Kuckuckskinder
Mein Kind des Andern
Jürg F.* sitzt auf einer honduranischen Insel fest, während Orkan Mitch über die Karibik hinwegfegt. Es ist die letzte Oktoberwoche 1998 und Mitch der tödlichste Hurrikan seit über 200 Jahren. Er bringt solch unglaubliche Zerstörung, zieht den Bewohnern Honduras im wahrsten Sinne des Wortes das Leben unter den Füssen weg, als gäbe es kein Morgen mehr. Doch ausgerechnet Mitch ist es auch, der Jürg F. die grosse Liebe in die Arme spült – so dachte er zumindest. Damals. Und nicht im Traum wäre ihm in den Sinn gekommen, zu glauben, dass es mal einen Sturm geben wird, der in seinem Leben noch gewaltiger wüten wird als Mitch.
Die grosse Liebe heisst Ruby; eine Einheimische, deren Familie Jürg beim Wiederaufbau der ohnehin bescheidenen Lebensgrundlage hilft.
Nach ein paar intensiven Wochen auf der karibischen Insel nimmt Jürg seine Ruby mit in die Schweiz. Sie lernt in Windeseile Deutsch und integriert sich bestens im zürcherischen Winterthur. Die beiden heiraten. «Da hast du dir eine schöne Frau ausgesucht », sagen Jürgs Kollegen. «Vielleicht etwas eigensinnig, aber schön». Doch die junge Latina plagt die Sehnsucht nach ihrer alten Heimat. Mitte Dezember 1999, wenige Tage vor dem grossen Millennium, beschliesst Ruby für ein paar Wochen aufs karibische Eiland zurückzukehren. Jürg weiss sogar noch die Abflugzeit, denn er musste genau nachrechnen. Doch davon später.
Jürg folgt Ruby erst Monate später nach Honduras, da er noch beruflich an die Schweiz gebunden ist. Mitte Februar, wenige Tage nach dem Wiedersehen dann die Überraschung: Das Fenster des Schwangerschaftstests zeigt zwei blaue Striche. Ruby ist schwanger. «Ich freute mich wahnsinnig», erinnert sich Jürg, mittlerweile 40 Jahre alt. «Ein Kind mit einer Frau, die man liebt – was gibt es Schöneres?» Das Zeugungsdatum interessiert Jürg damals noch nicht.
Warum auch? Es gab einfach keinen Grund, misstrauisch zu sein.
Als Jürgs Mutter den kleinen Kai zum ersten Mal in den Händen hält, ist die Freude nicht eben überschäumend. «Das Kind sieht dir überhaupt nicht ähnlich», sagt die frischgebackene Grossmutter. Und um ihren Bedenken vollends freien Lauf zu lassen, schiebt sie nach: «Bist du dir auch sicher, dass es von dir ist?» Jürg weiss, seine Mutter war von Anfang an gegen die Heirat gewesen. Sie fand ihren Sohn zu jung dafür. Und dann noch ein Kind mit einer Fremden? Also verteidigt er seine Frau: «Spinnst du eigentlich! Was soll das!» – Doch auch Jürg hat längst bemerkt, dass der kleine Kai so gar nichts von ihm hat.
Als Klara B.* in einer aargauischen Kleinstadt – dort wo der Rhein die blaue Grenze zum grossen Nachbarn im Norden bildet – über die ersten paar Monate mit der kleinen Lena nachdenkt, wird ihr schon etwas mulmig ums Herz. Das muss sich die 38-Jährige eingestehen. Als die Hebamme im Spital ihr das kleine Bündelchen mit den Worten «ganz der Papi» in die Arme legt, bekommt sie einen Heulkrampf. Natürlich leisten die Hormone auch ihren Beitrag dazu. Aber letztlich wird Klara B. in diesem Augenblick bewusst, dass sie eine schwere Last in ihrem Herzen trägt. Eine Last, über die es zu schweigen gilt. Lena ist das letzte von drei Kindern. Das Nesthäkchen der Familie. Eine Familie, die Klara B. auf jeden Fall schützen möchte. Mag kommen, was wolle.
Klara B. wird bewusst, dass sie eine schwere Last im Herzen trägt. Eine Last, über die es zu schweigen gilt.
