
Julia Marie Werner
Fat-Aktivistin
Mein Körper darf dick sein
Dick und cool. Ein Gespräch mit Bodyaktivistin Melodie Michelberger über Körperformen, ihren Sohn und Harry Potters doofen Vetter.
«wir eltern»: Melodie Michelberger, was war die dümmste erste Frage, die Ihnen bislang gestellt worden ist?
Melodie Michelsberger: Wahrscheinlich die: «Wie viel Kalorien hat ein Doppelkeks?» Das war in einem Live-Interview fürs Radio. Ich vermute, die Frage sollte spassig sein. Dabei hätte die Journalistin, wenn sie sich vorbereitet hätte, wirklich wissen können, dass mich Zahlen zu Kalorien, Gewicht und Kleidergrösse triggern und ich mich stets vehement dagegen wehre. Sie haben mich nämlich zeit meines Lebens enorm unter Druck gesetzt.
Sie waren magersüchtig.
Ja – aber sagen wir doch du zueinander –, ich habe jahrzehntelang gedacht, meine Kleidergrösse sei zu gross, ich sei zu schwer und aus diesem Grund nicht gut genug. Dabei war ich all die Jahre schlank. Zahlen waren früher Messinstrumente für meinen Selbstwert. Heute bin ich dick und voller Energie und möchte trotzdem von diesen Zahlen weg. Sie sagen einfach nichts über mich aus.
Für viele sind diese Zahlen aber nicht nur ein Indiz für «schön», sondern auch für «gesund».
Und das ist Quatsch. Mein Hausarzt sagt: Tägliche Bewegung von 10 bis 15 Minuten ist gesund, ins Schwitzen zu kommen, ist gesund. Aber dünn zu sein, das ist noch längst nicht zwangsläufig gesund. Diese Aggressivität, die fast immer in Gesprächsrunden aufkommt, wenn ich mich dafür einsetze, dass auch der dicke Körper, jeder Körper okay ist, wird oft mit dem Gesund-Argument kaschiert. Heute sind enorm viele Frauen essgestört – unter dem Deckmantel des «Gesunden». Und bei allen ist die grösste Angst, zu den «Dicken» zu gehören. Überhaupt ist das Gesundheitsargument ein fragwürdiges. Haben «ungesunde» Körper, Körper mit Krankheiten oder Behinderungen etwa kein Recht auf würdevollen Umgang mit ihnen? Man kommt da leicht in sonderbare Bereiche ...

Melodie Michelberger, (1976), hat viele Jahre als Redakteurin für Gala und Brigitte und als PR-Expertin für verschiedene Modelabels gearbeitet. Sie ist einer der bekanntesten Fat-Aktivistinnen im deutschsprachigen Raum, u.a. auf Instagram (@melodie_michelberger). Sie lebt mit ihrem Sohn in Hamburg. 2021 erschien ihr erstes Buch "Body Politics" im Rowohlt Verlag.
Wenn Gruppen diskriminiert werden, handelt es sich meist um Minderheiten. So ist es aber diesmal nicht...
Nein. Eine Minderheit sind runde Körper wirklich nicht. In Deutschland ist die durchschnittliche Kleidergrösse für Frauen 42/44. Doch schon bei dieser Kleidergrösse greift das Fatshaming ...
Und das im Zeitalter der Body-Positivity.
Der Begriff «Body-Positivity» wurde von schwarzen Frauen in den 70er-Jahren geprägt. Mit dem heutigen «Sieh deinen Körper positiv» und «Ich will so bleiben, wie ich bin», diesem Instagram-Hashtag, hatte er nichts gemein. Es war ursprünglich eine radikale Bewegung, die darauf aufmerksam machen wollte, dass der Dickenhass eng verwoben ist mit Rassismus, Klassismus und Kolonialismus. Weisse europäische Frauen wollten sich deutlich gegen runde, schwarze Frauen absetzen – mit Schlankheit. Das greift bis heute. Dick ist für viele Menschen gleichbedeutend mit faul, träge, disziplinlos und dumm. Dagegen grenzt man sich ab, indem man sich als gesundheitsbewusst, informiert, sportlich und dünn präsentiert. Und um das zu sein, muss man eben etwas leisten, «an sich arbeiten». Das ist auch ein sehr protestantisches Ideal, sich etwas hart zu erarbeiten, statt zu geniessen. Ausserdem leben ganze Wirtschaftszweige ausserordentlich gut davon, dass Frauen stets unzufrieden mit sich sind, schlanker, straffer, jünger sein wollen.
