Leseförderung
Lesen für den Hund
Von Anita Zulauf und Martina Schnelli
Nein, Lesehunde können nicht lesen. Aber etwas können sie besonders gut: zuhören. Mojito ist einer von ihnen. In der Bibliothek Knonau (ZH) ist der ausgebildete Lesehund der Liebling. Nicht nur bei den Kindern.
Es ist ein windiger, wolkenverhangener Mittwochnachmittag. Als wir bei der Bibliothek Knonau ankommen, schliesst Petra Studer, Bibliothekarin und Initiantin des Lesehund-Projekts, gerade die Türe auf. In der ehemaligen Backstube, die vor Kurzem zur Bibliothek umgebaut wurde, ist es noch still. Ein paar Minuten später geht die Tür auf und fertig ists mit der Ruhe. Vorerst wenigstens. Mojito, ein schwarz/weisser Australian Shepherd, stürmt herein. Am anderen Ende der Leine geht seine Besitzerin, die schulische Heilpädagogin Judith Britschgi. Mojito hechelt, schwanzwedelnd steuert er aufgeregt die Leseecke an. Er kennt sich aus hier, weiss, dass es für ihn bald Krauleinheiten und «Gutzeli» geben wird. «Er freut sich jedes Mal mega, winselt bereits im Auto ganz aufgeregt, wenn wir hierherfahren», sagt Judith Britschgi und lacht.
Wieder geht die Türe auf. Viola kommt herein, mit ihrer Schwester Noemi und ihrer Mutter Ursula Grossrieder. Viola ist acht Jahre alt. Auch sie kennt den Ablauf hier. Denn Viola kommt bereits seit einem Jahr zum Lesehund. Als Erstes geht sie zu den Bücherregalen und wählt ein Buch aus. Heute ist es «Sternenschweif». Viola mag dieses Buch, eine Geschichte über ein Mädchen, das sich sehnlichst ein Pferd wünscht.
Dann darf Viola Mojito ein «Gutzeli» geben, welches der Hund sachte von der Hand des Mädchens schleckt. Viola setzt sich in den grossen, gemütlichen Polstersessel in der Leseecke, Mojito liegt gemütlich auf seiner Matte zu ihren Füssen. Und dann beginnt Viola zu lesen.
Nun ist es wieder still in der Bibliothek. Die anwesenden Erwachsenen flüstern, Violas Schwester und die Mutter sitzen vorne im Empfangsbereich. Jetzt sind lediglich Violas leise Stimme und das Hecheln von Mojito zu hören. Der Hund liegt da. Mal schaut er das Mädchen an, spitzt die Ohren, mal legt er den Kopf nieder und blinzelt ein bisschen. Dann hebt er ihn wieder und hechelt weiter. «Heute ist er ein bisschen nervöser als sonst, braucht etwas länger, bis er sich entspannen kann», sagt Judith Britschgi später in einer Lesepause. Denn das Klicken des Fotoapparats der Fotografin, die Bewegungen der Video-Journalistin irritieren ihn. Viola aber stört das offensichtlich überhaupt nicht. Sie liest ruhig weiter, leise, taucht ab in die Geschichte. Manchmal tippt sie mit dem Zeh sanft gegen Mojito. Kurz beugt sie sich vor und krault sein Fell. Leise Berührungen mit kuschligem Hundefell. Mojito wird ruhiger. Kein Erwachsener wuselt hier rum oder hört zu. Nur Judith Britschgi sitzt in der Nähe von Mojito, damit er sich sicher fühlt. Doch ihre Haltung ist passiv, der Blick abgewandt. Nur Kind und Hund und Geschichte. Mehr ist nicht.
Nach zehn Minuten ist Violas Lesezeit vorbei. Nochmal ein «Gutzeli» für Mojito. Ein Abziehbildchen reinkleben in den Lesehunde-Pass. Und dann ist Violas Schwester Noemi dran. Eigentlich dauert die Vorlesezeit pro Kind 20 Minuten. Die Schwestern teilen sich jedoch die Zeit jeweils auf. Noemi ist elf Jahre alt. Auch sie wählt sich ein Buch aus. Und das Ritual beginnt wieder von vorne. Aus Mojitos Sicht mag er ausschliesslich zum Vergnügen hier sein. Daliegen, zuhören, sich kraulen lassen und «Gutzeli» kassieren. Doch aus Sicht der Menschen hier erledigt Mojito einen souveränen Job.
