Sporttalente
Kick-Start

Gaëtan Bally
Andri Schärer ist klein für sein Alter. Das rote Leibchen, das der Sechsjährige während des Sichtungstrainings beim FC Zürich tragen soll, hängt ihm fast in den Kniekehlen. Nur die Füsse wollen nicht so recht ins Bild passen. Andri hat schon jetzt die Grösse 31. Während er ein wenig herumzappelt, glänzen seine grünen Fussballschuhe in der Sonne. Total aufregend hier. Den anderen neun Jungs geht es nicht anders. Sie alle wollen sich gleich beim Probetraining von ihrer besten Seite zeigen. Die 6- bis 7-Jährigen wissen: Wer hier den Ball verzaubert und die Trainer überzeugt, kann ein Letzikind werden. So heissen die 6- bis 11-jährigen Junioren der Blauweissen. Wer weiss, vielleicht ist heute der Anpfiff zu einer Profikarriere.
Der FC Zürich ist nicht irgendein Verein. Zwölf Meistertitel, sieben Cup-Siege, Uefa- Pokal- und Champions-League-Teilnahme. Die Förderung der 12- bis 21-Jährigen war in Zürich schon immer ein Thema. Seit zehn Jahren wird auch der Kinderfussball gross geschrieben. Die Wahrscheinlichkeit, über die Letzikids dann Jahre später in der ersten Mannschaft zu landen, ist dennoch gering. Immerhin: Momentan kommen 12 der 25 Kaderspieler der ersten Mannschaft aus der eigenen Talentschmiede.




Das Sichtungstraining wird von zwei Coaches geleitet. Einer der Trainer ruft Namen auf und verteilt Trikots. Sandro: rotes Leibchen, Nummer 5. Sinan: gelbes Leibchen, Nummer 1. Tristan: gelbes Leibchen, Nummer 2. Auf dem unteren Tribünenrang zurrt eine Mami noch schnell die Schuhbändel ihres Sohnes fest. Das Kind mault, irgendetwas stimmt nicht. Also Ferse heraus, nochmals aufschnüren, Übung von vorne. Warum muss das gerade jetzt passieren? Sandra Schärer, Andris Mutter, sitzt ebenfalls auf der Tribüne. Allerdings weiter hinten, denn sie kennt das Prozedere. Ihr älterer Sohn Yasha spielt bereits bei den Letzikids. Die zierliche Frau gibt sich gelassen. «Eigentlich», so erzählt sie, «wäre es fast besser, wenn mein Jüngster nicht angenommen werden würde.» Der 11-jährige Yasha trainiert montags, mittwochs und freitags mit der U11 auf einem Sportplatz nahe dem Letzigrundstadion. Wenn Andri der Sprung in die U8 gelingen würde, müsste er immer dienstags und donnerstags auflaufen. Bei Schärers wäre quasi jeder Wochentag ein FCZ-Tag.
Die Familie lebt in Langnau, einer Gemeinde vor den Toren Zürichs. Vater und Mutter waren selbst lange Zeit aktiv und trainieren mittlerweile Hobbyjugendmannschaften. Kein Wunder, dass auch die Söhne vom Fussball begeistert sind. Wenn Yasha zum Training fährt, dann verlässt er sein Zuhause um 16.30 Uhr. Es vergehen dreieinhalb bis vier Stunden, bis er wieder zurück ist. Dann bleibt nur kurz Zeit für ein Znacht und dann gehts auch schon ins Bett. Abgesehen vom strammen Trainingsplan spielt der 11-Jährige jedes Wochenende einen Match. Mal in St. Gallen, mal in Zürich, mal in Bern. Seine Familie bringt ihn zum jeweiligen Austragungsort. Der FCZ organisiert die Fahrt nur dann, wenn das Ziel fernab der gängigen Routen liegt. Nach Sion fuhren beispielsweise alle gemeinsam mit dem Zug. Dieser Teil des Letzikids-Alltags würde Andri zumindest vorerst erspart bleiben. Die ganz Kleinen tragen nämlich noch keine richtigen Meisterschaften aus und spielen nur Turniere in der Nähe.
