicht.
Nein, eine Haushaltshilfe oder ab und an einen Babysitter kann ich mir nicht leisten. So viel verdient man als FaBe nun wirklich nicht. Nicht alle Kitas zahlen 5000 Franken für 100 Prozent. Ich arbeite mega gern, aber ich finde ich es sehr ungerecht, dass ein Ungelernter, der auf dem Bau jobbt, das gleiche verdient wie ich. Immerhin habe ich eine dreijährige Ausbildung gemacht, trage Verantwortung für Menschen und körperlich anstrengend ist meine Arbeit ebenfalls.
Ja, unser Beruf ist ein Frauenberuf, obwohl wir jetzt häufiger auch männliche Lehrlinge haben. Aber für sie ist das ganz klar eine Durchgangsstation, die wollen danach etwas anderes machen, mit dem man gegebenenfalls auch «eine Familie ernähren kann». Bei den Mädchen höre ich das nie. Für sie ist das primär eine Herzenssache.
Dabei würde ich jeder jungen Frau raten: Weiterbildung ist gut, denn mit unserem Gehalt wird es nämlich spätestens dann schwierig, wenn man alleinerziehend ist und wenn man das Pensum reduzieren muss. Ob die Corona-Krise unser Image verbessert hat? Naja, vielleicht haben jetzt mehr Eltern gemerkt, wie anstrengend es ist, den ganzen Tag Kinder um sich zu haben … Aber die Mütter und Väter, die ihre Kinder zu uns bringen, schätzen uns ohnehin sehr.
Doch gesamtgesellschaftlich ist das Bild schlecht. Angeblich kann das – wohl von den Genen her – jede Frau: Kinder betreuen. Wahrscheinlich ist wegen dieses Vorurteils der Beruf erst so spät professionalisiert worden. Ich glaube, Ende der 1990er- Jahre. Von meinem Lohn bleiben uns dreien nach Abzug von Miete und Krankenkasse etwa so 1000 Franken zum Leben, das ist nicht viel. Da kann ich meinen Söhnen nicht jeden Wunsch erfüllen.
Apropos Wünsche: Ich würde mir grössere Anerkennung für die Frühpädagogik wünschen. Und ich würde mir auch wünschen, dass jeder mal eine Woche in meinem Beruf arbeiten würde. Dann wär endgültig Schluss mit ‹herzig›.
Adejina Saracini (29)
Fachfrau Gesundheit in der Pflege, in Ausbildung zur Dipl. Pflegefachfrau, verheiratet, Tochter Bora (6), Muri
Mein Beruf, das bin ich. Ich würde ihn jederzeit wieder machen. Ich habe Fachfrau Gesundheit gelernt, arbeite jetzt zu 60 Prozent in einem Seniorenheim und bilde mich in der freien Zeit zur Dipl. Pflegefachfrau weiter, weil ich noch tiefer eintauchen möchte, mehr wissen. Ich liebe es, den Bewohnern und Bewohnerinnen helfen zu können, ihnen zuzuhören. Und ich versuche, ihnen ihre Angst vor dem Tod zu nehmen, die sie in der Corona-Zeit noch mehr als sonst haben. Und ich bemühe mich auch, ihnen die Einsamkeit ein bisschen erträglicher zumachen. Sie dürfen ja derzeit keinen Besuch empfangen.
Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass ich eine kleine Tochter habe: Bora. Sie ist sechs Jahre alt. Wenn ich arbeite, schaut meine Mutter nach ihr, bringt sie in den Kindergarten, holt sie ab, kocht, spielt mit ihr. Alles. Ohne meine Mutter wüsste ich nicht, was ich tun sollte.
Ich habe Schichtdienste, das wäre mit Krippenzeiten schwer zu vereinbaren. Ausserdem sind Krippen in der Schweiz sehr teuer. Ich arbeite schliesslich nur 60 Prozent. 60 Prozent von einem Lohn, der bei 100 Prozent schon unter 5000 Franken liegt – das ist wenig. Ich bekomme ja für die Zeit der Fortbildung kein Geld, bin aber 100 Prozent abwesend.