Bei Germany's Next Topmodel sind jetzt auch «Curvy Models» am Start.
Ich mag das ganze Format nicht: diese Vergleicherei von Körpern...Das ist doch Mist. Ausserdem hätte man schon vor 20 Jahren, oder wie lange die Sendung jetzt läuft, damit anfangen können. Fakt aber ist: «Curvy» ist nicht die Realität im Modebusiness. Das weiss ich, weil ich lange in Redaktionen von Frauenzeitschriften gearbeitet habe. Mode und Models gibt es in kleinen und kleinsten Grössen. Nicht in grossen. Punkt. Ich setze mich dafür ein, dass auch rundere Körper sichtbar und akzeptiert sind. Wie alle Körper.
Du hast einen Teenagersohn. Was hält er eigentlich davon, wenn seine Mutter ihren Körper nur in Unterhose in den Medien präsentiert.
(lacht) Er schämt sich. Aber nicht mehr als alle Teenager sich für ihre Eltern schämen. Ich habe von Anfang an mit ihm darüber gesprochen.
Worüber?
Über Körperbilder, weshalb ich das mache, all so was.
Auch über seinen Körper und Essen?
Ich versuche, das unbedingt zu vermeiden. Aber es ist schwer. Schon bei Babys kommentiert man ja permanent deren Körper. «Knuddelig», «muckelig», «Babyspeck». Ich bemühe mich sehr, so etwas nicht zu tun. Auch das Essen ist kein Thema. Mein Sohn kann essen, was er will. Wenn er mal Bock auf zehn Kekse hintereinander hat... Bitteschön. Schliesslich will niemand täglich zehn Kekse hintereinander essen.
Worauf sollte man in der Erziehung, in Sachen Körperlichkeit, achten?
Sanft zu sein. Zu sich, zu seinem Körper, zu anderen. Nicht gemein über seinen eigenen Körper oder den anderer Menschen zu sprechen. Bitte kein schlechtes Vorbild sein und dauernd Diäten machen. Die Zahlenfixierung weglassen. Lebensmittel nicht als «gut», «schlecht», «gesund» oder «ungesund» zu framen. Zu ermuntern, Sport aus Spass zu treiben und nicht, weil «man es sollte» oder es «gut für die Figur» ist. Auch Kinderbücher sollte man kritisch angucken. Meist sind da die Dicken gleichzeitig auch die trotteligen oder blöden. Ein Beispiel: Harry Potters doofer Vetter Dudley: unsympathisch, intrigant – und dick. Dieses Muster gibt es häufig.
Angenommen, du würdest eine Kontaktanzeige aufgeben, würdest du schreiben «Ich bin dick»?
Ja, aber sicher! Ich bin dick. Und ich will das Wort aus der Tabuecke herausholen. Heute traut sich kaum noch jemand, es auszusprechen. «Curvy», «füllig». Meinetwegen kann man auch das sagen. Aber bitte nicht «übergewichtig», weil da mitschwingt, was das «richtige» Gewicht wäre. Aber am klarsten ist das Wort «dick». Vielleicht üben wir das am besten alle zusammen: hundertmal hintereinander zu sagen: Dick!Dick! Dick! (lacht) Na, geht doch!
Caren Battaglia hat Germanistik, Pädagogik und Publizistik studiert. Und genau das interessiert sie bis heute: Literatur, Geschichten, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – und wie man am besten davon erzählt. Für «wir eltern» schreibt sie über Partnerschaft und Patchwork, Bildung, Bindung, Erziehung, Erziehungsversuche und alles andere, was mit Familie zu tun hat. Mit ihrer eigenen lebt sie in der Nähe von Zürich.