Es war nur ein einziges Mal gewesen. Ein Ausrutscher. Mit ihrem besten Freund Alex*. Die beiden kannten sich seit der Schulzeit. Waren immer unzertrennlich gewesen, haben zusammen die erste Zigarette hinter dem Volg geraucht, die Schule geschwänzt, waren im gleichen Turnverein. Ein Paar waren sie aber nie geworden. Da gab es beiderseits kein Interesse. Doch an diesem verregneten Novemberabend gingen die beiden nach dem Klassentreffen noch gemeinsam zu Alex. Der alten Zeiten willen, auf einen «Schlummi.» Doch aus dem Schlummi wurde mehr. «Mein Mann hatte mich seit Monaten nicht mehr richtig wahrgenommen», sagt Klara, als wollte sie entschuldigen, was sie sich selber bis heute nicht verzeiht. «Hatten wir wieder mal Sex, so war es eine mechanische Angelegenheit, im Stil von «Mir söttet mal wider». Klara aber wollte begehrt werden. Als Frau so richtig wahrgenommen. Das konnte ihr Alex in dieser Novembernacht geben. Ende August im darauffolgenden Jahr kam Lena auf die Welt.
Fachleute schätzen den Anteil der Kuckuckskinder in der Schweiz auf 4 bis 7 Prozent. D. h. in jeder Schulklasse sitzt ein Kind, das nicht vom angeblichen Vater gezeugt wurde.
Laut Schweizer Gesetz darf ein Vaterschaftstest lediglich bis zum 5. vollendeten Lebensjahr des Kindes durchgeführt werden. Der DNA-Test muss bei einem Institut für Rechtsmedizin oder bei einem vom Bund anerkannten Labor durchgeführt werden. Die über das Internet zugänglichen Vaterschaftstests sind vor Gericht nicht verwendbar. Der Versand von Proben ins Ausland ist ebenfalls nicht zulässig.
Der Ausdruck Kuckuckskind ist vom Kuckucksvogel abgeleitet, der seine Eier in fremde Nester legt – auch Brutparasitismus genannt.
«Kai ist ein richtig feiner Kerl!», sagt Jürg F. heute über den Fünfzehnjährigen. Er sagt es mit Stolz in der Stimme und Traurigkeit in den Augen. Denn ob Kai sein leiblicher Sohn ist, er weiss es bis heute nicht. Vieles spricht dagegen. Die ersten richtigen Zweifel kamen Jürg 2003, nach der Geburt des zweiten Kindes, Linda. Die Ehe mit Ruby ist zu diesem Zeitpunkt schon enorm belastet. Ständig gibt es Streit. Der Erziehung wegen. Wegen Rubys ausschweifendem Lebensstil. Und weil Jürg F. ständig so lange arbeitet. Einmal, als gerade Mal wieder dicke Luft herrscht in der Winterthurer Vierzimmerwohnung, hört Jürg einen Satz, der sein Leben verändert: «Kai ist sowieso nicht dein Sohn». Peng!
Keine Tür, die zuknallt, sondern Jürgs Herz, das entzweibricht. Klar, wenn Ehepaare streiten, wird zuweilen starkes Geschütz aufgefahren. Doch nun hatte Ruby ausgesprochen, was Jürg lange vermutet, aber nie glauben wollte. Zwar streitet Ruby bis zum heutigen Tag ab, diesen Satz jemals gesagt zu haben. Doch: «Dieser Streit war der Anfang vom Ende», sagt Jürg. Auf die Ehekrise folgten schmutzige Grabenkämpfe, Betrug und schliesslich die Scheidung im Jahr 2006.
