Legasthenie
Legasthenie und heute trotzdem erfolgreich
Die Diagnose Legasthenie schürt bei Kindern und Eltern oft Selbstzweifel und Sorgen. Vier Betroffene mit Lese-Rechtschreib-Schwächen erzählen von schwierigen Schuljahren – und wie sie es schafften, heute gut im Leben und Beruf zu stehen.
Schule? Oje, die habe ich eigentlich nur schlimm in Erinnerung», erzählt Lisa-Marie gut gelaunt am Telefon. «Das fing schon in der ersten Klasse an. Ich war immer die Schlechteste – zumindest wenn es ums Lesen oder Schreiben ging.» Ihren Nachnamen möchte die heute 20-Jährige aus St. Gallen lieber nicht abgedruckt sehen – zu gross sei das Stigma, das immer noch mit Legasthenie, Dyslexie oder eben Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) einhergehe. Alle drei Begriffe meinen dasselbe: Eine Teilleistungsstörung, bei der die Entwicklung der Lese- und Schreibfähigkeiten beeinträchtigt ist (siehe Box). Das Übersetzen von Zeichen zu Lauten fällt dann schwer und die Buchstaben bleiben kryptisch. Oder, um es mit Lisa-Marie zu sagen: «Stell dir vor, du nimmst die Brille ab und kannst nur noch die Hälfte lesen – so fühle ich mich permanent.»
Ihre Eltern ahnen früh, um was es sich bei den Schwierigkeiten ihrer Tochter handelt, der Vater ist ebenfalls Legastheniker; bereits in der ersten Klasse steht die Diagnose fest. Die Schule will das Kind von den Noten befreien, doch die Mutter – selbst Lehrerin – wehrt sich entschieden. «Wofür ich ihr heute echt dankbar bin», sagt Lisa-Marie, «das wäre das Ende meiner Schulkarriere gewesen.»
So aber hangelt sich das Mädchen durch. Eine äusserst fitte Schülerin ist sie, wenn nur die Sache mit den Buchstaben nicht wäre. Die Lehrpersonen wollen, dass sie nach der Primar- auf die Realschule wechselt – doch erneut intervenieren die Eltern, und suchen für ihre Tochter eine private Sekundarschule. Bei der anschliessenden Lehre als Lebensmitteltechnologin realisiert Lisa-Marie dann zum ersten Mal: «Ich bin ja gar nicht dumm!» Sie legt einen sehr guten Abschluss hin, diesen Sommer folgt die Matura an einer privaten Schule.
Lieber keine Textnachrichten schreiben
Bio und Chemie sind ihre Lieblingsfächer, ihre grosse Stärke, die sie vielleicht noch weiter ausbauen möchte. Leuten, die sie nicht gut kennt, schreibt Lisa-Marie allerdings lieber keine Whatsapp-Nachrichten. «Mit Schreibfehlern wirkt das sonst schnell unprofessionell», sagt sie. Legasthenie ist und bleibt eine Schwäche, eine Behinderung, die man nicht sieht. Kein sichtbares Zeichen wie Gehstock oder Brille weisen darauf hin, weshalb Unwissende es häufig immer noch mit verminderter Intelligenz in Verbindung bringen – womit LRS ganz und gar nichts zu tun hat.
Was sich Lisa-Marie als Kind gewünscht hätte? «In der Schule nicht immer nur auf meine Defizite reduziert zu werden.» Beim Theaterspielen bekommt sie nur einen Satz zugeteilt – «weil du so schlecht liest», begründet die Lehrerin, dabei hätte sie so gerne eine grössere Rolle gespielt. Ihre Hobbys – Singen und Tanzen – tragen Lisa-Marie durch diese Zeit, kompensieren das in der Schule vermittelte Gefühl nicht zu genügen. Gleichzeitig ist ihr bewusst: «Ich habe es nur so weit gebracht, weil meine Eltern mich wahnsinnig unterstützt haben.»
Tut sich ein Kind überdurchschnittlich schwer, Gehörtes richtig zu schreiben und Geschriebenes zu lesen, steckt vielleicht Legasthenie dahinter (auch Lese-Rechtschreib-Schwäche LRS oder Dyslexie genannt): Dies ist eine sogenannte Teilleistungsstörung, bei der die Entwicklung der Lese- und Schreibfähigkeiten beeinträchtigt ist.
Berücksichtigt man auch leichte Fälle von LRS, sind etwa zehn Prozent der Bevölkerung von Legasthenie betroffen – Buben etwa doppelt so häufig wie Mädchen; LRS wird häufig vererbt. Betroffene erbringen in der Schule meist gute Leistungen – ausser beim Lesen und Schreiben. Die Diagnose erfolgt nach einem international anerkannten Set aus speziellen Tests.
