Monatsgespräch
«Kinder gehören sich selbst, nicht unserem Wunschbild»
wir eltern: Herr Bergmann, Sie empfangen in Ihrer Praxis viele verzweifelte Eltern. Was treibt die heutigen Mütter und Väter um?
Wolfgang Bergmann: Häufig sehe ich Mütter, die hastig in die Praxis stürmen, an nichts anderes denken als die nächste Matheprüfung ihres Kindes.
An der Hand haben sie eventuell einen kleinen Hyperaktiven, der nicht tut, was er soll. Dann denke ich, ein Hauptproblem ist, dass viele Eltern verlernt haben, mit Stolz auf ihr Kind zu blicken. Sie stehen unter Präsentations- und Leistungsdruck und sind – aufs Individuum bezogen – narzisstisch orientiert.
Was bedeutet das genau?
Es entsteht eine Verdichtung der Emotionen, die aufs Kind übertragen wird. Die Eltern kreisen um das Kind, das aber im Gegenzug nach aussen hin repräsentieren muss: Dies ist eine tolle Familie, eine heile Familie, denn ich bin ein tolles Kind, ein begabtes Kind, ich schreibe mit zweieinhalb Jahren die ersten englischen Worte und bin als Achtjährige eine begnadete Balletttänzerin.
Woher kommt dieser Drang zur Perfektion und zum schönen Schein?
Moderne Eltern sind auf sehr spezifische Art überfordert. Das eine ist die Enge der Kleinfamilie, man sitzt sich buchstäblich auf der Pelle. Das andere ist die Zukunftsangst: Kann ich meine Familie weiterhin ernähren? Was ist das Beste fürs Kind, damit es sich in der Zukunft behaupten kann? Doch es gibt weder eine Moral noch eine Liebe, die auf Perfektion zielt. Wenn Liebe auf das Perfekte beim anderen schielt, wird das Ganze nichts.
Das Beste für ihr Kind wollten auch unsere Eltern und Grosseltern. Inwiefern ist das heute problematischer als früher?
Wir leben zurzeit in einer offenen Zukunft. Das ist der Unterschied und das überfordert die Eltern. Als ich ein Kind war, konnten sich die Menschen auf ihre Intuition verlassen, denn sie lebten in einer normierten Welt. Der Kolonialwarenhändler, der Dorfschuster und der Frisör hatten alle das gleiche Weltbild. Die überliessen sich einfach dem Fluss des sozialen Geschehens. Das gibt es heute nicht mehr. Wir leben in einer hochindividualisierten Welt und mit einem Mangel an verinnerlichten Massstäben und Werten. Mit der Folge, dass die Beziehung zum Kind durch Unsicherheit belastet wird.
Dennoch haben die meisten Eltern klare Vorstellungen, was aus ihrem Kind einmal werden soll: ein erfolgreicher, intelligenter, allseits beliebter Mensch ...
Da komme ich, wie in meinem letzten Buch*, zu Jesus: Du sollst dir kein Bildnis machen, schon gar nicht vom eigenen Kind. Es gehört sich selbst und dem Weltgeheimnis, dem es entsprungen ist, nicht unseren Vorstellungen oder Idealen. Wenn wir das in unsere Erziehungshaltung aufnehmen würden, wären wir viel näher bei den Kindern. Richtet sich ein Kind auf, stellt sich auf die eigenen Beine, dann brauche ich auch kein Bild vom Laufen. Es läuft von selbst, es lernt auch lesen und schreiben von selbst, wenn es ihm nicht ausgetrieben wird. Man muss sich dabei der Intuition überlassen, ohne zu übersehen, dass man selber und das Kind ein Kulturwesen ist.
Klingt einleuchtend, aber nicht so leicht umsetzbar. Die Sorge, ob man alles richtig oder falsch macht, ist doch ein ständiger Begleiter.
Die äusseren Bedingungen sind ja nicht allein bestimmend. Bei aller Zukunftsangst und Unsicherheit ist das tragende Element doch immer noch die tiefe Bindung des Kindes und die Antwort der Eltern. In der Therapie und Beratung gehe ich immer von der Elternliebe aus. Das ist kein theoretisches Konstrukt und da bin ich mir sehr sicher. Wenn eine verzweifelte Mutter mich fragt, was soll ich nur machen mit meinem Sohn, antworte ich meistens: Machen Sie erstmals gar nichts! Schauen Sie sich Ihr Kind gut an, ist es nicht süss, Seien Sie stolz auf dieses Wunder. Ich versuche die Eltern in dieses Gefühl zu locken, dass sie ihr Kind lieben.
Andere Fachleute warnen im Gegenteil vor einem Zuviel vor Liebe.
Damit ist Verwöhnung gemeint. Die hat aber mit Liebe nichts zu tun. Verwöhnte Kinder entwickeln ziemlich genau die gleichen Verhaltensstörungen wie vernachlässigte. Beide haben nicht gelernt, sich mit der nötigen Feinfühligkeit in die Ordnung der Welt einzufügen. Natürlich immer auf dem Hintergrund der Elternliebe. Ordnung ist hier nicht mit Disziplin zu verwechseln, denn Ordnung muss nicht von aussen aufgezwungen werden.
Bei aller Liebe, jede Mutter, jedem Vater geht das Kind doch manchmal richtig auf die Nerven. Dann wünscht man es dahin, wo der Pfeffer wächst.
So ist es. Klar nerven einen die Kinder manchmal. Die Eltern gehen den Kindern übrigens auch bisweilen auf den Wecker. Natürlich muss es mal Krach geben in der Familie, sonst wirds ja langweilig. Idealisieren hilft niemandem. Das ist schwierig zu erklären. Zum Beispiel rede ich in den Vorträgen fast pathetisch von der Elternliebe, weil ich will, dass den Zuhörern das Herz aufgeht. Aber dann sage ich auch halt! stopp!, Kinder müssen zu Kulturwesen werden und das funktioniert nicht ohne Konflikte. Die Liebe ist ein Naturgesetz, die Ordnung der Welt und der Dinge muss vermittelt werden. Und dazu gehören klare Ansagen und bisweilen Konflikte.
Doch dann kommen die Schuldgefühle und die Sorge, das Kind zu verletzen, ungerecht zu sein ...
Der erste Konfliktvermeider und gleichzeitig -beschleuniger ist das schlechte Gewissen der Mütter. Dabei sind Kränkungen unvermeidlich und für die Entwicklung des Kindes sogar zwingend. Auch Elternliebe und Intuition taugt nicht zum abstrakten Plan: Ich habe mein Kind ganz fest lieb und darum wird alles ganz perfekt laufen. Das funktioniert nicht.
Also fordern auch Sie, wie heute unter Fachleuten angesagt, Grenzen zu setzen und Nein zu sagen?
Ja. Wenn man nicht einfach aus Prinzip herumwettert, im Stil von «man muss auch mal mit den Kindern schimpfen, denn das brauchen sie». Klare Ansagen sind für die Kinder eine Befreiung, denn so erhalten sie Orientierung. Wie Tag und Nacht, Sonne und Mond, Wind und Regen. Damit findet sich ein Kind in der befremdlichen, unruhigen Welt besser zurecht.
Herr Bergmann, gibt es die richtige Erziehung?
Ja, natürlich. So, wie ich meine Tochter erzogen habe. Sie hat einen Heidenrespekt vor mir und ich glaube, dass ich kein einziges Mal mit ihr geschimpft habe.