Da war Kai sechs Jahre alt. Und nach Schweizer Recht gab es für Jürg zu jenem Zeitpunkt keine Möglichkeit mehr, jedenfalls keine legale (siehe Zahlen une Fakten), ohne die Einwilligung der Mutter, gerichtlich einen Vaterschaftstest zu erwirken. Des Kindeswohls wegen. «Pah, dass ich nicht lache!», sagt Jürg. «Was bitte soll daran zum Wohle des Kindes sein, wenn es erst im Erwachsenenalter erfährt, wer in Wahrheit sein Vater ist?» Jürg F. legt dem Scheidungsrichter gewichtige Argumente vor, die gegen seine Vaterschaft von Kai sprechen. Das Wichtigste: Der Geburtstermin. Kai kommt am 3. Oktober 2000 zur Welt, 2600 Gramm schwer, 48 Zentimeter gross. Seine Frau Ruby hat die Schweiz am 7. Dezember 1999 verlassen und Jürg erst wieder am 16. Februar 2000 in Honduras gesehen. In den acht Wochen dazwischen ist laut offiziellem Geburtsrechner der Zeugungstermin angesiedelt. «Das hat den Richter überhaupt nicht interessiert», sagt Jürg. «Der hat sich nur auf das Gesetz berufen. Und laut Gesetz bin ich der Vater von Kai. Punkt.» Dafür liess der Richter in Sachen Alimentenzahlung Milde walten: Da Ruby sich freiwillig dafür entschied, mit den Kindern in ihr Heimatland Honduras zurückzukehren, muss Jürg F. nur einen nach honduranischem Lebensstandard üblichen Beitrag leisten. Diesen verdoppelt er freiwillig. «Ich möchte, dass es den Kindern an nichts fehlt», sagt Jürg. Doch besucht hat er die beiden in den vergangenen acht Jahren nur ein einziges Mal auf der Karibikinsel. Aber er bleibt in «regelmässigem Kontakt»: per Skype und Internet.
Lena ist ein Abbild ihrer Mutter. Dieselbe Stupsnase, die gleichen wasserblauen Augen, das gleiche rehbraun gewellte Haar. Ein Glück für die 38-Jährige aus der Nordostschweiz. Denn so kam Klara in all den Jahren umhin, sich irgendwelchen misstrauischen Fragen oder lästigen Kommentaren stellen zu müssen. Mittlerweile sind denn auch die Ehezweifel von damals verflogen. «Ich fühle mich von meinem Mann geliebt», sagt die gelernte Krankenschwester. «Mein Mann und ich, wir haben wieder zueinander gefunden». Eine richtig schöne Grossfamilie. Ein eigenes Reihenhaus. Kleine Gartenparzelle. Zwei Katzen. Nichts, was das Glück trüben könnte. Nur manchmal noch beschleicht Klara ein schlechtes Gewissen. Wenn sie ihrem Schulschatz Alex zufällig über den Weg läuft. Wie vor drei Monaten im Coop. Er mit seiner Frau und den Zwillingsbuben im Schlepptau, sie mit der kleinen Lena an der Hand. Sie grüssten einander, tauschten ein paar Belanglosigkeiten aus – dann ging man wieder, jeder seinen eigenen Weg. Ob ihre Tochter denn nicht das Recht darauf habe zu erfahren, wer ihr Erzeuger sei? «Sie hat einen wunderbaren Vater, der sie über alles liebt, was spielt es da für eine Rolle, wer ihr Erzeuger ist?», entgegnet Klara mit Überzeugung. Schiebt aber mit etwas Verzögerung nach: «Kann gut sein, dass ich ihr, wenn sie mal eine erwachsene Frau ist, erzähle, wie es wirklich war. Vorausgesetzt, auch Alex ist damit einverstanden». Denn die beiden Schulfreunde haben sich darauf geeinigt, dass sie die Novembernacht vor sieben Jahren vergessen und niemandem davon erzählen wollen. Warum das Familienglück auf die Probe stellen?
Jürg F. hat es mittlerweile auch wiedergefunden, das Familienglück. Nach Jahren, in denen der Vierzigjährige fast wahnsinnig geworden wäre, hin- und hergeworfen zwischen der Sehnsucht nach seinen Kindern und der Wut auf seine Ex-Frau. Vor rund fünf Jahren hat sich der Winterthurer wieder verliebt. Wieder in eine Latina. Wieder wurden zwei Kinder geboren. Doch: »Zweifel ausgeschlossen – die kleinen Mäuse gleichen mir aufs Haar!» Findet auch die Oma, Jürgs Mutter. Ob er mit seinem Sohn Kai denn jemals über seine Zweifel an seiner Vaterschaft geredet habe? «Nein, das konnte ich bisher nicht – ich möchte ihn einfach nicht verletzten.» Trotz neuem Glück, bleibt für Jürg F. jedoch auch die Angst. Die Angst vor der Zukunft: Denn Kai hat bereits angedeutet, dass er gerne in die Schweiz zum Studieren kommen würde. Spätestens dann, werde er mit seinem Sohn über alles reden müssen. Es sei schliesslich auch ein enormer finanzieller Posten, den er da auf sich zurollen sieht, meint Jürg F.. Ganz zu schweigen von der emotionalen Belastung. «Ich weiss wirklich nicht, ob ich mich dem Ganzen noch einmal aussetzen mag.»