Die Diagnose nahm Druck
Ähnliche Erfahrungen machte auch Nadine Hossenen: «Dass ich überhaupt gefördert wurde, habe ich meiner Mutter zu verdanken, die sich voll ins Zeug legte», sagt die 23-Jährige aus Rapperswil (SG). Selbst betroffen, fällt dieser früh auf, dass ihre Tochter sich beim Lesenlernen ungewöhnlich schwertut. Auch bei Klassencockpits – einem Testsystem, mit dem Lehrende den Wissensstand ihrer Schüler* innen überprüfen – ist Nadine im Fach Deutsch stets viel schlechter als die anderen. Immer wieder äussert die Mutter gegenüber Lehrpersonen ihren Verdacht – doch diese sehen keinen Zusammenhang.
Erst in der sechsten Klasse, nach erneuter Intervention der Mutter, wird das Mädchen getestet und die Diagnose gestellt. «Für mich war das eine Erleichterung», sagt Nadine Hossenen. «Weil ich endlich wusste: Es liegt nicht daran, dass ich zu wenig geübt habe – ich kann es einfach nicht. Das nahm mir enorm den Druck.»
Zehn Minuten mehr dank Nachteilsausgleich
Ab diesem Zeitpunkt erhält sie wöchentlichen Förderunterricht. Sie absolviert eine Ausbildung zur Geomatikerin («da muss ich kaum Schreiben, das passt also perfekt») und bekommt für die Lehrabschlussprüfung einen sogenannten Nachteilsausgleich – konkret: zehn Minuten mehr Zeit in der Prüfung. «Was allerdings in keinem Verhältnis steht zu dem Aufwand, den man für die nötige Beantragung und Abklärung braucht», findet Nadine Hossenen. Lebensmitteltechnologin Lisa-Marie hat deshalb den Nachteilsausgleich bei ihrer Abschlussprüfung erst gar nicht beantragt.
♦ Möglichst früh mit der Lehrperson sprechen. Legasthenie wird in Klasse 1 noch nicht diagnostiziert, Schwächen lassen sich jedoch bereits gezielt unterstützen.
♦ Mit Kinderarztpraxis oder schulpsychologischem Dienst Kontakt aufnehmen. Letzterer übernimmt in den meisten Kantonen die Abklärung.
♦ Generell viel vorlesen, Bücher anschauen, Geschichten erzählen.
♦ Evtl. Trainingsmaterial besorgen wie etwa das Rechtschreib-Lernprogramm Orthograph des Schweizer Unternehmens Dybuster (am wirkungsvollsten, wenn Eltern das Kind dabei unterstützen). Kostenlose Testversion auf dybuster.ch, Lizenz ab Fr. 119.—. Manche Schulen stellen Betroffenen die Lizenz für eine gewisse Zeit kostenlos zur Verfügung.
♦ Infos/Hilfe: ➺ verband-dyslexie.ch
Fördern – möglichst früh
«Einen schlechten Witz», nennt auch Monika Brunsting diese zusätzlichen zehn Minuten. Die Psychotherapeutin und Sonderpädagogin berät Legastheniebetroffene. Vor allem bei jüngeren Kindern blickt sie skeptisch auf den Nachteilsausgleich: «Die Gefahr ist gross, dass dieser die Dyslexie lediglich zementiert – wenn betroffene Kinder nicht gleichzeitig ein gezieltes Training erhalten, um sich die wichtigen Fähigkeiten anzueignen.» Denn Legasthenie ist nicht heilbar. Das Einzige, was hilft, ist Fördern und Unterstützen – und zwar so früh wie möglich.
Doch dazu muss LRS erst einmal erkannt werden. Ginge es nach Monika Brunsting, gäbe es bereits im Kindergarten Screenings, um Risikokinder ausfindig zu machen und gezielt zu fördern. «In dieser sehr frühen Entwicklungsphase wäre dies enorm wirkungsvoll», so die Sonderpädagogin. «Schon heute gibt es dafür niederschwellige Instrumente – sie werden nur nicht eingesetzt.»
Aber auch in der Schule verstreicht oft viel Zeit, bis eine Legasthenie endlich festgestellt wird – Zeit, in der das Kind permanent erlebt «Ich kann das nicht, ich bin schlechter als alle anderen» und es die Freude am Lernen verliert. Monika Brunsting fragt sich, welche Rolle dabei der neue Lehrplan spielt, der Lesen und Schreiben weniger Beachtung schenkt. Hinzu kommt: In einigen Kantonen übernimmt der Schulpsychologische Dienst nicht mehr die LRS-Abklärung; hier liegt es an den Eltern, sich um Termine in Kliniken zu bemühen. Und selbst wenn die Diagnose steht, ist es oft schwierig, Therapieplätze zu bekommen, weil viele Logopäd* innen oder Heilpädagog* innen in den letzten Jahren eingespart wurden. «Wie viel Unterstützung ein betroffenes Kind erhält, hängt deshalb immer noch sehr von der Hartnäckigkeit der Eltern ab», sagt Brunsting, was wiederum direkt Einfluss auf seine Schullaufbahn und spätere Berufschancen hat.
