Reisen
Mit dem Hausboot auf Citytrip
Nach Belgien? Im Herbst? Und dann noch auf ein Hausboot mit zwei Kindern? Was ungewöhnlich klingt, hat sich dank Stopps in Brügge und Gent als Citytrip der angenehmsten Art erwiesen.
Die Szenerie im Industriegebiet von Nieuwpoort, an einem trüben Kanal neben einer Schnellstrasse könnte an diesem regnerischen Oktobertag nicht trostloser sein. Alles scheint verlassen und verriegelt. Die Kinderchen wollen gar nicht erst aus dem Auto steigen. «Was für eine doofe Idee», jammern sie. Nun ja, in den Herbstferien nach Belgien zu fahren, um mit einem Hausboot von der Nordsee bis nach Gent zu schippern, ist etwas speziell. Die Saison ist fast zu Ende, das Wetter wechselhaft, und Baden kein Thema mehr. Wobei uns die nette Frau von der Bootsvermietung gleich erklären wird, dass mit Baden in den Kanälen auch im Sommer nicht viel ist. «Also man kann schon, aber wir Belgier:innen tun es nicht», erklärt sie diplomatisch. Nun gut, wenigstes da verpassen wir nichts.
Achtung, gut aufpassen, heisst es wenig später, als uns der junge Mechaniker mit Wollmütze «unser» Hausboot erklärt. Zwar kann man alle Bootstypen von Le Boat ohne Prüfung fahren, aber für Landratten sind die vielen Knöpfe, Anzeigen und seemännischen Ausdrücke ganz schön einschüchternd. Wie war das noch mit der Pilgenpumpe? Und welche Funktion hat der Grauwassertank? Uns bleibt nicht viel Zeit, um Panik zu schieben, schon steht die erste Probefahrt an. Beruhigend ist, dass wir eine Handynummer bekommen, die ein 24-Stunden-Betreuungsservice verspricht und einen dicken Ordner mit allen Betriebsanleitungen mitsamt unserer Route. Am nächsten Morgen heisst es endlich: Leinen los! Wir stehen alle vier mit Wollmützen und Windjacken auf dem Deck, die Sonne vertreibt die letzten Nebelschwaden auf dem Wasser, Bäume säumen den Kanal, dahinter liegen die weiten Felder und Wiesen Flanderns. Eine meditative Ruhe macht sich in uns breit. Jede Hektik verfliegt. Wir müssen nichts, ausser mit maximal 12 km/h Kurs auf Brügge halten. Auf unserer «Horizon 1» gibt es neben vielen Fenstern und einer grossen Küche auch genügend Platz für alle, um zu fischen, zu lesen, Hörspiel zu hören, die Landschaft zu beobachten, zu kochen oder Spiele zu spielen. Und wer Bewegung braucht, der schnappt sich eines unserer Mietvelos und fährt den Kanal entlang neben dem Boot her – Joggen geht natürlich auch.
Belgien
Gut zu wissen
Belgien ist zum Ferienmachen noch immer ein Geheimtipp. Weder die kilometerlangen Sandstrände an der flämischen Küste noch die Städte sind überlaufen. Da es mit Niederländisch, Französisch und Deutsch drei offizielle Sprachen gibt, kann man sich überall gut verständigen.
Brügge
Die Hauptstadt Westflanderns ist ein UNESCO-Weltkulturerbe-Juwel. Das Pommes- und das Schokoladenmuseum sind beide super interaktiv und kindergerecht. Im «Historium Brügge» kann man virtuell in die Stadtgeschichte des 15. Jahrhunderts eintauchen und gleich daneben den Belfried-Turm besteigen.
Gent
Gent ist die jüngere und trendigere Schwester von Brügge. Die Studentenstadt hat eine grosse Kultur- und Barszene. Interessant für Kids ist die Burg Gravensteen aus dem 12. Jahrhundert und die Gebäude an der Graslei. Das Kunstmuseum S.M.A.K. bietet ebenfalls viel für Familien. Und eine Velotour ist fast Pflicht.
Im Land der Kanäle und der freundlichen Brückenwärter
Steuern können wir entweder unter Deck (schön warm) oder auf dem Sonnendeck (beste Aussicht mit integriertem Gas-Grill). Dank Bug- und Heckstrahlern ist es fast wie Autofahren, einfach gemütlich. Aufregend wird es, wenn uns ellenlange Frachtschiffe kreuzen oder wir an eine der vielen Brücken kommen: «Here is Horizon Fifty-Five, we are shipping to Brügge, can you open the bridge», sage ich jedes Mal ins Telefon und es klappt wie am Schnürchen. Auch eine grosse Schleuse liegt auf unserer Route. Es ist der einzige Moment, wo wir etwas ins Juffeln kommen. Wo genau muss das Boot befestigt werden? Wer soll an Land, wer hält das Seil? Aber wir kommen ohne Schäden durch die Schleuse.
