Schielen
Kein Auge zudrücken

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Wenn Babys müde werden, fangen sie manchmal an, ganz entsetzlich zu schielen. Das sieht drollig aus, irritiert aber die Eltern. In der Regel besteht kein Grund zur Sorge. Bei Neugeborenen ist die Zusammenarbeit zwischen Gehirn und Augenmuskeln noch nicht eingespielt. Deswegen kann es passieren, dass das rechte Äuglein geradeaus guckt, während das linke in eine andere Richtung abdriftet. Nach dem fünften Lebensmonat sollten solche Schieleinlagen der Vergangenheit angehören.
Fünf von hundert Kindern haben zu dem Zeitpunkt aber weiterhin Schwierigkeiten, beide Augen gleichzeitig auf einen Punkt zu richten. Manche schielen nur gelegentlich, andere dauerhaft. «Spätestens jetzt sollte ein Augenarzt zu Rate gezogen werden», empfiehlt Renata Gulik, Cheforthoptistin an der Augenklinik des Universitätsspitals Zürich. Als Orthoptistin, was so viel wie «Expertin für Schielerkrankungen» heisst, untersucht und behandelt sie schwerpunktmässig junge Patienten mit Augenfehlstellungen. «Obwohl sich die Meinung hartnäckig in der Bevölkerung hält, wissen wir heute, dass sich Schielen nicht auswächst», fügt sie an. Man könne das Problem ebenso wenig in Eigenregie wegtrainieren wie mit komplementären Methoden heilen.
Piratenpflaster
Der Mensch sieht ein Ding immer mit dem rechten und dem linken Auge. Anschliessend fügt das Gehirn beide Eindrücke so zusammen, dass ein einheitliches Bild entsteht. Bei Schielkindern unterscheiden sich die von den Augen gelieferten Informationen aber stark. Deswegen blendet ihr Gehirn eine Seite aus. Mit fatalen Folgen: Das Sehvermögen des schielenden Auges wird gewissermassen nicht gebraucht und verkümmert bereits nach kurzer Zeit. Sobald das Schielen korrekt diagnostiziert wurde, geht es darum, die Sehkraft des aus der Reihe tanzenden Auges zu erhalten. Dazu klebt die Orthoptistin das gesunde Leitauge des Kindes für einige Stunden mit einem Pflästerchen zu. In diesen Momenten ist das schielende Auge gefordert. Nun liefert es die Informationen ans Gehirn. Die Behandlung muss auch zu Hause konsequent und nach Plan weitergeführt werden, bis das schielende Auge wieder die volle Sehkraft zurückerlangt.
Diese sogenannte Okklusionsbehandlung sollte mindestens bis zum zehnten Lebensjahr fortgeführt werden. Wie oft abgedeckt werden muss, ist individuell sehr verschieden. Ab dem 10. Lebensjahr verfestigen sich die Nervenverbindungen zwischen Auge und Gehirn zusehends. Nun wird es deutlich schwieriger, Einfluss zu nehmen. Umgekehrt heisst das aber auch, dass die auf dem kranken Auge erreichte Sehstärke in vielen Fällen erhalten bleibt. Spätestens zu Beginn der Pubertät gehören die Pflaster dann der Vergangenheit an.
Leichter Silberblick
Kinder, die einen grossen Schielwinkel aufweisen, können zusätzlich operiert werden. Dabei verlagert der Arzt die Muskeln am Augapfel, sodass der Blick in die richtige Bahn gelenkt wird. Der Eingriff bringt das Schielen meist nicht komplett zum Verschwinden, aus einer starken Fehlstellung kann jedoch ein leichter Silberblick werden. Diese Korrektur wirkt sich positiv auf das Selbstwertgefühl der Kinder aus. Da die Augen der sprichwörtliche Spiegel zur Seele sind, fällt es vielen jungen Patienten nach dem Eingriff leichter, sich in der Gesellschaft zu behaupten. «Unser Ziel ist vor allem, dass die Sehschärfe auf beiden Seiten gleich gut ausgebildet wird und sich das Ergebnis festigt», sagt Renata Gulik. Manchmal stelle sich nach dem Eingriff sogar ansatzweise das dreidimensionale Sehen ein.
Babys und Kleinkinder haben häufig einen besonders breiten Nasenrücken. In Kombination mit der inneren Lidfalte entsteht so manchmal der Eindruck, das Kind würde schielen. Fachleute sprechen hierbei von einem «Pseudoschielen». Mit dem Wachstum hebt sich der Nasenrücken und das vermeintliche Schielen verschwindet von selbst.
Ein Velo für die Nase
Viele Eltern fragen sich, ob ihr Kind vielleicht eine Brille braucht. Grundsätzlich kann nur eine Augenärztin oder eine Orthoptistin beurteilen, ob eine Fehlsichtigkeit vorliegt. Es gibt aber Hinweise, die Eltern nicht übergehen sollten. Wenn ein Kind dauernd blinzelt, in der Schule kaum fehlerfrei von der Tafel abschreiben kann oder daheim mit der Nase am Fernsehgerät klebt, könnten das Hinweise auf eine Kurzsichtigkeit sein. Die Anzeichen für eine Weitsichtigkeit sind weniger deutlich ausgeprägt: Kopfschmerzen und Lichtscheue können darauf hindeuten. Ein unerkannter Brillenbedarf kann gelegentlich sogar Schielen hervorrufen.
Eine korrekt angepasste Brille verstärkt das Leiden niemals. Im Gegenteil: Wenn die Kleinen bereits früh Gläser in den passenden Stärken erhalten, besteht die Chance, dass sich ihre Fehlsichtigkeit nicht weiter verstärkt. Die Zeiten, in denen Brillenträger gehänselt wurden, sind glücklicherweise vorbei. Spätestens seit Harry Potter sind Kinderbrillen zum modischen Accessoire geworden, das man selbstbewusst tragen darf.