«Ja, all das kann manchmal ein bisschen stressig werden», räumt Sandra Schärer ein. «Es geht hier aber um viel mehr als nur ums Tschuten.» Wer die Chance erhalte, beim FCZ trainieren zu dürfen, der profitiere auf allen Ebenen. «Die Kinder haben Spass, lernen aber auch, Leistung zu bringen, im Team zu spielen und respektvoll miteinander umzugehen », sagt sie. Ihre Augen wandern über den Rasenplatz. Dort ist das Sichtungstraining angelaufen. Andri im roten Leibchen mit der Nummer drei ist voll bei der Sache. Erste Anweisung an die Jungs: Alle durch einen Hütchenparcours rennen, dann Rolle vorwärts machen, umdrehen und retour! Die Zeit läuft. Auf der Tribüne mokiert sich ein Vater, dass Purzelbaum schlagen wohl kaum etwas mit Fussball zu tun habe. Falsch gedacht, denn hier trennt sich bereits die Spreu vom Weizen. Wer statt einer Rolle vorwärts einen Handstandüberschlag macht, hat es nicht kapiert. Die Coaches notieren jeweils ihre Beobachtungen auf einem Klemmbrett. «Wir suchen keine Ballakrobaten, sondern die Kinder mit dem grössten Bewegungstalent», wird Christoph Tebel, der das Training koordiniert, später erklären. «Uns interessiert, wie sich die Kleinen im Team verhalten, wie sie im Konfliktfall reagieren, ob sie schon reife Entscheidungen treffen können.»
Zweite Anweisung: Passspiel mit der Hand. Andri hat die Kugel erobert und wirft sie in hohem Bogen über die Gelben hinweg, exakt in die Arme seines Mitspielers. «Super Überblick», sagt Christoph Tebel und kritzelt etwas auf sein Blatt. Dann kommt endlich der Programmpunkt, auf den alle gewartet haben: Es wird Fussball gespielt. Die Buben kicken, was das Zeug hält. Dann eine kurze Pause. Alle laufen zum Spielfeldrand. Ein Schluck aus den Trinkflaschen, ein kurzes Winken in Richtung Elterntribüne, Anfeuerungsrufe. Wer seine Chance noch nicht genutzt hat, hat erneut Gelegenheit dazu. Die Pfeife schrillt.
Tristan, gelbes Leibchen, Nummer 2, hat gerade einem Widersacher das Leder abgeluchst. Liliana Ori, die Mutter des Miniangreifers, lächelt amüsiert. «Tristan konnte kaum laufen, da rannte er schon den Bällen hinterher.» Mittlerweile ist Tristan ein kleiner Fussballer geworden. «Meinetwegen hätte er auch eine Primaballerina werden dürfen – Hauptsache, er ist glücklich», stellt sie klar. Der Kleine flitzt derweil dem Ball hinterher und schiesst ein Tor. «Wir haben unserem Sohn erst gestern Abend erzählt, dass er heute beim FCZ spielen darf», sagt Vater Fabio. Das Ganze war als Überraschung gedacht und die ist offensichtlich geglückt. An eine mögliche Zukunft bei den Letzikids möchten die Eltern aber noch nicht denken.
Der FC Zürich zahlt jungen Nachwuchskickern kein Geld. Die Familien müssen lediglich den normalen Vereinsmitgliederbeitrag entrichten und die Ausrüstung anschaffen. Dafür stellt der FCZ den Trainerstab zur Verfügung. Momentan sind 30 Kinderfussballexperten im Einsatz, um die 110 Letzikids zu fördern.
Abpfiff. Die Leichtigkeit verfliegt. Die Kinder gucken verloren, die Eltern sind unruhig. Christoph Tebel berät sich mit seinem Kollegen. Dann werden zwei Namen aufgerufen. Weder Andri noch Tristan scheinen es geschafft zu haben. Die Enttäuschung ist mit Händen greifbar. Soll es das schon gewesen sein? Die beiden «Sieger» werden mit ihren Eltern vom Co-Trainer in Empfang genommen. Dann gibt es ein Gespräch. Was gesagt wird, hört die Menge auf der Tribüne nicht.
Es dauert, bis auch der Letzte die Situation richtig deutet. «Das war eine super Gruppe», attestiert Christoph Tebel. Deswegen haben sich die Coaches entschieden, acht von zehn Jungs in die nächste Runde mitzunehmen. Normalerweise sind es bloss vier oder fünf. Es ist ein bisschen so wie bei einer Castingshow. Erst am Ende des Auswahlprozesses wird der FCZ die Namen der Jungen bekannt geben, die in der neuen U8 spielen dürfen. Andri und Tristan sind also noch dabei. Sandra Schärer wischt sich verschämt eine Träne aus dem Augenwinkel. Die Anspannung muss irgendwie heraus.
Interview
«Wir täuschen uns selten»
«Wenn die Kinder auf dem Platz keinen Spass haben, ist alles für die Katz», findet Marco Bernet, Nachwuchsförderer beim FCZ.

