Familie / Gesundheit
Kinder kommen zu Wort
Von Anita Zulauf Fotos Fabian Unternährer
Szenenwechsel: In einem der Sprechzimmer von Dieter Ambühls Gemeinschaftspraxis liegt die zwei Monate alte Leonie auf dem Behandlungstisch, neben ihr sitzen ihre Eltern. Leise redet der Arzt mit dem Baby, beobachtet gleichzeitig, wie sie auf Stimmen reagiert, den Kopf wendet, ob sie Augenkontakt aufnimmt. «Die direkte Kommunikation und Interaktion ist wichtig», erklärt er später. «Auf diese Weise bekommt man die besten Antworten darüber, wie sich ein Kind entwickelt.»
Der 13 Monate alten Nataliia erklärt er, was er machen will und hält ihr das Stethoskop hin. Interessiert nimmt die Kleine das Instrument und knubbelt daran rum. Dann lässt sie sich die Untersuchungen gefallen. Sind die Kinder schon älter, fragt er nicht die Eltern, sondern das Kind, warum es zu ihm gekommen ist. «Kinder sollen zu Wort kommen. So fühlen sie sich ernst genommen, und das wiederum schafft Vertrauen und nimmt die Ängste.» Habe ein Kind beim nächsten Arztbesuch weniger oder keine Angst mehr, sei das Ziel erreicht. Und wenn es trotzdem noch ängstlich und nicht zu beruhigen ist, etwa weil eine Impfung ansteht, dann wird ein Termin auch mal auf später verschoben. Kinder brauchen Zeit. Und diese Zeit will er sich nehmen. Hat er sich immer genommen. «Ich bin sowieso ein eher langsamer Arzt», sagt Dieter Ambühl und schmunzelt.
Früher betreute er 30 oder mehr Patienten täglich. Zuletzt waren es noch 20 bis 25. Anfangs brauchte er maximal eine halbe Stunde pro Patient, heute muss in derselben Zeit deutlich mehr erledigt werden. Aufwendiger wurden zum Beispiel die Entwicklungsabklärungen. Dazu kommen Prävention, Erziehungsfragen, soziale Aufgaben, mehr Migranten, die auf gute Unterstützung angewiesen sind. Mit dem gesellschaftlichen Wandel, dem Leben in der Kleinfamilie, weniger Sippschaften und dadurch weniger Wissen, das von den Grossmüttern den Müttern weiter gegeben werden kann, hat die Beratungszeit zugenommen. Der Kinderarzt heute ist Mediziner, Erziehungs- und Sozialberater in einem.
Der Faktor Zeit ist gerade Thema in der politischen Diskussion ums Gesundheitswesen. 700 Millionen Franken will Bundesrat Alain Berset sparen, unter anderem mit einem zweiten Tarifeingriff. Demnach sollen Ärzte nur noch 20 Minuten Konsultationszeit pro Patient verrechnen dürfen. Darüber schütteln nicht nur Kinderärzte verständnislos die Köpfe. Aber sie vor allem.
Verbandspräsidentin Heidi Zinggeler Fuhrer sieht die Gründe des Praxen-Sterbens auf verschiedenen Ebenen. Ein sicher gewichtiger Grund sei genderbedingt: «Während es früher vorwiegend Männer waren, die sich zu Kinderärzten ausbilden liessen, sind es heute fast ausschliesslich Frauen.» Junge Frauen, die später vielleicht eine eigene Familie gründen wollen. Deren Männer vielleicht ebenfalls im medizinischen Bereich tätig sind und noch andere Pläne haben. So sei es schwierig, sich mit einer eigenen Praxis an einen Ort zu binden.
Während viele Frauen daher eine Festanstellung in einer Klinik bevorzugen, seien auch Männer nicht mehr bereit, 150 Prozent zu arbeiten und wählen ebenfalls oft den Spitalbetrieb mit weniger Eigenverantwortung, besserer Aussicht auf geregeltere Arbeitszeiten und fixem Einkommen. Haben sie bereits Familie, dann vermehrt auch in Teilzeit.
Während ein Kinderarzt früher 60 bis 100 Stunden pro Woche gearbeitet hat, sind es heute «nur» noch 50 bis 60 Stunden. «Die Haltung hat sich verändert, heute wollen viele im Leben mehr als nur die Arbeit», sagt Heidi Zinggeler. Kinderarzt Dieter Ambühl vermutet bei seinen jungen Kollegen schwindendes Herzblut: «Vielleicht wird die Langzeitbetreuung vom Baby bis ins Teenageralter eher als Hypothek empfunden.» Für ihn sei genau das eine der Motivationen gewesen, überhaupt eine eigene Praxis aufzubauen. «Doch Verbindlichkeit und personengebundene Verantwortung sind Werte, die heute vielleicht nicht mehr so gefragt sind.»
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