Meiner Tochter gegenüber habe ich ständig ein schlechtes Gewissen. Wenn ich beim Räbeliechtlischnitzen im Chindsgi nicht dabei sein kann, sagt sie: ‹Mama, alle waren da, nur du nicht.› Zu Fasnacht ist meine Schwester mit ihr zum Umzug gegangen. Bora war abends sooo traurig und hat gesagt: ‹Warum warst du wieder nicht dabei?› Das tut mir im Herz weh. Ausserdem bin ich oft abends vollkommen erschöpft. Körperlich, aber auch emotional.
Es ist anstrengend, etwa alte Menschen aus dem Stuhl zu heben, sie zu waschen, zu wickeln … Wenn sie unter Demenz leiden, können sie nicht kooperieren, das ist, obwohl wir das zu zweit machen, körperlich sehr fordernd. Auch seelisch. Denn ich weiss, dass es für die Betagten schwierig sein muss, jemanden so in ihre Intimsphäre eingreifen zu lassen. Das ist eine Frage der Würde.
Wenn dann abends Bora auf mich zuhüpft, bin ich manchmal müde und hätte am liebsten erst mal Ruhe. Aber das geht nicht, sie ist ja ein kleines Mädchen und will erzählen, was sie im Kindergarten erlebt hat. Auch meiner Mutter gegenüber habe ich ein schlechtes Gewissen, weil sie so viel für mich tut, obwohl ich doch erwachsen bin. Ich schenke ihr oft etwas, aber das will sie nicht.
Sie sagt mir ständig, dass ich kein schlechtes Gewissen haben muss, weil sie findet: ‹Du musst etwas aus dir machen. Du bist in der Schweiz geboren, du kannst die Sprache. Lern, so viel du kannst.› Meinem Mann gegenüber habe ich auch ein schlechtes Gewissen, weil ich viel weg bin, aber nicht viel verdiene. Aber er findet: ‹Ach was, Adejina, uns geht es doch gut.›
Er verdient als Lagerist deutlich mehr als ich, das finde ich nicht fair, denn eigentlich ist mein Beruf verantwortungsvoller als seiner. Wenn wir beispielsweise die Medikamente an die Senioren verteilen, dann dürfen wir uns kein einziges Mal vertun. Sie bekommen oft Herzmedikamente, Marcumar, Betablocker, starke Schmerzmittel … Fehler dürfen einfach nicht passieren. Nie.
Wieso unsere Arbeit schlechter bezahlt wird als ein Bürojob, weiss ich wirklich nicht. Unsere Bewohner wissen das auch nicht. Häufig nimmt jemand meine Hand und sagt: ‹Liebe Adejina, wie gut, dass es dich gibt.› Das freut einen schon, wenn man spürt, wie wichtig man ist. Jetzt sind wir ja plötzlich sogar systemrelevant. ‹Pfffffft›, denke ich da nur, wenn auf Balkons dem Pflegepersonal applaudiert wird. Ach ja, jetzt auf einmal? Eine Bonuszahlung wäre besser als Applaus. Naja.
Ich strenge mich in meinem Leben wirklich an und habe trotzdem ständig dieses schlechte Gewissen. Sogar den Bewohnern gegenüber. Nicht immer hat man schliesslich die Zeit, ihnen so lange zuzuhören, wie es schön und wichtig wäre. Ich finde, die alten Menschen hätten das verdient. Manchmal gehen einem Erlebnisse lange nach: Wir haben einmal einen Bewohner tot und in einer Lache von erbrochenem Blut in seinem Zimmer gefunden. Das war schlimm. Das schüttelt man nicht einfach ab, nur weil Feierabend ist.
Ich arbeite gerne, aber mit einer Familie ist es schwierig allen gerecht zu werden. Bora ist sehr stolz auf mich, obwohl sie nicht ganz versteht, was ich tue. Sie glaubt, ich sei Krankenschwester oder sie erzählt: ‹Meine Mama wechselt Verbände. Die ist Ärztin.› Mein Verdienst sähe dann allerdings ein bisschen anders aus ...
Caren Battaglia hat Germanistik, Pädagogik und Publizistik studiert. Und genau das interessiert sie bis heute: Literatur, Geschichten, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – und wie man am besten davon erzählt. Für «wir eltern» schreibt sie über Partnerschaft und Patchwork, Bildung, Bindung, Erziehung, Erziehungsversuche und alles andere, was mit Familie zu tun hat. Mit ihrer eigenen lebt sie in der Nähe von Zürich.