Gaëtan Bally
Marco Bernet, 55, hat das Kinderfussball- Projekt FC Zürich-Letzikids aufgebaut. Mittlerweile amtet er als technischer Direktor des FCZ.
wir eltern: Welcher Stellenwert hat das Sichtungstraining?
Marco Bernet: Das ist eine Momentaufnahme. Wie talentiert ein Kind ist, zeigt sich erst im Laufe der Zeit. Deswegen gibt es immer mehrere Folgeveranstaltungen, bevor wir eine Mannschaft formen. Manche Kinder tauen erst nach einiger Zeit auf. Andere können das, was sie anfangs angedeutet hatten, später nicht halten.
Wenn es im ersten Anlauf nicht klappt, gibt es weitere Chancen.
Theoretisch schon. Wir sichten zweimal pro Jahr in unterschiedlichen Alterskategorien. Ausserdem ist auch ein Quereinstieg möglich. Manche Eltern stellen ihre Kleinen immer wieder neu vor. Aus Erfahrung kann ich sagen: Wir müssen unsere Meinung nur selten revidieren.
Wie geht es weiter, wenn ein Nachwuchskicker aufgenommen wird?
Wir beobachten genau, wie seine Entwicklung verläuft. Theoretisch würde das Talent dann alle Juniorenmannschaften durchlaufen. Im Alltag ist es aber so, dass uns einige Kinder wieder verlassen müssen. Das ist für alle Beteiligten unangenehm. Und für die Kinder eine grosse Enttäuschung. Wenn wir aber die Interessen der kleinen Sportler ins Zentrum stellen wollen, müssen wir auch unpopuläre Entscheidungen treffen.
Viele Eltern träumen von einer Profi-Karriere ihres Kindes ...
... und bauen einen enormen Druck auf. In manchen Familien gibt es wochenlang nur ein Thema: Dann ist der wichtige Termin, du musst an dem Tag so und so spielen. Streng dich ja nur an! – Was für ein Stress.
Wovon träumen eigentlich die Kinder?
Ganz einfach: vom Fussballspielen. Die sind oft erst sechs, sieben oder acht Jahre alt, wenn sie zu uns kommen. Sie denken nicht an die grosse Karriere. Wenn die Kleinen auf dem Platz keinen Spass haben, ist alles für die Katz.
Sie arbeiten mit vielen Eltern zusammen. Was schätzen Sie besonders?
Die Einstellung zum Sport sollte stimmen. Dabei muss der Fokus nicht unbedingt auf dem Fussball liegen. Es geht vielmehr um einen guten Lebensstil.
Das heisst?
Viel Bewegung, ausreichend Schlaf, eine gesunde Ernährung, keine Drogen. Rauchende, trinkende Eltern sind schlechte Vorbilder. Das ist doch logisch. Am wichtigsten ist aber, dass sie ihre Kinder Kinder sein lassen.
Wann werden Sie hellhörig?
Wenn sich Eltern in den Vordergrund spielen, wenn sie Probleme haben, Abstand zu halten. Auf dem Platz ist der Trainer der Chef, nicht der Papi. Wir sehen, wo die Talente der Kinder liegen und fördern sie dementsprechend. Die Eltern müssen uns dahingehend vertrauen. Wir entscheiden, welches Kind wann spielt und auf welcher Position.
Das Sichtungstraining steht ausdrücklich auch Mädchen offen. Warum stellen sich vor allem Jungen vor?
Das ist ein Problem. Wir haben in allen Altersstufen Mädchen im Kader, doch sie sind immer in der Minderheit. Bei uns geht es um Talent, nicht um das Geschlecht. Obwohl der Frauenfussball enorm an Bedeutung gewonnen hat, glauben viele Eltern nach wie vor, nur Jungen könnten Profis werden. Wir würden das gerne ändern, haben den richtigen Hebel aber noch nicht gefunden.
Apropos Profikarriere. Wie viele Letzikids schaffen es später in die erste Mannschaft des FCZ?
Statistisch gesehen nur eines von hundert. Darum geht es bei der ganzen Förderung auch nur am Rande. Wir möchten den Zürcher Kindern und Jugendlichen ein spannendes Gefäss bieten, in dem sie sich entwickeln können.
Die Nachwuchsfussballer sind allesamt Schüler. Gibt es Interessenskonflikte?
In dem Punkt ist unsere Vereinshaltung klar: Schule geht vor. Ein Engagement bei den Letzikids ist nicht die ultimative Lebenschance. Was später zählt, ist die Bildung. Abgesehen davon wird Fussball mehr denn je im Kopf gespielt. Je beweglicher das Hirn ist, desto besser.