**Alle Namen geändert*
«Gewissheit erlöst, selbst wenn sie schmerzlich ist»
Josef Jung, Psychotherapeut am Institut für Kinder-, Jugendlichen- und Familientherapie Luzern, über Kuckuckskinder und die Auswirkungen ihrer Existenz auf die Familie.
wir eltern: Wann ist der Zeitpunkt, an dem man einem Kind sagen soll, dass sein biologischer Vater ein anderer ist?
Josef Jung: So früh wie möglich. Der Fall liegt ähnlich gelagert wie bei Adoptivkindern. Nur gibt es einen zentralen Unterschied: Beide Adoptiveltern wissen, dass sie nicht die leiblichen Eltern sind – bei Kuckuckskindern weiss es oft nur die Mutter. Diese hat aus ihrer Sicht gute Gründe, das Ganze zu verheimlichen. Sie fürchtet, alles zu verlieren.
Wie geht man hierbei am klügsten vor?
Am besten wäre natürlich, die werdende Mutter könnte ihren Seitensprung mit Folgen unmittelbar offenlegen. Das dürfte aber in den meisten Fällen Wunschdenken sein. Ein solches Geheimnis zu lüften, birgt grosse Gefahren für alle Beteiligten. Insbesondere beim sozialen Vater. Zum einen wird das Vertrauen in die Partnerin zerstört, wie auch das Vertrauen in sich selbst. Der Scheinvater muss sich zugestehen, unter falschen Voraussetzungen gelebt zu haben, selbst wenn er gespürt haben sollte, dass etwas nicht stimmt. Dieses Spüren ist unangenehm und man lässt sich gerne beruhigen.
Gibt es ein Verhaltensmuster, das den meisten als Kuckuckskinder identifizierten Menschen eigen ist?
Viele Kuckuckskinder ahnen oft, dass etwas nicht stimmt. Sie fühlen sich fremd. Ihnen wird dieses Gespür oft ausgeredet. Sie können dann generell ihrer eigenen Intuition, ihrer Wahrnehmung gegenüber verunsichert werden. Gewissheit erlöst, selbst wenn sie schmerzlich ist. Das Leben kann dann auf sicheren Boden gestellt werden.
Oft brechen Familien nach der Identifikation eines Kuckuckskindes auseinander – warum?
Die Welt vor und nach der Entdeckung des Geheimnisses ist grundverschieden. Oft kommt ein solches Geheimnis erst ans Licht, wenn die Beziehung zwischen den Eltern ohnehin schon angespannt ist. Dann reicht so etwas mit Sicherheit aus, die Beziehung zu beenden. Die am meisten leidtragende Person ist dabei das Kuckuckskind – es verliert die Beziehung zu einem bisher als Vater wahrgenommenen Mann. Die bisherige Lebensgeschichte muss neu geschrieben werden. Alles erscheint in einem neuen Licht: Geburtstagsund Weihnachtsfeiern, die glücklichen Besuche bei den vermeintlichen Grosseltern und vieles mehr. In einer Zeit, in der die Scheidung viel einfacher geworden ist – juristisch und wirtschaftlich – als noch vor drei bis vier Generationen, gibt es unter diesen Umständen kaum Gründe, zusammenzubleiben.
Ist die Forderung von Seiten des Familienvereins VEV nach einem obligatorischen Vaterschaftstest unmittelbar nach der Geburt sinnvoll?
Wenn man einen solchen Test obligatorisch machen wollte, so müsste er so selbstverständlich durchgeführt werden wie der Blutgruppentest nach der Geburt. Sollte dem allerdings nicht so sein, entstehen sofort psychische Belastungen: Es gibt Verdächtigungen,Misstrauen und so weiter. Wie soll man in einer Beziehung denn weiterfahren, falls sich ein solcher Verdacht nicht erhärten sollte?