Nele, 11 Jahre
Aber was genau ist anders, wenn Kinder einem Hund vorlesen? Judith Britschgi: «Der Hund korrigiert keine Lesefehler, er fragt nicht nach, er sagt nichts, gibt keine Wertung ab. Kurz: Er ist absolut vorurteilsfrei, liegt da, lauscht den Stimmen.» Das baue Hemmungen und Blockaden ab. Und tut Kindern offenbar gut. Die Erfahrungen aus Lesehunde-Projekten haben gezeigt, dass die Kinder schon nach kurzer Zeit flüssiger lesen, den Text inhaltlich besser verstehen und die Lesegeschwindigkeit zunimmt. «Und es weckt die Freude und die Lust am Lesen», so Judith Britschgi.
Das bestätigt die Mutter Ursula Grossrieder. «Viola hat zu Hause kaum gelesen. Und wenn, dann sicher nicht laut. Doch seit sie Mojito vorliest, hat sie Freude am Lesen bekommen. Und sie liest super, hat riesige Fortschritte gemacht. Beide Kinder kommen sehr gerne hierher.»
Die Tür geht auf, und schon kommt das nächste Kind. Magdalena ist acht Jahre alt. Sie freut sich bereits auf Mojito. «Magdalena hat sich schwergetan mit dem Buchstabenaneinanderreihen. Wenn sie uns vorgelesen hat, haben wir die Fehler korrigiert», erzählt ihre Mutter Liz Kümin. Nun sei Magdalena erst zum vierten Mal hier bei Mojito, doch man merke bereits Fortschritte: «Sie liest schon viel besser.» Die Atmosphäre hier sei so schön. Und weil niemand das Mädchen beim Lesen unterbreche, bleibe Magdalena in diesem Lese-Flow. Nur sie und der Hund. Das mag sie. «Es ist wirklich alles sehr eindrücklich», so die Mutter.
Finn, 8 Jahre
Was ist ein Lesehund?
Die Idee der Lesehunde stammt ursprünglich aus Amerika. Unter dem Namen Read (Reading Education Assistance Dogs) wurden in den 1990er-Jahren die ersten Hunde-Teams ausgebildet. 2008 starteten die ersten Projekte in Deutschland. Seit 2020 werden im «Therapie Hunde Zentrum Schweiz» Lesehunde-Teams ausgebildet. Auf die Frage, welche Hunderassen sich zum Lesehund eignen, sagt Fritz Roth vom Therapiezentrum: «Die Rasse spielt keine zentrale Rolle, sondern vielmehr das Wesen, der Charakter der Hunde, wie sie aufwachsen und wie sie gehalten werden.» Ein Lesehund müsse absolut kinderbezogen sein, über ein ruhiges, gelassenes Wesen verfügen, selbstsicher und souverän sein. Denn: «Er bewegt sich sehr nah an fremden Kindern und wird überall angefasst.» Aktuell sind laut Roth einige Dutzend Teams im Einsatz. 16 davon sind über die Webseite des Therapiezentrums
➺ lesehund.ch buchbar. Die Kosten für die Einsätze können die Teams selbst bestimmen. Einige sind ehrenamtlich im Dienst. Einige Institutionen wiederum verfügen über ein Budget für besondere Förderung.
Auf die Idee für das Lesehund-Projekt-ist Initiantin Petra Studer durch das Buch «Annika und der Lesehund» gekommen. Gemeinsam mit Judith Britischgi starteten sie im Jahr 2022. Die Heilpädagogin Britschgi führt das Vorlese-Projekt aktuell auch im Heilpädagogischen Zentrum Hagendorn mit älteren Schülerinnen und Schülern durch. «Der Lesehund als ausserschulisches, positives Leseerlebnis für Kinder ist ein voller Erfolg», sagt Petra Studer. Mojito und Pippa, ein weiterer Lesehund, sind je einmal pro Monat am Mittwoch und Samstag vor Ort. «Ein Ausbau des Angebots auf mehrere Tage ist gut vorstellbar», sagt Petra Studer. Für Bibliotheksmitglieder ist der Lesehund kostenlos.
An diesem Mittwochnachmittag kommen noch drei weitere Kinder zu Mojito: Nele, Finn und Sofia. Manche Kinder werden wegen Leseschwierigkeiten von den Eltern angemeldet. Andere kommen einfach, weil sie Lust und Spass haben, dem Hund vorzulesen.
Irgendwann wird der grosse, graue Stuhl zur Seite geschoben und die Kinder sitzen auf den Boden, direkt neben Mojito. Der döst vor sich hin, blinzelt durch die Lider, macht ein Nickerchen. Schläft der Hund oder ist er sonst irgendwie beschäftigt, hört er mit einem Ohr trotzdem zu. Die Kinder wissen das.