Am ersten Tag fahren wir sieben Stunden durch, weil wir es unbedingt bis nach Brügge schaffen wollen. Die Brückenwärter machen in der Nebensaison recht früh Feierabend. Und dann ist nichts mehr mit «open the bridge», sondern dann heisst es übernachten im Nirgendwo Flanderns. Wir schaffen es rechtzeitig und legen am frühen Abend in der Marina Flandria an. Der Hafenmeister hilft uns beim Anlegen. Das Schiff braucht Strom, damit die Heizung auch mit abgeschaltetem Dieselmotor ihren Dienst tun kann (eine Nacht geht auch mit Batterie). Wohlig warm haben wir es so alle Tage. Auch an Warmwasser für die Dusche mangelt es uns nie.
Mit unseren Velos fahren wir in wenigen Minuten vom Hafen ins Zentrum Brügges und fühlen uns wie in einem Mittelalterfilm. Die Stadt strahlt noch immer wie im 15. Jahrhundert, als sie einer der wichtigsten Handelsplätze Europas war. An den unzähligen Grachten, auf denen die Waren vom Meer ins Zentrum transportiert wurden, kann man sich kaum sattsehen. Wir erklimmen über 366 Stufen den imposanten Belfort-Turm, essen warme belgische Waffeln und machen im «Historium» eine virtuelle Zeitreise. Und während wir Grossen uns durch die belgische Bierkultur degustieren, lernen die Kleinen, dass die belgische Schokolade fast so gut schmeckt wie die schweizerische. Zum Glück kommen wir beim Rückweg nochmals in Brügge vorbei, denn ein Tag ist für die «Schöne» zu wenig.
Hausbootferien
Wer darf?
Ab zwei Erwachsenen pro Boot geht es los. Dass einem ein so grosses Schiff (11,5m) ohne Führerschein überlassen wird, ist beeindruckend, aber ganz schnell auch normal. Die Steuerung ist dank Bug- und Heckstrahlern simpel und das Tempo gemächlich (maximal 12 km/h). Dank genauster Routenbeschreibung kann man sich nicht verfahren, aber überall, wo es einem gefällt, anhalten. Und seekrank wird garantiert auch niemand.
Was kostet es?
Bei leboat gibt es In der Nebensaison im Frühling und Herbst auch die Premier-Boote zu fairen Preisen. Im März 2024: 1770 Euro/8 Tage. Die günstigsten Boote gibt es schon ab 900 Euro/7 Tage.
Zum Boot
Die Hausboote kommen bei leboat in vier Kategorien (Standard bis Premier) für 2 bis 12 Personen. Wir haben eine Horizon1 (Premier) für 4 Personen getestet. Auch Hunde sind erlaubt. Jedes Boot hat eine gut ausgestattete Küche, mindestens ein Bad, mit WC und warmer Dusche. Besteck, Geschirr, Bettwäsche und Handtücher sind an Bord bereit. Fahrräder, Grill, SUP, WLAN und Proviant können dazu gemietet werden.
Vermietung
Le Boat verfügt über die grösste Auswahl an führerscheinfreien Booten in Europa. In 18 Fahrtgebieten in Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, den Niederlanden, Irland, England, Schottland sowie in Kanada werden Touren für jeden Geschmack angeboten. Infos: leboat.ch
Mit dem eigenen Boot in die Stadt fahren, ein einmaliges Gefühl
Wer glaubt, Brügge sei nicht zu toppen, der war noch nie in Gent. Wir dürfen mit dem Schiff bis ins malerische Zentrum fahren und legen an einer kleinen Marina an. Die Stadt ist quirlig und voller Student: innen – ein wohltuender Gegensatz zu den vielen spätmittelalterlichen Kirchen und Türmen, die bei unseren Kindern freudige Harry-PotterGefühle auslösen. Gent rühmt sich, das grösste autofreie Zentrum der EU zu wahren und tatsächlich sind alle mit dem Velo unterwegs. Auch wir kurven zwei Tage lang bei jedem Wetter durch die engen Gassen und gut ausgebauten Velowege. Entdecken tolle Spielplätze, Restaurants, Shops und von der vollständig erhaltenen Burg Gravensteen aus dem 12. Jahrhundert erzählen die Buben noch zu Hause. Wer etwas vorausplant, kann auf der Burg auch an Kinder-Workshops teilnehmen. Nicht entgehen lassen darf man sich einen nächtlichen Spaziergang entlang der Graslei – die Beleuchtung ist fantastisch romantisch. Etwas wehmütig verlassen wir nach zwei Tagen die Stadt.
Bei schönem Wetter empfiehlt sich, mit dem Boot unbedingt die Schlaufe von Gent nach Deinze entlang der kurvigen Leie anzuhängen. Hier gibt es üppige Natur und schöne Badeplätze. Wir fahren aber direkt wieder zurück nach Brügge. Schliesslich haben wir das Friet- und das Schokomusem noch nicht gesehen. Ein herrliches Sammelsurium zu allem, auf was die Belgier besonders stolz sind (Fritten, Comics, Bier und Schokolade). Als wir nach acht gemütlichen wie erlebnisreichen Tagen unser Schiff in Nieuwpoort wieder abgeben, finden wir an der Szenerie nichts mehr trist. Belgien und unser Hausboot sind uns längst ans Herz gewachsen. Und die Nordsee haben wir ja noch gar nicht richtig gesehen...