Infos und Fördertipps für Kindergartenalter und Unterstufe
Küspert, Petra: «Neue Strategien gegen Legasthenie», Oberstebrink Verlag (2018)
Informationen zu Früherkennung, Diagnose, Förderung und Therapie bei LRS
Mayer, Andreas: «Lese-Rechtschreibstörungen (LRS)», Utb GmbH (2016)
Erfahrungsberichte Erwachsener
Brunsting, Monika: «Legasthenie zwischen Coming-out und keiner merkts. Wie man mit Dyslexie zurechtkommen kann: Erwachsene Betroffene berichten», Haupt Verlag (2016)
Aus eigener Kraft geschafft
Doch es gibt auch Ausnahmen: Kinder, die es trotz LRS aus eigener Kraft schaffen. So wie David. Der 42-Jährige aus Lachen (SZ), der lieber nicht mit vollem Namen auftreten möchte, ist heute gelernter Autodiagnostiker – eine Karriere, die ihm seine einstigen Lehrpersonen auf der Realschule nicht zugetraut haben. Nach einer sehr durchwachsenen Schulzeit («In Mathe war ich gut, aber in Deutsch hatte ich immer nur Dreier, Nachteilsausgleich gab es noch nicht») möchte er Automechaniker lernen. Doch er bekommt nur zu hören: «Das schaffst du nicht, mach lieber den Autotechniker» – was ihn erst recht anstachelt.
Er hängt sich voll rein («Mir war klar: ich brauche zum Lesen und damit zum Lernen mehr Zeit als andere») und büffelt diszipliniert, fast rund um die Uhr. Als Klassenbester schliesst er die Ausbildung ab und setzt seinen eigentlichen Wunschberuf, den Mechaniker, noch obendrauf – ebenfalls mit exzellenten Noten. Auch zum Diagnostiker bildet er sich noch weiter. «Wenn ich etwas will, ziehe ich es durch», sagt er heute. «Aber es war eine sehr strenge Zeit. Ausser Lernen gab es nicht viel in meinem Leben.»
Durchgemogelt mit Zeichnungen statt Notizen
Steffen Wallrodt navigierte sich ebenfalls mühsam durch die Schulzeit – allerdings ohne zu wissen, dass er Legasthenie hat. Als Küchenchef kann er sich zunächst gut durchmogeln: «Ich habe dem Service einfach diktiert, was auf dem Menü stehen soll– so musste ich nicht selbst schreiben», erzählt der heute 44-Jährige aus Andelfingen (ZH). «Ausserdem bin ich sehr pflichtbewusst und strukturiert – das hat mir geholfen.» Er legt sich Strategien zurecht, mit denen er seine Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben kompensiert: Statt schriftlicher Notizen fertigt er kleine Zeichnungen an oder merkt sich ganze Gesprächsverläufe im Kopf.
Als er vor fünf Jahren die Umschulung zum Arbeitsagogen in Angriff nimmt und noch mal die Schulbank drücken muss, lässt er sich dann doch noch abklären. Die Diagnose erleichtert ihn geradezu: «Mir wurde auf einmal so vieles klar – zum Beispiel weshalb ich bis heute schlecht im Small Talk bin und schwerer Kontakte knüpfe.» Während er als Kind zu Hause sass und mühsam Buchstaben entzifferte, trafen sich andere zum Fussball spielen. «Diese soziale Entwicklung fehlt mir bis heute», glaubt er. Dafür ist es ihm jetzt nicht mehr so peinlich, wenn ihm beim Schreiben Fehler unterlaufen: «Nun weiss ich ja, woran es liegt.» Berufliche Texte oder Mails lässt er zur Sicherheit jedoch immer Korrekturlesen.
Beharrlichkeit ist zentral
«Wer Legasthenie hat, braucht viel Beharrlichkeit, Ausdauer und Optimismus», lautet Monika Brunstings Fazit aus ihrer jahrelangen Arbeit mit Betroffenen. Oder auch: «Vieles kann helfen – nur aufgeben hilft nie!»
Einst Redaktorin beim «Tages-Anzeiger», später Korrespondentin in Shanghai, schreibt Kristina Reiss heute als freischaffende Journalistin leidenschaftlich über den Mikrokosmos Familie. Dabei interessiert sie sich für alles, was Menschen bewegt – ihre Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen.